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Jenseits von Multikulti

Multikulti hat - laut vieler Politiker - ausgedient. Aber eine neue Strategie für Integration hat noch niemand gefunden. Dabei wird sie dringend gebraucht: Denn im 21. Jahrhundert werden praktisch alle Länder Einwanderungsgesellschaften sein. Soziologen trafen sich auf einer Tagung in Berlin, um über neue Konzepte für Integration zu sprechen.

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann |
    Eine große Leinwand, Hunderte von Filmen laufen parallel. Jeder zeigt einen sprechenden Mund, die Lippen mal hell, mal dunkel, die Haut um sie herum mal weiß, mal farbig. Eine Video Lecture stand am Anfang der Konferenz im "Haus der Kulturen der Welt".

    Babylonische Sprachverwirrung oder Symphonie der Vielfalt: Beides konnte man heraushören und damit wurde sinnlich klar, vor welchen Problemen heute fast alle Einwanderergesellschaften stehen: Wie kann man das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Herkunft so organisieren, dass sich alle verstehen und jeder seine faire Chance bekommt, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben?

    Multikulturalismus war einst das Leitbild, mit dessen Hilfe europäische Gesellschaften dieses Ziel erreichen wollten. Praktisch konnte das heißen: Deutsch für Ausländerkurse, wie sie die Bundesrepublik einführte; muttersprachlicher Unterricht, auf den Schweden oder die Niederlande setzten; Migrantenquoten im öffentlichen Dienst, wie sie Großbritannien festlegte. Mit solchen Maßnahmen sollten Minderheiten gezielt gefördert werden, um Anschluss an die Mehrheitsgesellschaften zu finden.

    Diese Ansätze gibt es heute immer noch in fast jedem Land, aber sie gelten längst nicht mehr als vielversprechend. Denn um in den Genuss solch einer Förderung zu kommen, muss man die passende Abstammung nachweisen. Damit aber schreibt der Multikulturalismus fest, was er doch gerade überwinden will: die Konzentration auf die Herkunft. Für den amerikanischen Sozialanthropologen Steven Vertovec ist der Multikulturalismus aber noch aus einem anderen Grund nicht mehr zeitgemäß.

    "Die globale Migration seit dem Zweiten Weltkrieg verlief bis in die 80er-Jahre hinein nach einem einfachen Muster: große, in sich homogene Gruppen vor Menschen zogen aus einzelnen Ländern in ganz wenige andere Länder, zum Beispiel Türken nach Deutschland, Algerier nach Frankreich, Pakistanis nach Großbritannien. Seit den 90er-Jahren aber sehen wir ganz viele kleine Gruppen aus zahllosen Ländern, die sich fast über die ganze Welt verteilen. Und diese Gruppen sind vollkommen inhomogen. Diese Einwanderer unterscheiden sind in vielerlei Hinsicht voneinander, etwa was Alter, Bildungsstand oder Sprachkenntnisse angeht, oder ob sie legal oder illegal kommen. Dieser neuen Vielfalt werden die alten multikulturellen Förderprogramme gar nicht mehr gerecht."

    Steven Vertovec hat jahrelang die britische Regierung in Fragen der Einwanderungspolitik beraten und leitet seit anderthalb Jahren das Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen. Um die Herausforderungen zu beschreiben, vor denen moderne Einwanderungsgesellschaften stehen, hat er den Begriff "Super Diversity" geprägt, den man mit "Extremer Vielfalt" übersetzen könnte.

    "Überall in Europa gibt es längst diese 'Super Diversity'. Ich habe mal eine Übersicht für Frankfurt am Main erarbeitet. 106 verschiedene Nationalitäten leben in der Stadt und in jeder Gruppe gibt es Menschen mit unterschiedlichem Status: Asylbewerber, Geduldete, welche mit befristeter und welche mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis. Selbst innerhalb einer Familie kann für Vater, Mutter und Kind etwas anderes gelten. Mit dem Begriff 'Super Diversity' will ich den Politikern und der Öffentlichkeit erstmal die Augen öffnen für diese ungeheure Vielfalt und Komplexität."

    Auf den ersten Blick erschrecken deutsche Kommunalpolitiker häufig, wenn sie eine solche Lagebeschreibung bekommen. Auf den zweiten Blick beruhigen sie sich dann meist wieder, denn noch gibt es in ihren Städten ja keine Ghettos für Minderheiten wie etwa in den USA.

    Das heißt aber noch lange nicht, dass die Integration in Deutschland besser funktioniert. In Deutschland mögen Einheimische und Einwanderer Tür an Tür wohnen. Sie schließen aber vergleichsweise selten Freundschaft. Amerikanern dagegen fällt es viel leichter, ethnische Grenzen zu überwinden, betont der Politologe Michael Werz vom Institut für Internationale Migrationsforschung an der Georgetown University in Washington.

    "Wenn Sie sich beispielsweise die Zahlen ansehen derer, die aus ihrer ethnischen Gruppe heraus heiraten in andere Gruppen, gibt es inzwischen Mischungsverhältnisse, für die man zwei oder drei Bindestriche braucht, um sie zu beschreiben. Und als Tiger Woods neulich interviewt wurde, und er gefragt wurde, ob er denn jetzt ein Thai-African-American sei, weil er Familienangehörige aus Asien und eben auch aus der afroamerikanischen Tradition hat, sagte er: 'Why don't you just call me an American?' - Warum nennen Sie mich nicht einfach einen Amerikaner? - Die US-amerikanische Gesellschaft entwickelt sich zu einer zunehmend gemischten Gesellschaft, in der Leute auch zunehmend einen Stolz darauf entwickeln, dass sie eben nicht nur aus einer Herkunftsgruppe kommen, sondern dass sie zurückblicken können auf eine heterogene Familie."

    Anders als in Europa herrscht in den USA die Meinung vor, dass Einwanderer das Land bereichern - egal ob sie sich als billige Erntehelfer verdingen, wie viele Latinos, oder ob sie hochdotierte Jobs als IT-Spezilisten übernehmen, wie manche Inder. So lange sie sich und ihre Familien durch eigene Arbeit ernähren können, werden sie von der Gesellschaft akzeptiert.

    Gerade die Millionen von illegalen Immigranten aus Lateinamerika werden zwar im Alltag oft diskriminiert. Gleichzeitig aber lässt ihnen etwa der kalifornische Gouverneur Arnold Schwarzenegger Führerscheine ausstellen. Das ist so ähnlich, als würde hierzulande ein Ministerpräsident an Ausländer deutsche Personalausweise verteilen. Wer in den USA einen Führerschein besitzt, braucht keine Polizeikontrolle mehr zu fürchten. Die Leute können bleiben und die Wirtschaft freut sich über billige Arbeitskräfte.

    Dieser Pragmatismus fasziniert Michael Werz.

    "Wenn man in einer der großen metropolitanen Zonen in den USA lebt, ist es interessant, dass unabhängig von der Praxis rassistischer Diskriminierungen, Ausgrenzungen, die es natürlich auf den verschiedensten Ebenen noch gibt, dass doch zumindest bei einer Generation der unter 30-Jährigen heute, also denen, die das Produkt der Bürgerrechtsbewegung sind, biografisch, dass bei dieser Generation ein stillschweigendes Einverständnis darüber besteht, dass alle wissen, dass Differenzen von Herkunft, Ethnie und Hautfarbe eine wichtige Rolle spielen, aber das Einverständnis bezieht sich darauf, dass sie keine wichtige Rolle spielen sollen. Und das bestimmt den Umgang in den USA in den großen Städten auf eine Art und Weise, die sehr beeindruckend und für europäische Verhältnisse nicht ganz einfach nachzuvollziehen ist, weil im Prinzip eine sehr kosmopolitane und sehr offene Generation dort dabei ist heranzuwachsen."

    Diese Offenheit hält Michael Werz für einen Erfolg der Bürgerrechtsbewegung, die in den 60er-Jahren die Politik des Multikulturalismus erfunden hat. "Affirmative Action" hieß die damals in den USA, "Aktive Fördermaßnahme". Sie sollte vor allem den Schwarzen zu Gute kommen und helfen, das Unrecht der Sklaverei soweit wie möglich wieder gut zu machen. Quotenregelungen sorgten dafür, dass an den renommierten Hochschulen Plätze für Afroamerikaner reserviert wurden, damit auch sie endlich in der amerikanischen Gesellschaft aufsteigen konnten.

    David Hollinger, Historiker an der Universität Berkeley, hat jahrzehntelang auf dem Campus für diese Politik gekämpft. Doch was damals richtig und notwendig war, funktioniert heute nicht mehr, meint er. Zu sehr habe sich die amerikanische Gesellschaft verändert.

    "Da ist das Auftauchen von Menschen schwarzer Hautfarbe, die in den letzten Jahrzehnten freiwillig aus Afrika oder der Karibik nach Amerika gekommen sind und nicht - wie einst die Sklaven - hierher verschleppt wurden. Die schnappen sich jetzt die begehrten Studienplätze. Unsere Sozialwissenschaftler reiben sich heute die Augen, wieso diese schwarzen Einwanderer und ihre Kinder die Rassenschranken auf dem Arbeitsmarkt und an den Universitäten viel leichter überwinden, als Schwarze, die nicht eingewandert sind. Präsident Obama ist das beste Beispiel. Er stammt ja nicht von ehemaligen Sklaven ab, sondern ist der Sohn eines kenianischen Einwanderers. Und seine Töchter bedürfen ja wohl kaum einer besonderen Förderung für schwarze Kinder. Vielleicht haben die eingewanderten Schwarzen bessere familiäre Voraussetzungen, als die einheimischen. Aber wenn in unserer Gesellschaft, die seit jeher entlang der 'Colorline' gespalten war, schon die Hautfarbe als Kategorie für Integrationspolitik nicht mehr taugt, was taugen die althergebrachten Kategorien dann überhaupt noch?"

    Nicht spezielle ethnische Gruppen sollten in Zukunft gefördert werden, sondern vor allem arme Haushalte, meint David Hollinger. Dann könnten die Familien mehr Geld für die frühkindliche Bildung ausgeben.

    In Kindergärten und Grundschulen werden offenbar die Grundlagen für spätere Bildungserfolge gelegt. Darauf deutet zumindest der Aufstieg vieler asiatischstämmiger Einwanderer in den USA hin, meint David Hollinger. Denn diese Familien investieren einen ungewöhnlich hohen Anteil ihres Einkommens in die Ausbildung der Kinder.

    "Die historische Erfahrung asiatischstämmiger Amerikaner wird von der Forschung bis heute weitgehend ignoriert. Dabei schafft die große Mehrheit etwa der Kinder von koreanischen Einwanderern einen Universitätsabschluss. Das ist eine ungewöhnlich hohe Zahl - und sie überrascht umso mehr, als Asiaten in den USA zwar anders, aber ähnlich schlimm diskriminiert wurden wie Schwarze. Bis 1952 durften sie aus rassischen Gründen nicht die amerikanische Staatsbürgerschaft erwerben. Und ich erinnere daran, dass asiatische Amerikaner in Internierungslager gesteckt wurden, als wir gegen Japan Krieg führten. Und das ist nicht in grauer Vorzeit geschehen, sondern noch zu meinen Lebzeiten."

    Schneller als jede andere Gruppe in der Geschichte der USA haben Inder den Sprung in die obersten Ränge der Gesellschaft geschafft. Vor 40 Jahren gab es noch kaum einen Einwanderer vom Subkontinent. Heute haben 650.000 von ihnen schon doppelt so hohe Einkommen wie ein weißer Durchschnittsverdiener.

    Diesen Erfolg führen viele Beobachter auf die große Bildungsbeflissenheit der Inder zurück. Aber ein anderer Punkt könnte mindestens ebenso wichtig sein: Sie haben eine lange Tradition des gedeihlichen Miteinanders. Nirgendwo sonst auf der Welt leben Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Religionen schon so lange so eng zusammen wie in Indien.

    Darauf wies der Anthropologe Arjun Appadurai hin. Er ist in Bombay aufgewachsen und er ist überzeugt davon, dass in den Slums seiner Heimatstadt schon heute Modelle für die Einwanderungsgesellschaften von morgen gelebt werden.

    "Ich nenne das Kosmopolitanismus von unten. Da wohnt die Frau, die vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka geflohen ist und tamilisch spricht, neben dem Bauarbeiter, der in Bombay geboren wurde und dessen Muttersprache Marathi ist. Und beide müssen mit dem Polizisten klarkommen, der darauf besteht, auf Hindi angesprochen zu werden. Diese Leute müssen tagtäglich über kulturelle Grenzen hinweg ihre Alltagskonflikte verhandeln. Obwohl sie oft Analphabeten sind, sprechen sie nicht selten drei oder vier Sprachen und haben gelernt, zum Beispiel auf religiöse Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Ich will ihr Leben nicht idealisieren, aber wenn wir uns anschauen, wie sie ihren Alltag bewältigen, finden wir vielleicht einen Weg, der über Multikulti hinausführt, zu einem dynamischen Kosmopolitanismus von unten."

    Arjun Appadurai lehrt an der New York University und wundert sich, dass noch keiner der vielen Migrationsforscher aus Amerika oder Europa nach Indien gefahren ist, um die Nachbarschaftsbeziehungen in den Slums von Bombay näher zu untersuchen. Denn so ähnlich wie in Bombay leben inzwischen Milliarden von Menschen in den Metropolen Südasiens und Schwarzafrikas zusammen. Noch eine Generation weiter, meint Appadurai, und diese Megacitys werden Heimat für die Hälfte der Menschheit sein.

    Das friedliche Zusammenleben und nicht etwa der Clash der Kulturen werden im Fernsehen und im Kino Indiens täglich neu propagiert durch die beliebten Bollywood-Filme. Produziert werden die Streifen fast ausnahmslos von Hindus. Die Helden auf der Leinwand sind aber meist Moslems. Niemand nimmt daran Anstoß.

    Doch Toleranz stößt schnell an Grenzen, auch wenn sie kulturell noch so gut begründet ist. Das weiß auch Arjun Appadurai.

    "Kulturelle Einflüsse gehen heute über die Medien und das Internet unglaublich schnell um die Welt. Diese Einflüsse können so stark sein, dass sich Menschen oder Gruppen fast über Nacht scheinbar ändern. Die Bilder des Leids aus dem Gazastreifen etwa führen seit Jahren dazu, dass sich Menschen in Paris oder Kairo oder Bombay als Teil einer muslimischen Gemeinschaft fühlen, mit viel Empathie für die Palästinenser und einer großen Wut auf den Rest der Welt. Und dann wollen sie sich vielleicht gar nicht mehr in die Nachbarschaft integrieren, in der sie gestern noch gut zurechtkamen. Wenn sie dann auf militante Hindus treffen, eskaliert der Konflikt schnell. Kulturelle Einflüsse von außen können bestehende Beziehungen also ganz leicht erschüttern, wenn sie dazu führen, dass Menschen sich ein völlig neues Selbstbild zulegen."

    Wenn sich Menschen nicht oder nicht mehr integrieren wollen, muss das aber nichts mit bösem Willen zu tun haben. Es kann auch einfach eine Reaktion sein auf eine Mehrheitsgesellschaft, die sie immer wieder enttäuscht und abgewiesen hat.

    Darauf wies die Berliner Politologin Nevim Cil hin. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, warum die zweite und dritte Generation türkischer Einwanderer in Deutschland immer noch nicht besser integriert ist als die erste.

    "Meines Erachtens hat das auch sehr stark mit 1989/90 zu tun, also mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung, die ja auch zu einer sehr starken Nationalisierungswelle in der Mehrheitsgesellschaft geführt hat. Man hat sich wieder auf das Deutschsein besonnen, man hat sich auf die deutsche Nation besonnen und man hat sich auf die Ethnie und Herkunft, was ja unveränderbar ist, besonnen. Und damit hat man quasi die Schere zwischen Wir und Ihr noch mal ganz neu definiert. Und da fielen Migranten raus. Und das ist etwas, womit die jüngere Generation aufgewachsen ist. Also sie ist ja quasi im Zeitgeist der 90er-Jahre aufgewachsen und die 90er-Jahre waren alles andere als friedlich in Deutschland. Ich erinnere an die Brandanschläge, an die ganzen Diskussionen um 'das Boot ist voll' und so weiter. Es hat von Anfang an die Jüngeren in einer Atmosphäre zurückgelassen: Es ist gar nicht möglich, Deutscher zu werden, klar man kann die Staatsbürgerschaft beantragen, aber dass man als Deutscher angesehen wird, das ist nicht möglich, also muss ich mir eine andere Struktur schaffen."

    Nevim Cil fiel auf der Tagung die Rolle der Zwischenruferin zu. Sie warnte davor, die Politik des Multikulturalismus schon totzusagen, bevor sie in Deutschland überhaupt begonnen habe.

    "Was Deutschland ja noch sehr stark fehlt, ist so etwas wie 'Affirmative Action', was in den USA ja gang und gäbe ist. Also dass ganz viele Positionen, ganz viele Arbeitstellen geöffnet werden für Migranten. Wir übersetzen das hier in Deutschland mit Migrantenquote, aber nicht nur für Berufsgruppen, die nicht besonders gut angesehen sind, sondern für höhere Positionen. Das fehlt komplett. Es fehlt, dass eben daran gearbeitet wird, positive Vorbilder zu schaffen. Wir haben sehr wenige Vorbilder für die unterschiedlichen Migranten-Communitys. Mir fällt nur Cem Özdemir als der neue Parteivorsitzende der Grünen ein und vielleicht Fatih Akin als ein erfolgreicher deutscher Regisseur mit einem türkischen Hintergrund. Es gibt sicherlich in anderen Communitys auch noch welche, aber es sind sehr wenige Vorbilder."

    Ganz nach oben, in die Führungsetagen von Unternehmen, Behörden, Medien oder Parteien hat es in Deutschland kaum ein Einwanderer geschafft. Das belegen zahlreiche Studien, die der niederländische Politikwissenschaftler Ruud Koopmans am Wissenschaftszentrum Berlin ausgewertet hat. Trotzdem fällt Koopmans Urteil über die deutsche Integrationspolitik erstaunlich positiv aus.

    Deutschland habe zwar, ähnlich wie übrigens Österreich, lange und hartnäckig geleugnet, dass es längst zum Einwanderungsland geworden sei. Entsprechend seien die meisten Förderprogramme für Migranten auch niemals so konsequent umgesetzt worden wie etwa in den Niederlanden oder in Skandinavien. Dennoch können sich die Ergebnisse im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen, berichtet Koopmans.

    "Wenn man zum Beispiel die Arbeitsmarktintegration von Zuwanderern betrachtet, dann ist die zum Beispiel in den Niederlanden eher schlechter als in Deutschland. Es gibt auch eine Vergleichsstudie zwischen Österreich und Schweden, wo Österreich gut abschneidet im Vergleich zu Schweden - auch ein Land, das sicherlich früh begann, ein Einwanderungsland zu sein, das eine relativ multikulturelle Politik auf die Beine gestellt hat, teils mit leichter Einbürgerung, Zugeständnisse an kulturelle Unterschiede und so weite, Subventionierung von Migrantenorganisationen. Oder ähnliche Programme gab es dann auch in den Niederlanden."

    Für Koopmans zeigen die vielen Daten verschiedener europäischer Länder, die er ausgewertet hat, dass eine Politik, die es Einwanderern besonders leicht machen will, die Integration oft gerade nicht fördert.

    "Ein Beispiel: Familienzusammenführung - lange Zeit war das viel schwieriger in Deutschland. Die Gesetzgebung ist viel restriktiver als in anderen europäischen Ländern. Folge davon ist, dass tatsächlich unter den in Deutschland lebenden Ausländern die Neigung, Heiratspartner aus den Herkunftsländern zu holen, geringer ist, als in anderen europäischen Ländern. Aber was ist die Folge davon? Oft heiraten sie dann doch Leute mit demselben Migrationshintergrund, das ist nicht anders. Aber es sind dann doch oft Leute, die in Deutschland geboren oder zumindest aufgewachsen sind. Die Folge ist, dass in solchen Familien, die dann auch Kinder kriegen, dann wieder öfter deutsch gesprochen wird, als in ähnlichen Familien in den Niederlanden, die dann einen Ehepartner haben, der aus der Türkei gekommen ist und noch kein Niederländisch spricht, die Niederländische Gesellschaft noch nicht kennt, so dass die Kinder in Deutschland öfter mit der deutschen Sprache aufwachsen, als das zum Beispiel bei vergleichbaren Gruppen in den Niederlanden der Fall ist."

    Die Politik solle Migranten nicht nur fördern, sondern ihnen durchaus auch etwas abverlangen, meint Ruud Koopmans. So hält er etwa verpflichtende Sprachtests für durchaus sinnvoll. Sie könnten diejenigen abschrecken, die gar nicht vorhaben, sich zu integrieren. Sie müssten aber so gestaltet sein, dass nicht nur Akademiker sie bestehen können, sondern selbst Analphabeten, also müssten sie auch mündlich möglich sein. Solche dosierten Anforderungen wären für ihn nicht das Ende des Multikulturalismus, sondern eine wichtige Ergänzung.

    Auch Steven Vertovec ist nicht ganz wohl, wenn er hört, dass Politiker jetzt allenthalben eine Abkehr von Multikulti ausrufen. Noch weniger gefällt es ihm, wenn sie sich dabei auf seinen Begriff von der "Super Diversity" beziehen und eine neue Politik der Vielfalt ausrufen, ohne zu erklären, worin die bestehen soll.

    "Ich denke, wir stehen da erst am Anfang. Heißt 'Politik der Vielfalt', dass wir offener sein wollen für andere Lebensstile, also dass wir toleranter sein wollen? Interessanterweise propagieren ja vor allem die Konservativen dieses Konzept - und da kann es auch heißen, dass wir immer größere Unterschiede zwischen arm und reich einfach hinnehmen sollen. Und das hieße ja wohl, dass wir ignoranter werden sollen gegenüber den Problemen von Migranten und von Armen. Ich glaube, im Moment weiß noch niemand, wo diese Politik der Vielfalt hinführt."

    Multikulti hat ausgedient, aber eine neue Strategie hat noch niemand gefunden. Doch sie wird gebraucht, denn im 21. Jahrhundert werden praktisch alle Länder Einwanderungsgesellschaften sein.