"Im Prinzip geht es darum, die geografische Einheit Orient, die generell mit dem Nahen und Mittleren Osten verbunden wird, auszuweiten. Und wir wollten durch die Namensänderung auch der Erweiterung der Regionalexpertisen, die wir haben, in Halle einen Ausdruck geben."
Burkhard Schnepel, Professor für Ethnologie an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg und Leiter des neu benannten Zentrums für Regionalstudien Vorderer Orient, Asien und Afrika. Nicht länger bezieht sich das Zentrum mit seinem Namen auf den Orient.
"Einige Leute sagen, er fängt gleich hinter Wien an und geht bis Japan oder China. Andere würden es begrenzen auf den Nahen und Mittleren Osten. Daran sehen wir schon, dass - in der Geschichte der Erforschung des Begriffs Orient - dieser auch immer mit Werturteilen belegt war. Und diese Werturteile werden im Okzident getroffen. Wir haben es mit einen dialektischen Spiel von okzidentalen Imaginationen im Bezug auf eine geografische Region, die man den Orient genannt hat, zu tun."
Deshalb gilt der Begriff "Orient" nicht mehr als politisch korrekt. Vielmehr untersuchen die Wissenschaftler: Was ist Tatsache, was Vorurteil, bei dem, was man über den Nahen Osten, Asien und Afrika weiß.
Ein Bereich, der immer wieder zu Fantasien über den mysteriösen, oft auch bedrohlich empfundenen "Orient" einlädt, sind die Nähebeziehungen in der Islamischen Welt. Da heißt es, bei den Muslimen werde unter Zwang und nicht aus Liebe geheiratet. Außerdem würden sie mehr Kinder bekommen und dadurch andere Religionen bald auslöschen. Professor Edouard Conte, Sozialanthropologe von der Universität Bern, widerspricht mit seinen Forschungsergebnissen:
"Die Scheidungsrate in der arabischen Welt liegt niedriger, als im europäischen Kreisen. Die Fertilitätsrate hat sich halbiert oder um zwei Drittel vermindert. Die Situation ist jetzt eine demografische Transition, in der die Erneuerung der Generationen innerhalb weniger Jahre nicht unbedingt gesichert werden kann. Das heißt, eine sich veralternde Bevölkerung. Und außerdem - die Frequenz der Mehrehe ist sehr niedrig. Das ist eine Ausnahmesituation der sozialen Sicherung unter beduinischen Bedingungen, aber auch in städtischen Verhältnissen."
In Tschad, Sudan, Ägypten und gegenwärtig in Israel und Palästina untersucht der Ethnologe, wie das islamische Familienrecht angewandt wird.
Auffällig ist für Professor Conte dabei, dass Migranten in Europa oft eher dem Vorurteil entsprechen, als ihre Verwandten in den Herkunftsländern. Für ihn ein Zeichen der Traditionalisierung, um die eigene Identität zu behaupten.
"Was bleibt in der arabischen Welt, ist eine sehr hohe Frequenz von Ehen unter Verwandten aus vielen, vielen Gründen. Und die Debatte wurde jetzt aufgegriffen von arabischen Akademikern vonseiten der Biomedizin, ob dies dazu führt, gewisse genetische Nachteile zu potenzieren. Im Westen hingegen haben wir die Fokussierung einer Aussonderung des Islams aus der menschlichen Gemeinschaft - und das kann extrem gefährlich werden."
Da ist im Tone der Entrüstung von Geschwisterinzest die Rede, um Menschen, die sich zum Islam bekennen, machtpolitisch auszusondern und abzuwerten. In der Tat heiraten auch Cousins und Cousinen. Aber das gab es auch in der christlichen und jüdischen Tradition. Professor Conte erwähnt die biblischen Erzählungen von Kain und Abel, und ihre weniger bekannten Zwillingsschwestern.
"Die einzige Lösung, um Inzest zu meiden, war unter Cousins zu heiraten. Das sagen all drei Traditionen der monotheistischen Religionen. Und die Schranken bezüglich Cousinehe in christlichen Kulturen wurden sehr spät eingeführt. Schauen sie vielleicht die europäischen königlichen Familien an. Die hatten gewisse Interessen zu verteidigen. Die verwandtschaftliche Nähe war dabei natürlich eine Art und Weise, sich einzukapsulieren und Vorteile zu nutzen und Solidarität zu stärken."
Erst nach der industriellen Revolution wurden diese engen Beziehungen unter Verwandten in Europa unüblich. Das ist auch die Zeit, in der sich in der westlichen Welt im Stile der Herrschaft und Überlegenheit der "Orientalismus" entfaltet. Im Unterschied zur Wissenschaft vom Orient werden in ihm aus dem Abendland vor allem Fantasien über das Morgenland gebrütet.
"Und diese Vorstellungen in postkolonialer Zeit haben natürlich eine lange Geschichte, die vielleicht im Orient - und ich reden jetzt in Anführungsstrichen - angekommen sind. Es sind also nicht nur die Mitglieder des Abendlandes, die Fantasien des Morgenlandes, sondern nach der langen kolonialen Geschichte sind orientalistische Imaginationen auch im Orient angekommen - und haben da ein Leben, das weitergeführt wird."
Ein Beispiel: Zu traditioneller indischer Musik bewegt sich eine Tänzerin und zeigt den für ihre ostindische Region Orissa typischen Tanz Odissi. Er entstand nach der Unabhängigkeit und drückt das Nationalgefühl der jungen Republik aus. Die Tänzerin nimmt 2000 Jahre alte hinduistische Texte ebenso auf, wie die spirituelle Haltung der Yogi, und tanzt Skulpturen von Gottheiten nach. Zugleich aber ist ihr Tanz auch beeinflusst von der westlichen Kultur, wurde die Tänzerin doch in London ausgebildet.
"Mein Tanz antwortet sehr unterschiedlich auf die Globalisierung. Zum einem, indem er Touristen vorgeführt wird und er den Bundesstaat Orissa repräsentiert. Aber die Choreografien, die ich jetzt zeige, sind besonders gegenüber dem, was sie früher für die kulturelle Identität waren. Ich gehöre inzwischen der dritten Generation von Tänzern an - und die Art und Weise, wie ich sie interpretiere, wird reflektiert durch meine Erfahrungen in den Metropolen der Welt."
Jenseits von Politik begegnen sich Menschen weltweit und beeinflussen einander unmerklich und doch sehr tiefgehend - über Tanz, über Medien, aber auch über den Sport, wie Burkhard Schnepel erklärt.
"Der Körper selber, nicht nur, wie er aussieht, sondern wie man sich verhält, wie man läuft, wie man sitzt, welche Körperpraktiken man hat, das ist ja ein ganz, ganz wichtiges Medium über das etwas ausgetragen wird. Und Sport hat hier eine Vorreiterfunktion, natürlich auch eine Vorreiterfunktion, die umkämpft ist, wie bei allen anderen Sachen. Wir denken vielleicht an muslimischen Frauen, und ob sie bestimmte Sportarten mitmachen müssen, wie sie sich kleiden sollen, das wäre vielleicht ein krasses Beispiel dafür, wie die Körpervorstellung in die Körperpolitik, die Biopolitik hineinwirkt."
Für Burkhard Schnepel ist Sport das global wirk-mächtigste Phänomen überhaupt, gefolgt vom Tourismus, der umsatzstärksten Industrie der Welt. Diesem Gebiet wendet sich nun - 2,3 Jahrzehnte nach den USA und England - auch in Deutschland eine neue Forschungsrichtung zu: die Tourismusethnologie.
Wie früher ausschließlich Ethnologen, reisen heute auch Touristen in entfernte Regionen der Welt. Sie wünschen sich, authentisches Leben kennenzulernen, und treffen doch oft nur auf Inszenierungen auf der Vorderbühne. Das "wahre” Leben findet meist Backstage statt. Doch auch da - davon berichtete auf der Tagung ein Wissenschaftler über Nazareth, dem Geburtsort von Jesus Christus - kann es zu fließenden Übergängen zwischen beiden Bühnen kommen.
"Da haben wir es mit einer Form der Globalisierung zu tun, die sehr viel wirkmächtiger ist, sehr viel mehr auch Auswirkungen auf das soziokulturelle Leben hat, als jetzt vielleicht der Austausch von Waren. In diesem Fall des Tourismus können wir auch sehen, dass die Globalisierung nicht nur vom West zu dem Rest geht, sondern sie ist immer schon in sehr viel Richtungen gegangen."
Burkhard Schnepel, Professor für Ethnologie an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg und Leiter des neu benannten Zentrums für Regionalstudien Vorderer Orient, Asien und Afrika. Nicht länger bezieht sich das Zentrum mit seinem Namen auf den Orient.
"Einige Leute sagen, er fängt gleich hinter Wien an und geht bis Japan oder China. Andere würden es begrenzen auf den Nahen und Mittleren Osten. Daran sehen wir schon, dass - in der Geschichte der Erforschung des Begriffs Orient - dieser auch immer mit Werturteilen belegt war. Und diese Werturteile werden im Okzident getroffen. Wir haben es mit einen dialektischen Spiel von okzidentalen Imaginationen im Bezug auf eine geografische Region, die man den Orient genannt hat, zu tun."
Deshalb gilt der Begriff "Orient" nicht mehr als politisch korrekt. Vielmehr untersuchen die Wissenschaftler: Was ist Tatsache, was Vorurteil, bei dem, was man über den Nahen Osten, Asien und Afrika weiß.
Ein Bereich, der immer wieder zu Fantasien über den mysteriösen, oft auch bedrohlich empfundenen "Orient" einlädt, sind die Nähebeziehungen in der Islamischen Welt. Da heißt es, bei den Muslimen werde unter Zwang und nicht aus Liebe geheiratet. Außerdem würden sie mehr Kinder bekommen und dadurch andere Religionen bald auslöschen. Professor Edouard Conte, Sozialanthropologe von der Universität Bern, widerspricht mit seinen Forschungsergebnissen:
"Die Scheidungsrate in der arabischen Welt liegt niedriger, als im europäischen Kreisen. Die Fertilitätsrate hat sich halbiert oder um zwei Drittel vermindert. Die Situation ist jetzt eine demografische Transition, in der die Erneuerung der Generationen innerhalb weniger Jahre nicht unbedingt gesichert werden kann. Das heißt, eine sich veralternde Bevölkerung. Und außerdem - die Frequenz der Mehrehe ist sehr niedrig. Das ist eine Ausnahmesituation der sozialen Sicherung unter beduinischen Bedingungen, aber auch in städtischen Verhältnissen."
In Tschad, Sudan, Ägypten und gegenwärtig in Israel und Palästina untersucht der Ethnologe, wie das islamische Familienrecht angewandt wird.
Auffällig ist für Professor Conte dabei, dass Migranten in Europa oft eher dem Vorurteil entsprechen, als ihre Verwandten in den Herkunftsländern. Für ihn ein Zeichen der Traditionalisierung, um die eigene Identität zu behaupten.
"Was bleibt in der arabischen Welt, ist eine sehr hohe Frequenz von Ehen unter Verwandten aus vielen, vielen Gründen. Und die Debatte wurde jetzt aufgegriffen von arabischen Akademikern vonseiten der Biomedizin, ob dies dazu führt, gewisse genetische Nachteile zu potenzieren. Im Westen hingegen haben wir die Fokussierung einer Aussonderung des Islams aus der menschlichen Gemeinschaft - und das kann extrem gefährlich werden."
Da ist im Tone der Entrüstung von Geschwisterinzest die Rede, um Menschen, die sich zum Islam bekennen, machtpolitisch auszusondern und abzuwerten. In der Tat heiraten auch Cousins und Cousinen. Aber das gab es auch in der christlichen und jüdischen Tradition. Professor Conte erwähnt die biblischen Erzählungen von Kain und Abel, und ihre weniger bekannten Zwillingsschwestern.
"Die einzige Lösung, um Inzest zu meiden, war unter Cousins zu heiraten. Das sagen all drei Traditionen der monotheistischen Religionen. Und die Schranken bezüglich Cousinehe in christlichen Kulturen wurden sehr spät eingeführt. Schauen sie vielleicht die europäischen königlichen Familien an. Die hatten gewisse Interessen zu verteidigen. Die verwandtschaftliche Nähe war dabei natürlich eine Art und Weise, sich einzukapsulieren und Vorteile zu nutzen und Solidarität zu stärken."
Erst nach der industriellen Revolution wurden diese engen Beziehungen unter Verwandten in Europa unüblich. Das ist auch die Zeit, in der sich in der westlichen Welt im Stile der Herrschaft und Überlegenheit der "Orientalismus" entfaltet. Im Unterschied zur Wissenschaft vom Orient werden in ihm aus dem Abendland vor allem Fantasien über das Morgenland gebrütet.
"Und diese Vorstellungen in postkolonialer Zeit haben natürlich eine lange Geschichte, die vielleicht im Orient - und ich reden jetzt in Anführungsstrichen - angekommen sind. Es sind also nicht nur die Mitglieder des Abendlandes, die Fantasien des Morgenlandes, sondern nach der langen kolonialen Geschichte sind orientalistische Imaginationen auch im Orient angekommen - und haben da ein Leben, das weitergeführt wird."
Ein Beispiel: Zu traditioneller indischer Musik bewegt sich eine Tänzerin und zeigt den für ihre ostindische Region Orissa typischen Tanz Odissi. Er entstand nach der Unabhängigkeit und drückt das Nationalgefühl der jungen Republik aus. Die Tänzerin nimmt 2000 Jahre alte hinduistische Texte ebenso auf, wie die spirituelle Haltung der Yogi, und tanzt Skulpturen von Gottheiten nach. Zugleich aber ist ihr Tanz auch beeinflusst von der westlichen Kultur, wurde die Tänzerin doch in London ausgebildet.
"Mein Tanz antwortet sehr unterschiedlich auf die Globalisierung. Zum einem, indem er Touristen vorgeführt wird und er den Bundesstaat Orissa repräsentiert. Aber die Choreografien, die ich jetzt zeige, sind besonders gegenüber dem, was sie früher für die kulturelle Identität waren. Ich gehöre inzwischen der dritten Generation von Tänzern an - und die Art und Weise, wie ich sie interpretiere, wird reflektiert durch meine Erfahrungen in den Metropolen der Welt."
Jenseits von Politik begegnen sich Menschen weltweit und beeinflussen einander unmerklich und doch sehr tiefgehend - über Tanz, über Medien, aber auch über den Sport, wie Burkhard Schnepel erklärt.
"Der Körper selber, nicht nur, wie er aussieht, sondern wie man sich verhält, wie man läuft, wie man sitzt, welche Körperpraktiken man hat, das ist ja ein ganz, ganz wichtiges Medium über das etwas ausgetragen wird. Und Sport hat hier eine Vorreiterfunktion, natürlich auch eine Vorreiterfunktion, die umkämpft ist, wie bei allen anderen Sachen. Wir denken vielleicht an muslimischen Frauen, und ob sie bestimmte Sportarten mitmachen müssen, wie sie sich kleiden sollen, das wäre vielleicht ein krasses Beispiel dafür, wie die Körpervorstellung in die Körperpolitik, die Biopolitik hineinwirkt."
Für Burkhard Schnepel ist Sport das global wirk-mächtigste Phänomen überhaupt, gefolgt vom Tourismus, der umsatzstärksten Industrie der Welt. Diesem Gebiet wendet sich nun - 2,3 Jahrzehnte nach den USA und England - auch in Deutschland eine neue Forschungsrichtung zu: die Tourismusethnologie.
Wie früher ausschließlich Ethnologen, reisen heute auch Touristen in entfernte Regionen der Welt. Sie wünschen sich, authentisches Leben kennenzulernen, und treffen doch oft nur auf Inszenierungen auf der Vorderbühne. Das "wahre” Leben findet meist Backstage statt. Doch auch da - davon berichtete auf der Tagung ein Wissenschaftler über Nazareth, dem Geburtsort von Jesus Christus - kann es zu fließenden Übergängen zwischen beiden Bühnen kommen.
"Da haben wir es mit einer Form der Globalisierung zu tun, die sehr viel wirkmächtiger ist, sehr viel mehr auch Auswirkungen auf das soziokulturelle Leben hat, als jetzt vielleicht der Austausch von Waren. In diesem Fall des Tourismus können wir auch sehen, dass die Globalisierung nicht nur vom West zu dem Rest geht, sondern sie ist immer schon in sehr viel Richtungen gegangen."