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"Jenufa"

Die Vlaamse opera in Antwerpen und Gent hat im Lauf der 90er Jahre mit einem kompletten Puccini-Zyklus neue Maßstäbe für die Rezeption dieses Komponisten gesetzt; verantwortlich dafür zeichneten zwei Männer, der Schweizer Dirigent Silvio Varviso und der kanadische Regisseur Robert Carsen, der inzwischen auch mit anderen Inszenierungen von sich reden machte. Vor wenigen Jahren bekam er vom Antwerpener Intendanten Marc Clemeur einen neuen Großauftrag: eine Serie von Aufführungen mit Opern von Leos Janacek. Die läuft nun schon eine Weile, für "Das schlaue Füchslein und "Katja Kabanowa" wurde Robert Carsen schon viel gelobt.

Von Frieder Reininghaus |
    "Jenufa" -- Robert Carsen inszeniert Leo Janaceks Oper in Antwerpen
    Autor: Frieder Reininghaus
    Kultur heute am 31.10.2004

    Die [gestrige] Premiere in Antwerpen offenbart ein Trauerspiel. Zwei junge Leute aus dem Hinterhaus traten vor das Geviert aus brauner Erde, auf dem alte Türen einen begrenzten Lebensraum und Gesichtskreis markieren. Sekundiert wurden die beiden Sprecher des Personals von zwei gestandenen Darstellerinnen – und sie gaben dem Publikum kund, wie gefährdet die Oper in Flandern ist: Das Viertel an Zuschüssen, das die beiden Städte Gent und Antwerpen dem Theater zuschießen (es handelt sich um jeweils 2,5 Millionen Euro), soll wegen der auch in Belgien notorisch leeren Stadtkassen eingespart werden.

    Nun muss das von Marc Clemeur geleitete Unternehmen, das die beiden wunderschönen Opernhäuser aus dem 19. Jahrhundert bespielt, ohnedies mit der vergleichsweise sehr geringen Zuwendungssumme von 20 Millionen auskommen. Brechen da aber nun 5 Millionen weg, dann kann er den laden dicht machen. Die Flämische Gemeinschaft – sie entspricht einem der deutschen Bundesländer – will und kann das Defizit nicht auffangen. Es ist Alarmstufe 1 gegeben. Ausgang ungewiß. Anders als bei der Tragödie der gestrengen Küsterin und ihrer schönen Stieftochter mit dem unehelichen Kind auf der Bühne: "Jenufa" von Leo Janácek kommt zu einem halbwegs versöhnlichem Schluß.

    Robert Carsen hat die Choristen als Dorfgesellschaft in ihrer Dumpfheit und Neugier brillant inszeniert: als gedrängten Block, bedrohliches Kollektiv; auch gruppenweise und mit unterschiedlichen Gangarten und Lebensgeschwindigkeiten; dann jeden und jede einzeln als einen, der durch Blicke und Wegsehen, durch Hinten-Herum-Reden und den Hang zur Selbstjustiz das Seine zur Tragödie beisteuert. Am Anfang gaffen diese guten Leute also durch die Glasfächer in den Türen und die Spalte auf Anja Kampe, die Sopranistin, die als tragische Titel-heldin sosehr Objekt männlicher Begierden ist und deshalb nur sehr sporadisch Lebensfreude versprühen darf. Jenufa Kampes Körperhaltung verrät etwas von der Verbiegung, die sie sich antun muß, weil sie dreifachen Zwängen ausgesetzt ist. Und folgerichtig gewinnt sie den Liebhaber Steva, der sie geschwängert hat, aber das leichte Leben sucht, durch Zetern nicht zurück. Das Unglück in der traditionellen Gesellschaft nimmt seinen vorprogrammierten Lauf. Stefan Klingele, der von Bremen nach Flandern gekommene junge Dirigent, sorgt für eine höchst präzise Umsetzung der Partitur und ihrer wechselnden Farben. Neben der Titelrolle ist auch die der bösen Stiefmutter bestens besetzt: Josephine Bastrow be-streitet die Schlüsselrolle der Küsterin – gran-dios in den Schär-fen, mit denen sie sich ins Leben der Pflegetoch-ter einmischt, den potentiellen Schwiegersohn mit Zumutungen be-singt; überzeugend auch mit der weich schmeichelnden Stimme, mit der sie später Fami-lienplanung betreibt, und in der sachlichen Diktion, mit der sie zur Tötung des Neugeborenen schreitet, von dem sie glaubt, daß er dem Glück Jenufas im Wege steht (in Wahr-heit ist es ihr eine Schande und ein Ärgernis).

    Es bleibt bei der einmal exponierten Einfach-Ausstattung von Patrick Kinmonth, bei den alten Türen auf kargem Boden; gelegentlich werden die Türblätter umgesetzt. Sie verengen Jenufas Lebensraum zur Hütte, in der sie heimlich niederkommt; sie erweitern sich dann wie-der zum öffentlichen Raum, in dem der Kindsmord, den die Stiefmutter in stellvertretender Moral-Übung begeht, ruch-bar wird. Die Andeutungen genügen: diese Jenufa gehört einer Le-benswelt an, die weithin schon längst als Sperrmüll entsorgt wurde. Man trägt dort Garderobe der 50er Jahre.

    Robert Carsen hat eine einfache, klare und saubere Lösung für seine "Jenufa"-Inszenierung an der Flämischen Oper gefunden. Frei-lich verzichtet sie darauf, das gesellschaftliche Desaster, von dem das Stück handelt, aus der begütigenden Distanz zu holen. Die Sa-che wird nicht aktualisiert. Gewiß, das Tier- und Menschen-Fleisch wird heute auf anders anstößige Weise verarbei-tet als im Milieu der östlichen Bauern-armut vor mehr als hundert Jahren. Daß in Antwerpen und Gent aber die Sehnsucht nach Liebe, diesem so vielfach verdorbenen Lebensmittel, daß die Liebe im leichten Märzenregen siegt – in einem Schauer, der die Scholle fruchtbar macht – das ist wirklich schön. Und eigentlich höchst mehrheitsfähig. Auch unterm Aspekt der öffentlichen Finanzierung.