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Jenseits des Urteils

Als er gegen Ende der achtziger Jahre die deutsche Literaturszene betrat, kannte ihn kaum jemand, den Polen mit dem schwierigen Namen: gerade war sein Buch "Die schöne Frau Seidenmann" in deutsch erschienen – und so schnell wie dieses Buch auf die Bestsellerliste kam, so schnell eroberte sich Andrzej Szczypiorski einen ständigen Platz im deutschen Feuilleton, in den Kultursendungen des Fernsehens, aber auch in politischen Sendungen und Talk-Shows. Sein Vorteil: er sprach deutsch. Er hatte diese Sprache gegen Ende des Krieges 1944 in Sachsenhausen gelernt.

von Anne Liesel | 31.03.2004
    Als Andrzej Szczypiorski am 16. Mai 2000 in Warschau starb, wurde schnell klar, welche Lücke er hinterließ: denn er war nicht nur als Literat, sondern auch als Politiker zum wichtigsten Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland geworden, einer, der mit öffentlichen Reden, Gesprächen und Aufsätzen für Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschen und Polen eintrat in einer Zeit, als das Verhältnis beider Länder noch keineswegs entspannt war. Im eigenen Land hat Szczypiorski dafür nicht nur Beifall bekommen.

    "Der letzte Gerechte" heißt nun eine Biografie über Andrzej Szczypiorski. Autorin ist Marta Kijowska, eine Kulturjournalistin, die für diese Arbeit die besten Voraussetzungen mitbringt. Zum einen ist Kijowska Polin und sie kennt sich bestens aus in der Literatur und Geschichte ihres Landes. Zum anderen lebt Marta Kijowska, die in Krakau und München Germanistik studiert hat, seit über zwanzig Jahren in Deutschland, spricht und schreibt ein makelloses Deutsch. Ihren Landsmann Andrzej Szczypiorski kannte sie lange Jahre, allerdings mehr über seine Bücher, persönlich ist sie ihm selten begegnet – auch diese Distanz ist ein Vorteil für das keineswegs unkritische Portrait.

    Marta Kijowska hat sich neben den bekannten Lebensstationen von Andrzej Szczypiorski – Kindheit in der Vorkriegszeit, die Kriegszeit in der Untergrundarmee, Teilnahme am Warschauer Aufstand, KZ Sachsenhausen – vor allem den Jahren gewidmet, die in Deutschland weniger bekannt sind: den fünfziger und sechziger Jahren:

    Ich habe versucht seine Biografie nicht in allen Details, aber zumindest die wichtigsten Fakten aus seinem Leben zu erzählen und dazu gehörte vor allem seine kurze Karriere als Diplomat in Dänemark, das war unmittelbar nach dem Tauwetter, als viele Künstler, Schriftsteller, Journalisten von der damaligen Regierung ins Ausland geschickt wurden, und das galt auch für Szczypiorski, und vor allem die sechziger Jahre, in denen er fast die ganze Dekade lang von 1960 bis 1968 jeden Sonntagabend im Warschauer Rundfunk kurze, zehn Minuten dauernde Feuilletons sprach, mit denen er aber zu einem bekannten, einflussreichen, - weit über Warschau hinaus - Rundfunkjournalisten avancierte. Es waren aber auch Feuilletons, die ihm später von seinen Journalisten-und Schriftstellerkollegen lange Zeit nachgetragen wurden, auch in Zeiten seines Erfolgs, in Deutschland und anderswo, weil sie eben regimefreundlich waren.

    Szczypiorski war damals – das hat er nie bestritten - ein Gomulka-Anhänger. Überzeugter Kommunist aber ist er nie gewesen - er hat als Sozialdemokrat an die Reformfähigkeit des Regimes geglaubt. Bis er dann in den siebziger Jahren die Opposition unterstützte und seine Bücher im Untergrund veröffentlichte – die Quittung dafür bekam er prompt: General Jaruzelski schickte ihn gleich zu Beginn des Kriegsrechts 1981 mehrere Monate in Internierungshaft.

    So beliebt und auch literarisch unumstritten Szczypiorski in Deutschland war: in seinem Heimatland Polen blieb ihm bis zum Ende seines Lebens die große Anerkennung versagt. Kijowska nennt viele Gründe: da ist das heikle und bis heute nicht vergessene Kapitel seiner Radiosendungen, natürlich der Neid der Kollegen auf seinen weltweiten Erfolg, dazu eine Literaturkritik, die Szczypiorskis Stil als konventionell abtat. Und nicht zuletzt auch Szczypiorskis "höhnisch-moralischer" Ton, mit dem er seinen Landsleuten oft publizistische Lektionen erteilte. Für viele Polen war Andrzej Szczypiorski einfach auch zu deutsch-freundlich, zu sanft im Umgang mit dem ehemaligen Feind.

    Wenn Marta Kijowska von der Person Andrzej Szczypiorski und seinem Werk erzählt, dann berichtet sie immer auch von der Zeit. Das Leben des Schriftstellers und seine Literatur sind eingebettet in die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ereignisse und Strömungen vor allem der Nachkriegszeit, in Städte und Landschaften. So ist das Buch "Der letzte Gerechte" ein spannendes Doppelportrait: das des Schriftstellers Andrzej Szczypiorski und das seines Heimatlandes Polen. Ein Land, das noch bis ins 20. Jahrhundert hinein ohne eigenen Staat war, ein Land, das seine Identität bewahrte durch die katholische Kirche und die Künstler. Der Schriftsteller, der Künstler, so sagte es Szczypiorski einmal, musste "die Rolle des nationalen Gewissens und der Identität spielen". So auch Andrzej Szczypiorski. Ihm gilt, bei aller vorsichtigen Kritik, denn auch die Bewunderung von Marta Kijowska:

    Andrzej Szczypiorski ist für mich ein Genie, wenn es darum geht in dieser schwierigen und heiklen deutsch-polnischen Beziehung im Alleingang soviel in relativ kurzer Zeit zu bewegen – hinter Szczypiorski standen ja keine Einrichtungen, keine Gruppierungen – er hat es verstanden in kürzester Zeit zu einer regelrechten Institution im deutsch-polnischen Verhältnis zu werden und von dieser Position aus sehr viel zu bewegen. Natürlich mit diesem besagten Hang zum Räsonnieren, aber gleichzeitig auf eine menschlich sehr warme, humorvolle, plastische, spannende, Art und Weise.

    Andrzej Szczypiorski hat zwei Diktaturen im vorigen Jahrhundert erlebt und erlitten. Seine Erfahrungen und Erinnerungen sind in seiner Literatur aufgehoben. Sein Thema bleibt gleich: der Krieg und die Vernichtung der Juden. Das wichtigste Merkmal in all seinen Büchern ist, dass er sich niemals zum Richter aufspielt. Auch der größte Verbrecher, ob Stalin oder ein SS-Scherge, so sagte er einmal, sei ein Mensch. Und er als Schriftsteller habe nicht das Recht ihn zu verurteilen. Hat also auch ein Verbrecher Anrecht auf Trost? Szczypiorski:

    Ja, natürlich. Ja, wissen Sie, ich habe geschrieben einen sehr wichtigen Satz, das war der wichtigste Satz, den ich in meinem Leben geschrieben habe: Die Schuldigkeit des Schriftstellers ist, zusammen mit einem Eichmann in der Todeszelle zu bleiben. Das ist die Pflicht des Schriftstellers. Das ist die Pflicht des Künstlers, weil die Kunst, die Literatur ist eine Art des Mitleids und der Nächstenliebe, also auch mit Eichmann in der Todeszelle sollten wir bleiben. Weil in diesem Moment stirbt ein Mensch. Obwohl er sehr viel gesündigt hat und er ein Verbrecher und ein Henker war, in diesem Moment stirbt der Mensch, und wenn der Mensch stirbt, stirbt Weltall. Alle Sterne, alle Winde, alle Bäume, die er in sich getragen hat, sterben mit ihm zusammen. Also, die ganze Welt in diesem Menschen stirbt. Und wir sollten trauern, nicht wahr, ja,ja.

    Marta Kijowska
    Der letzte Gerechte. Andrzej Szczypiorski
    Aufbau, 330 S., EUR 20,-