"Ich habe versucht, die anderen zu überreden, die IS-Kämpfer anzugreifen, aber keiner hatte den Mut. Dann habe ich gesagt: Wenn wir zum Sterben verurteilt sind, lasst uns unser jesidisches Glaubensbekenntnis sprechen, um uns so vom Leben zu verabschieden. Die IS-Kämpfer haben zwölf Salven auf uns abgefeuert. Einige der Kugeln haben mich im Rücken getroffen, in den Unterarmen, im Gesäß und Beckenbereich. Dann fiel ich zu Boden."
Khalaf Mirza überlebt im August 2014 eine Massenexekution des sogenannten "Islamischen Staats". Über 70 jesidische Männer sterben neben ihm, kaltblütig von hinten erschossen.
"Ich habe in die Sonne geschaut und leise vor mich hin geflüstert, dass der Engel Fahradin uns schützen soll und einen Weg für uns finden soll. Ich habe wahrgenommen, dass einer der Kämpfer geprahlt hat: Wenn ich mehr Munition hätte, würde ich noch mehr Jesiden erschießen. Einer hat zu den anderen gesagt: Ich muss mehr Jesiden töten als du. Es war wie ein Wettkampf."
Schutzsuche im Sindschar-Gebirge
Mirza entkommt den Schlächtern und sucht mit seiner Familie und Zehntausenden anderen Jesiden Schutz im Sindschar-Gebirge. Der IS ist ihnen auf den Fersen, ständig schweben sie in Lebensgefahr. Mirza und seiner Familie gelingt schließlich die Flucht, aber ihre Wege trennen sich: Während die meisten seiner elf Kinder und seine Frau in einem irakischen Flüchtlingscamp bleiben, schließt sich der 53-Jährige – trotz seiner schweren Verletzungen – zunächst einer jesidischen Bürgerwehr an, um den IS zu bekämpfen. Dann flüchtet er nach Deutschland. Das einzige, was er bei sich trägt: die Hoffnung, in der Ferne ein neues Leben für sich und seine Familie aufbauen zu können. Im März 2015 kommt Mirza in Oldenburg an und findet Obhut in der großen jesidischen Gemeinde hier. Warum hat die Dschihadistenmiliz es auf die Jesiden abgesehen?
"Die Frage stelle ich mir heute noch. Warum haben sie uns getötet? Für sie sind wir Gottlose, weil wir Jesiden sind und nicht Muslime. Wer mehr Jesiden umbringt, kommt ins Paradies."
"Die Frage stelle ich mir heute noch. Warum haben sie uns getötet? Für sie sind wir Gottlose, weil wir Jesiden sind und nicht Muslime. Wer mehr Jesiden umbringt, kommt ins Paradies."
Jesiden suchen Zusammenhalt in der Diaspora
Mirza trägt eine braune Weste über einem grünen Hemd; er sitzt in einem Raum des Jesidischen Zentrums in Oldenburg, den Blick meist gesenkt. An Mirzas Seite hat Ilyas Yanc Platz genommen. Er kümmert sich als Flüchtlingsberater um den schwer Traumatisierten. Auch Yanc gehört der nicht-christlichen und nicht-muslimischen Glaubensgemeinschaft der Jesiden an, die erstmals im 12. Jahrhundert schriftlich erwähnt wird, deren Wurzeln aber nach Auffassung jesidischer Autoren zurückreicht bis weit in die Zeit vor unserer Zeitrechnung. Ebenso unklar ist die Zahl der Jesiden. Die Gesellschaft für bedrohte Völker geht weltweit von 800.000 bis 1.000.000 Jesiden aus. Sie glauben an einen Gott und verehren den Engel Tausi Melek, den ein Pfau symbolisiert. Immer wieder wurden die Jesiden in ihrer Geschichte heftig verfolgt. Sie sind in aller Welt verteilt. Daher ist der gemeinschaftliche Zusammenhalt in der Diaspora so wichtig, erklärt Ilyas Yanc:
"Das Jesidentum ist ja nicht nur Kultur, das ist eine Schicksalsgemeinschaft. Das sind viele Aspekte, die da halt zum Tragen kommen. Und man muss nicht den Jesiden aus dem Irak kennen oder aus der Türkei, sondern wenn man Jeside ist, hat man die Verpflichtung, sich gegenseitig beizustehen, weil egal was der Jeside in der Türkei, in Armenien oder woanders erlebt hat, es ist alles für alle dasselbe Verbindliche, was passiert ist."
Auch aufgrund dieses Solidaritätsgedankens kämpft Yanc derzeit dafür, dass Khalaf Mirza in Deutschland Asyl erhält und so bald wie möglich seine Familie nachholen kann. Noch wohnt Mirza in einer Flüchtlingsunterkunft, versucht dort, so gut es geht, seinen Glauben zu leben:
"Keiner sagt hier etwas zu meinem Glauben. Keiner fragt mich, was ich mache, woran ich glaube. Hier lebt jeder seine Kultur, wie er möchte. Hier sagt keiner: Du musst Jesiden töten und das ist dein Recht. So wie ich es gelernt habe, verrichte ich mein Morgengebet und mein Abendgebet und wende den Blick in Richtung des Schöpfers."
Berat als Symbol für die Urperle
Gemeinsam gehen wir durch die Räume der Glaubensgemeinschaft, die einigen Hunderten von Menschen Platz bieten. Yanc führt hinauf in den zweiten Stock, wo sich die Frauen versammeln, wenn es einen Toten zu beklagen gibt, zeigt den Raum für die Totenwaschung. Im Büro des Zentrums öffnet Yanc eine Schranktür. Khalaf Mirza beugt sich hinab, berührt zuerst mit den Lippen, dann mit der Stirn den Inhalt einer Plastiktüte.
"Das sind Berats, das sind Kugeln, die aus der heiligen Quelle von Kanya Sipi und von Lalish halt in Kugeln geformt worden sind. Und stehen für die Urperle, aber auch für diese Welt. Für die Jesiden ist es wichtig, dieses Berat bei sich zu haben und es wird bei verschiedenen Anlässen eingesetzt und soll sie vor Unheil schützen. Er hat keines dabei gehabt, habe ich ihm jetzt eines gegeben."
Die Jesiden glauben, dass Gott die Welt aus einer Perle schuf. Ein Lächeln huscht über Mirzas Gesicht als er die kleine Kugel in ein weißes Tuch wickelt. Auf dem Weg zum repräsentativen Saal des Zentrums hängt ein großes Wandgemälde. Darauf zu sehen: Die Türme des zentralen Heiligtums der Jesiden, Lalish, das rund 60 Kilometer von der irakischen Stadt Mossul entfernt ist.
"Bevor ich aus meiner Heimat geflohen bin, bin ich noch ein letztes Mal nach Lalish gepilgert, habe alle Rituale praktiziert und um Schutz für meine Reise nach Europa gebeten. Und ich habe gebetet: Nur wenn es für mich gut ist, möge Gott mich heil zu meinem Ziel bringen; wenn nicht, dann soll er mich gar nicht erst gehen lassen."
Khalaf Mirza erinnert sich, dass er in Lalish das Lied "Der Fremde" angestimmt hat. Es erzählt die für die Jesiden so bedeutsame Legende von Mir Mih. Sie handelt von Sterblichkeit und Unsterblichkeit: Der Prinzensohn namens Mir Mih macht sich auf die Reise in die Fremde, auf der Suche nach einem Ort, an dem der Tod nicht existiert.