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"Jenufa"

Bei seinem Salzburg-Debüt transponierte Christoph Marthaler 1998 Leoš Janáčeks "Katja Kabanowa" aus der ärmlichen und von Drangsal bestimmten Hinterwelt des tiefsten russischen 19. Jahrhunderts in die Sphäre des realen Postsozialismus und nach Břno, in die mährische Heimat des Komponisten, die ihr Gesicht seit dessen Tod allerdings dreimal radikal änderte. Auf dem Weg solcher Interpretation schritt nun Sebastian Baumgarten fort, als er in Meiningen die – thematisch verwandte – Janáček-Oper "Jenufa" auf die Bühne brachte. Unter ortsüblichen Protesten, wie wir hier nicht verschweigen wollen: Lautstark zogen etliche Bürger vorzeitig ab und dröhnten in Richtung der Theatermacher: "Die sollten doch hingehen, wo sie hergekommen sind". Wahrscheinlich täte Baumgarten nichts lieber als genau das – und so interessant wie manche Inszenierung derzeit in Berlin sind seine allemal. Das führte eine junge Frau vor Ohren, die in der Pause aufgeregt ihrer beste Freundin ins Handy flötete: "Wenn ich die Zeichen decodiert habe, dann verstehe ich auch diese Inszenierung."

Von Frieder Reininghaus |
    Die Zeichen auf der Bühne markierten ein Niemandsland in medialer Gegenwart: Ein Kamera-Auge im Duschkopf sorgt immer wieder für stark verzerrte Portraitaufnahmen, die sich auf den seitwärtigen Großmonitoren zeigen. Das Fußbecken mit der Sanitär-Installation markierte das Zentrum der Bühne. Daneben ein Aquarium, das Jenufa später als Brutkasten für ihr uneheliches Kind dient. Rechts zwei Pappkisten mit Erste-Hilfe-Accessoires und ein Rosmarinstrauch als Rest der Natur und ein auf den Boden gemalter Teich (mit Piktogramm: Achtung, kein Trinkwasser!); links hinter der Heizbank mit der RFT-Normaltelefon in Rot eine Kücheneinheit und, aufragend über Philodendronkübeln, ein Hochstand wie in den kleinen Karpaten. Und noch weiter hinten, unterm Lichtzeichen des tschechischen Elektronik-Kombinats TESLA, ein Stück sinn- und funktionslos gewordener Industrie-Architektur. Das dient nun als Rutschbahn.

    Zum Beispiel den frisch Gemusterten, die anders als der drogensüchtige Stewa zum Auslandseinsatz einrücken. Stewas Großmutter wurde als mumifizierte Sanitäterin ausstaffiert, ihr Altgesell als hochdekorierter sowjetischer Veteran des großen vaterländischen Kriegs, die Küsterin als Mitglied einer näher nicht definierten Sekte. Diese Küsterin ist angesiedelt zwischen dem großen Leuchtkreuz an der Leichtbauwand, die im zweiten Akt den Ort der Zuflucht für Jenufas Niederkunft einfriedet, und einer Wodu-Figur bei den Kerzen, eingekreist von Vorurteilen. Die schwergewichtige, mit der Stimme wie mit einer Keule zuschlagende Andrea Baker profiliert sich als Frau von jenem Typ, der buchstäblich alles im eigenen Blickfeld sozial regeln muss und bei dieser selbstzugewiesenen Aufgabe über Leichen geht.

    Unter Zuhilfenahme von Motiven aus Janáčeks Kindheitserinnerungen an Hukvaldy übersetzte Sebastian Baumgarten die dramatische Kern-Idee des mörderischen Altruismus (der blanker Egoismus ist!), von der schweren mährischen Scholle des 19. Jahrhunderts in die erzwungene Leichtigkeit der postindustriellen Ära; konkret: in die Gegenwart eines postsozialistischen Ost-Tschechien, in dem – wie in vergleichbar entwurzelten Gesellschaftsformationen – Sektenwesen und neuer Aberglaube sprießen. Die Tragödie des rückständigen Bewusstseins kommt in den Kulissen eines internationalisierten TV-Seifenopernmilieus an. Das ist nicht neu, sondern inzwischen probater Kunstgriff des Regie-Theaters – und bedenklich nur durch die Momente der allzu großen Rekonkretisierung. Wo aber die unterschiedlichen Grundsätze gegeneinander an- und ausgesungen werden – und man wünschte, dies wäre besser geschehen – wirft sich die alte Frage nach dem richtigen Frauenleben in der männlich dominierten Gesellschaft noch einmal in neuer Schärfe auf. Deren Insignien sind nicht schwer zu decodieren.