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Jenseits von Scherben, Knochen und Datierung

In Bremen findet der Deutsche Archäologenkongress statt. Doch der Berufsstand befindet sich im Wandel. Bis jetzt war das Ziel, zeitliche Abläufe der Vergangenheit in immer genaueren Chronologien zu beschreiben. Immer mehr Archäologen zweifeln an der Machbarkeit.

Von Barbara Weber | 06.10.2011
    "Ich gehe davon aus, dass die Öffentlichkeit im weitesten Sinne, eigentlich nicht genau weiß, was Archäologie ist."
    "Wir forschen ja von der Menschheitsgeschichte von Anfang an bis hin jetzt zur zeitgeschichtlichen Archäologie."
    "Die Öffentlichkeit meint, dass Archäologen was ziemlich interessantes machen, Gold suchen usw."
    "Wichtig ist hier eben Heinrich Schliemann zu nennen, der dieses Bild des Ausgräbers, Feldarchäologen und Goldsuchers, es gibt ja auch Biografien, die "Schliemann, der Goldsucher" oder ähnlich heißen, die haben das Bild geprägt."
    "Aber das ist sicherlich nicht die Realität, sondern wir versuchen mit materiellen Zeugnissen die Vergangenheit zu rekonstruieren, eine relativ schwierige Aufgabe, weil wir ja für den allergrößten Bereich, für 95 Prozent der menschlichen Geschichte, haben wir keine Schriftquellen."

    Das Bild, was Archäologen von ihrem Berufsstand pflegen, die Aufgaben und die Verantwortung, die sie haben, hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Umgekehrt denken weite Teile der Gesellschaft beim Stichwort Archäologie immer noch eher an Indiana Jones als trockene Schreibtischarbeit.

    Dabei erwächst aus dieser Schreibtischarbeit, so Uta Halle, Bremer Landesarchäologin und Professorin an der Universität Bremen, die eigentliche Aufgabe und Verantwortung von Archäologie:

    "Wir haben eine hohe gesellschaftliche Verantwortung. Wir dürfen nicht sagen: Es war so, sondern wir müssen sagen, es könnte so gewesen sein, weil unsere Quellen sind immer mehrdeutig, und von daher gesehen haben wir eine ganz hohe Verantwortung, und wir haben in Deutschland eine Zeit erlebt, zwischen 1933 und 1945, wo man diese Verantwortung nicht mehr wahrgenommen hat, sondern der Politik zugearbeitet hat. Von daher gesehen ist das einfach von Wichtigkeit, dass sich die Archäologen im Grunde genommen immer dieser Verantwortung bewusst sind, dass sie nicht der Politik zuarbeiten dürfen, in dem Sinne, wie es zu anderen Zeiten schon passiert ist…"

    ....oder wie es zum Teil noch passiert.
    Ein Beispiel nennt Dr. Stefanie Samida von der Freien Universität Berlin.

    ""Seit eins, zwei Jahrzehnten ist zum Beispiel Europa ganz stark natürlich auch in der Archäologie: die Bronzezeit, das erste goldene Zeitalter Europas, eine große Kampagne, so zu sagen eben auch wieder die Archäologie instrumentalisiert wird. Schaut her, wird dann der Bevölkerung gesagt, Europa gab es auch schon zur Bronzezeit, also vor drei, viertausend Jahren. Es hat sich also nichts geändert. Es gibt eine Kontinuität von der Bronzezeit bis heute zur Europäischen Union. Was natürlich definitiv Unsinn ist…"

    ...ergänzt Manfred Eggert, der bis vor einigen Jahren Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Tübingen war.

    Das ist eine Kampagne des Europarates gewesen, und da hat es Geld gegeben, und Archäologen haben das ihrerseits wiederum genutzt, um interessante Ausstellungen zu machen. Aber das Ganze ist ein ideologisch aufgeladenes Projekt gewesen, das wir häufig kritisiert haben, weil man kann und sollte natürlich so etwas nicht machen.

    Die "Europäer der Bronzezeit” sind nur ein Beispiel, wie Objekte einer Idee untergeordnet werden. Inzwischen setzt sich auch in der Archäologie die Erkenntnis durch, dass die subjektive Einschätzung eines Fundes durch den Wissenschaftler, die Einordnung von Fundobjekten, niemals objektiv sein kann. Sie ist abhängig von verschiedenen Faktoren, so Uta Halle:

    "Wir sind alle immer geprägt durch unsere eigene Lebenserfahrung, die wir mitbringen, und dann gehen wir auch so an unsere Quellen heran. Früher hieß es immer, man gräbt eh nur das aus, was die Archäologen selber kennen und was sie irgendwo schon mal gesehen haben, das wird dann auch bei Grabungen gefunden. Von daher gesehen: Unsere eigene Weltanschauung müssen wir uns sehr bewusst machen und da dann auch das vielleicht mal kritisch hinterfragen, bevor wir an die Interpretation eines Befundes heran gehen. Wir müssen also unsere archäologischen Quellen sehr gut sortieren und sehr genau uns unsere Interpretationen überlegen und halt auch im Falle eines Falles eventuell mehrere Interpretationen nebeneinander stellen."

    Manche Interpretationen eines Fundes sagen mehr über den Zeitgeist und den interpretierenden Wissenschaftler aus, als über die Menschen, die damals gelebt haben. So wurde beispielsweise der Neandertaler mal als dumpfer Zeitgenosse des Homo Sapiens, mal als ihm geistig ebenbürtig dargestellt. Der libertäre Zeitgeist spiegelte sich in den Pfahlbauten am Bodensee, die in den 1920er-Jahren errichtet wurden. Die Rekonstruktionen aus den 1940er-Jahren hingegen machten dann ein steinzeitliches "Führerhaus" erforderlich.

    Parallelen finden sich auch in anderen Bereichen der archäologischen Forschung.

    "Diese Chronologiesysteme, die wir aufgebaut haben, um das einigermaßen zu ordnen, das sind ja alles Konstrukte. Ich meine, es wird dann eben von Bronzezeit, von Eisenzeit, von Hallstattzeit, die dann durchdekliniert wird von A bis D, das sind Konstrukte, die wir aufgebaut haben. Das hat natürlich für die damaligen Menschen - da gab es keine Hallstattzeit und gab's auch nicht eine Einteilung von A bis D. Das muss man immer wieder betonen. Über solche Sachen muss man sich klar werden. Das geht auch bis in höhere Ebenen, dass es vielen Leuten eigentlich nicht klar ist, wenn man das sieht an Arbeiten, die auch heute noch an Doktorarbeiten oder Habilitationsschriften erstellt werden, dass man versucht, das Chronologiesystem feiner und feiner zu machen. Und die Frage ist dann irgendwann mal: Wie weit wollen wir das treiben? Was bringt uns diese Aussage überhaupt? Es gibt viel wichtigere Dinge, die es zu erörtern gilt als immer weiter in die Tiefe zu gehen. Wie war vielleicht der geistig religiöse Hintergrund und ähnliches und sich darüber Gedanken zu machen und Konzepte zu entwickeln. (Eggert) Ja, das ist in der Tat nicht nur die Frage, wie weit wollen wir das treiben. Die andere Frage, die ergänzende Frage ist, wie weit können wir es treiben? Das heißt, das Nachdenken über die Zeit. Was ist Zeit? Existiert Zeit? Der Soziologe Norbert Elias hat zurecht gesagt: Man kann sie weder sehen, noch schmecken, noch riechen, also ist es dann etwas real existierendes? Was ist Zeit? Und wie verhält sich archäologische Zeit dazu? Wie spiegelt sich Zeit in der Vergangenheit in unseren archäologischen Quellen?"

    Diese Aspekte hingegen würden nicht oder nur wenig in der Forschung beachtet, kritisiert Manfred Eggert. Archäologie sei nach wie vor viel zu sehr damit beschäftigt, Fundstücke chronologisch zu datieren.

    Was bislang in der archäologischen Forschung auf der Strecke bleibe, seien grundsätzliche Fragen:

    "Im Augenblick ist die Archäologie oder sind die Archäologien, es gibt ja ein ganzes Spektrum von Einzelarchäologien, innerhalb der Kulturwissenschaften, relativ isoliert. Das sollte dringend geändert werden. Das heißt, wir müssen uns darüber klar werden, was ist unser Beitrag zur Kulturgeschichte des Menschen? Und zwar in einem größeren Rahmen. Wie können wir die verschiedenen Kulturwissenschaften, die Ethnologie, usw. und die verschiedenen historischen Wissenschaften, die Geschichte des Mittelalters, die alte Geschichte, enger zusammenbinden, und wie können wir das so zusammenbinden, dass sie gegenseitig fruchtbar gemacht werden. Das ist nach meiner Ansicht der Weg, den die Archäologie beschreiten sollte."

    Literatur:

    Halle, Uta, von Carnap-Bornheim, Claus für den Nordwestdeutschen Verband für Altertumsforschung, Ausflüge zu Archäologie, Geschichte und Kultur in Deutschland, Bremen und umzu, Theiss Verlag, Stuttgart, 2011

    Manfred Eggert, Retrospektive, Archäologie in kulturwissenschaftlicher Sicht, Hrsg. Melanie Augstein, Stefanie Samida, Waxmann Verlag, München, 2011

    Samida, Stefanie, (HG.), Inszenierte Wissenschaft, Zur Popularisierung von Wissen im 19.Jahrhundert, transcript Verlag, Bielefeld, 2011