Im Februar 1940 begann der erste Massentransport polnischer Staatsbürger aus dem sowjetisch besetzten Lemberg Richtung Sibirien. Unter den Deportierten befanden sich auch Wats Frau Ola und sein Sohn Andrzej. Gegen Ende des Krieges fand Wat Frau und Kind halbverhungert in Asien wieder. Erst 1948 kehrte die Familie nach Polen zurück.
Aleksander Wat, vor dem Kriege überzeugter Kommunist, hatte sich durch seine Flucht aus Warschau nach Lemberg in Sicherheit gewähnt. Doch der sowjetische Geheimdienst NKWD hatte die Stadt schon bald nach dem Einmarsch im September 1939 im Würgegriff. Schriftsteller wurden als Spitzel erpresst, dienten sich aus Angst oder Feigheit freiwillig an und denunzierten Kollegen. Von einem Bekannten wurde Wat in einen Hinterhalt gelockt und in einem Restaurant in eine Schlägerei verwickelt. Zur Klärung des Vorfalls, so glaubte er zunächst, wurde er festgenommen. Die Schlägerei aber war der vom Geheimdienst inszenierte Vorwand für seine Verhaftung.
Wat verbrachte ein dreiviertel Jahr im Zamarstynow-Gefängnis von Lemberg, auf 11 einhalb Quadratmeter zusammengepfercht mit 27 anderen Menschen. Auch in den folgenden Jahren mußte er erfahren, was Menschsein unter ähnlich extremen Bedingungen bedeutete: er sah von Hunger und Krankheiten gezeichnete Häftlinge, die psychisch gebrochen und abgrundtief demoralisiert waren, deformiert von Haß und Aggressionen durch den chronischen Platzmangel in den Zellen, gezeichnet von beginnendem Wahnsinn. Wat erzählt aber auch von Menschen, die sich nicht brechen ließen, die Folter und Qualen trotzten, die aufrecht starben. Für ihn, den Juden Wat, wurde der Glaube zum wichtigsten Halt: im Gefängnis von Saratow, seinem siebten in der Sowjetunion, konvertierte er vom Kommunismus zum Christentum. Als Dichter muss Aleksander Wat bei uns erst noch entdeckt werden. Er wurde am l. Mai 1900 m einer polnisch-jüdischen Familie geboren und wuchs in einer intellektuellen Umgebung auf, zu der selbstverständlich Bücher und Sprachen gehörten. Mit dem Judentum, dem Atheismus und dem polnisch-ländlichen Katholizismus war er gleichermaßen vertraut. Eine Hausangestellte nahm den Jungen in die katholische Messe mit. Wat studierte Philosophie an der Warschauer Universität und debütierte 1919 mit einem ersten Gedichtband. "ICH von der einen Seite und ICH von der anderen Seite meines mopseisernen Öfchens" hieß der Titel des lautmalerischen Bandes, der von der Literaturkritik verdammt wurde, bis heute aber als Geburtsstunde des polnischen Futurismus gilt. Wat bezeichnete sich selbst als "Dadaisten"; für Viadimir Majakowski, der bei seinen beiden Warschau-Aufenthalten lange mit Wat zusammentraf, war er ein "geborener Futurist". 1927 folgten bissig-sarkastische Utopien auf den Antisemitismus unter dem Titel "Der arbeitslose Luzifer", erst 1957 erschien wieder ein Lyrikband, 1962 der Zyklus "Mittelmeergedichte", und 1967 der Band "Dunkles Geleuchte".
Nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion galt Aleksander Wat in Polen als Unperson. Bekannte und Kollegen wechselten die Straßenseite, wenn sie ihn sahen. 1952 erlitt Watt eine Gehirnblutung, deren Folgen ihm 16 Jahre lang schwere Schmerzen verursachten. Er fühlte sich wie von glühenden Eisen und Zangen malträtiert. Für das vermutlich psychosomatische Leiden fanden die Ärzte keine Medizin.
Erst nach 1956 durfte der Name Aleksander Wat wieder öffentlich genannt werden. Der Dichter durfte reisen, und verbrachte ab 1958 die meiste Zeit mit seiner Frau in Südfrankreich und Italien. Das milde Mittelmeerklima linderte sein Leiden. 1964 erhielt er eine Einladung für einen einjährigen Aufenthalt nach Berkeley/Kalifornien. Nach anfänglicher Besserung nahmen die Schmerzen in Kalifornien wieder zu, Wat magerte sichtlich ab. Als eine Art Therapie schlug der Dekan der Universität Berkeley Czeslaw Milosz die Gespräche mit dem kranken Dichter vor. Ola Wat schildert in ihrem Erinnerungsbuch "Der zweite Schatten", das bereits 1990 auf deutsch erschien, die Verstörung ihres Mannes nach der Lektüre der ersten abgeschriebenen Tonbandprotokolle: wie viel besser, tiefer, poetischer hätte er ein Buch schreiben können, meinte er, wenn ihm die Krankheit nicht alle Kräfte geraubt hätte. Die deutsche Ausgabe der Erinnerungen ist gekürzt, leider auch um ein-drückliche, poetische Schilderungen. Warum sich der deutsche Titel "Jenseits von Wahrheit und Lüge" ausdrücklich an Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" anlehnt, ist nicht unbedingt nachzuvollziehen. Dennoch ist die Lektüre atemberaubend: ein Schlüsselwerk auf Mitteleuropa im 20. Jahrhundert.