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Jerusalem
Zwischen Gewalt und Aufstand

Die Gewalt auf den Straßen Jerusalems nimmt kein Ende: Bei einer Messerattacke wurde heute ein orthodoxer Religionsschüler schwer verletzt. Bürgermeister Nir Barkat hat die jüdischen Bewohner der Stadt jetzt dazu aufgerufen, Schusswaffen zu tragen.

Von Christian Wagner, Tel Aviv | 08.10.2015
    Israelische Polizisten sichern die Straßen der Altstadt Jerusalems.
    Israelische Polizisten sichern seit Tagen die Straßen der Altstadt Jerusalems - nun werden Besucher auch auf Waffen kontrolliert. (afp / Thomas Coex)
    Junge Palästinenser greifen jüdische Israelis mit Messern an, sie werfen Steine auf fahrende Autos, Brandsätze auf Soldaten. 145 solcher Attacken haben Armee und Polizei in Israel allein gestern gezählt. In Jerusalem, wo die Gewalt auf den Straßen schon seit vergangenem Sommer kaum mehr aufhört, ruft Bürgermeister Nir Barkat die jüdischen Bewohner der Stadt jetzt dazu auf, Schusswaffen zu tragen.
    "Das ist wichtig, gerade jetzt in einer Zeit der Spannungen. Die Erfahrung zeigt ja, dass bei einigen Vorfällen die Attentäter durch ausgebildete Waffenbesitzer zu Fall gebracht wurden, also nicht durch Polizisten. Wer jetzt einen Waffenschein besitzt und eine Waffe trägt, leistet gewissermaßen Reservedienst."
    Sicherheit, der Begriff spielt die größte Rolle. In Jerusalem und anderen Städten schicken Eltern ihre Kinder heute nicht zur Schule, um mit diesem Streik mehr Geld für Wachleute zu fordern. In Tel Aviv bezahlt die Verwaltung einen bewaffneten Sicherheitsdienst vor den Kindergärten.
    Sicherheitsvorkehrungen in der Altstadt
    An den Toren der Altstadt von Jerusalem sollen ab sofort alle Besucher nach Waffen durchsucht werden, Metall-Detektoren wie am Flughafen werden aufgestellt. Und Ministerpräsident Netanjahu will die Gefahr von Provokationen auf dem Tempelberg klein halten: Er verbietet seinen Minister und - zunächst allen jüdischen Abgeordneten des Parlaments - den Zutritt zum Tempelberg. Erst auf Druck aus den eigenen Reihen dehnt er dieses Verbot auch auf die arabisch-palästinensischen Abgeordneten aus, die damit von ihren eigenen heiligen Stätten ausgesperrt werden. Das arabische Knesset-Mitglied Ayman Udeh.
    "Netanyahu hat kein Rückgrat. Und er hat kein Recht, die arabischen Abgeordneten vom Besuch der Al-Aqsa-Moschee abzuhalten. Netanyahu lässt sich von den Siedlern vorführen und führt uns damit in den Abgrund."
    Wenn in Israel überhaupt die Frage nach den Ursachen der Gewalt gestellt wird, dann antwortet beispielsweise die stellvertretende Außenministerin Hotovely, Hauptursache sei der palästinensische Präsident Abbas: Er hetze gegen Israel und wiegele die Palästinenser auf. Die israelische Militär-Aufklärung widerspricht dem hinter vorgehaltener Hand, der ehemalige General Amos Yadlin ganz offen:
    "Das ist der falsche Ansatz: Eine Aufwiegelung auf palästinensischer Seite ist nicht der Auslöser. Die Hauptursache für die Attacken ist, dass die palästinensische Autonomiebehörde gerade zusammenbricht. Die politische Führung der Palästinenser hat überhaupt keinen Einfluss mehr. Es ist der Terror Einzelner. Dahinter steht keine strategische Führung. Die Autonomiebehörde hat inzwischen viel weniger Einfluss auf die Straße."
    Furcht vor weiteren Ausschreitungen
    Aus Ramallah, dem Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde heißt es, man könne sich dem eigenen Volk nicht entgegenstellen. Man werde die Stimmung aber keinesfalls weiter anheizen. Eine Strategie, wie eine weitere Eskalation verhindert werden könnte, hat aber auch die Palästinenserführung nicht.
    In Jerusalem gab es am Mittag eine weitere Messerattacke, ein orthodoxer Religionsschüler wurde schwer verletzt. Für den morgigen Freitag, für die Zeit nach den Freitagsgebeten in den Moscheen, sind neue blutige Ausschreitungen zwischen aufgebrachten palästinensischen Jugendlichen und der israelischen Armee zu befürchten.