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Jesus, ein Jude aus Nazareth
"Ganz einer von uns"

Er ist der vielleicht einflussreichste Mensch der Geschichte: Jesus von Nazareth. Es gibt viele Erzählungen über ihn, doch kaum gesicherte historische Erkenntnisse. Klar scheint: Der historische Jesus war durch und durch jüdisch, und er wollte nie etwas anderes sein.

Von Christian Röther | 25.12.2018
    Die "Herz-Jesu-Darstellung", eine aufwendig handbemalte Jesus-Figur aus Spanien ist im Devotionalien-Laden "Ave Maria" in der Potsdamer Straße in Berlin zu bewundern.
    Mit dem historischen Jesus haben heutige Darstellungen oft nicht viel gemeinsam (dpa / picture alliance / Jens Kalaene)
    Annette Merz: "Jesus von Nazareth war ein jüdischer Prophet, der durchdrungen war von der Erwartung des Gottesreiches."
    Stefan Schreiber: "Er war davon überzeugt, dass jetzt, mit seinem Auftreten, die Königsherrschaft Gottes auf der Erde Wirklichkeit wird."
    "Oh wie glücklich sind die Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Oh wie glücklich sind die, die jetzt hungern; denn ihr werdet essen, so viel ihr wollt. Oh wie glücklich sind die, die jetzt weinen, denn ihr werdet lachen." (Lk 6,20-21)*
    Walter Homolka: "Also schon Julius Wellhausen hat gesagt: Jesus war Jude. Und alle jüdischen Leben-Jesu-Forscher in der Nachfolge dieses protestantischen Theologen haben auch immer wieder darauf hingewiesen, dass Jesus zutiefst jüdisch war, dass seine Lehren jüdisch waren, vor allem rabbinisch-pharisäisch, und dass er sicherlich keine eigene Religion gründen wollte."
    Jeschu ben Josef – seit rund 250 Jahren versucht die Wissenschaft, sein Leben zu rekonstruieren. Sie fragt nicht nach dem Christus des Glaubens, sondern nach dem historischen Menschen Jesus von Nazareth.
    "Ich würde sagen, unter historischen Gesichtspunkten betrachtet ist es höchstwahrscheinlich, dass Jesus von Nazareth existiert hat – einfach deswegen, weil wir eine so breite Überlieferung über ihn haben. Natürlich die ganze Bandbreite der christlichen Quellen, aber eben auch Notizen, kurze Texte in der antiken Literatur, die uns diese Gestalt ebenfalls bezeugen", sagt Stefan Schreiber, katholischer Professor für Neues Testament an der Universität Augsburg.
    Wahrscheinlich hat Jesus tatsächlich gelebt
    Wie er geht der Großteil der Forschung davon aus, dass Jesus tatsächlich gelebt hat – auch Annette Merz, evangelische Professorin für Neues Testament in Groningen:
    "Gerade die Diversität und manchmal auch die Widersprüchlichkeit der Jesusüberlieferungen sind ein Hinweis darauf, dass wir es wirklich mit historischen Fakten zu tun haben."
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Annette Merz, Professorin für Neues Testament an der Protestantisch Theologischen Universität, Campus Groningen (privat)
    Widersprüchlich ist schon die Quellenlage zum Geburtsjahr. Das Jahr 0 war es mit ziemlicher Sicherheit nicht.
    "Wenn wir in unsere Texte schauen, fällt auf, dass immer davon die Rede ist, dass Jesus zur Zeit des Herodes geboren wurde, also Herodes der Große. Und der starb bekanntlich vier vor Christus. Also da beißt sich jetzt ein bisschen was", meint Stefan Schreiber. Er tendiert deshalb – wie viele – zu einem Geburtsjahr "kurz vor vier vor Christus."
    "Ich denke, dass wir über das Geburtsjahr eigentlich gar nichts wissen", sagt Annette Merz. "Und das hat alles damit zu tun, dass Jesus natürlich berühmt wurde erst als er vielleicht 30 war oder so. Er ist ein ganz unbekannter Sohn eines Handwerkers aus Nazareth, wahrscheinlich."
    Auch der Geburtsort Jesu lässt sich historisch nicht sicher bestimmen. Die Forschung tendiert überwiegend – nicht zu Bethlehem, wie es in zwei Evangelien steht, sondern zu Nazareth.
    "Dort, in diesem doch eher kleineren Ort, hat seine Familie gelebt. Er ist dort aufgewachsen vermutlich wie ein ganz normales jüdisches Kind, mit mehreren Geschwistern, über die wir auch Bescheid wissen", erklärt Stefan Schreiber.
    "Nazareth war da ein kleines Kaff"
    Jakobus, Joses, Judas und Simon – so heißen laut der Bibel Jesu Brüder. Er hat auch mindestens zwei Schwestern, deren Namen sind allerdings nicht überliefert. Nazareth hat damals rund 200 Einwohner. Alltagssprache ist Aramäisch, manche sprechen vielleicht auch Griechisch.
    "Sehr wahrscheinlich wird im Kontext der Synagoge der Schreib- und Leseunterricht für die Kinder auch organisiert", so Merz. "Nazareth war da ein kleines Kaff, aber eine Synagoge ist auch da überliefert. Und man muss sich vorstellen: Jeden Sabbat in die Synagoge gehen und die Schriften vorgelesen bekommen – wenn man sich dafür interessiert, dann bekommt man schon allein dadurch eine gute Kenntnis der Thora, der Propheten, der Schriften."
    Blick auf die Stadt Nazareth
    Blick auf die Stadt Nazareth - zur Zeit Jesu war sie noch ein "kleines Kaff", sagt Annette Merz. (dpa/picture alliance)
    Ob Jesus lesen und schreiben kann, ist umstritten. Später, wenn er als Prediger auftritt, wird aber deutlich, dass er sich gut auskennt in den religiösen Traditionen Israels.
    "Es sieht doch danach aus, dass die Familie Jesu – alle seine Brüder haben biblische Namen – dass das eine Familie ist, die in den Traditionen Israels verankert ist, und dann wird doch sehr wahrscheinlich auch das Lesen der Schriften dazugehören", meint Annette Merz. Stefan Schreiber ergänzt:
    "Es ist überliefert, dass Jesus angeblich ‚Tekton‘ gewesen ist, was man heute in aller Regel mit ‚Bauhandwerker‘ übersetzt – vielleicht auch sein Vater, der möglicherweise deswegen aus der Überlieferung weitgehend verschwunden ist. Also sozusagen eine Art Arbeiter auf Montage. Das könnte eine Zeit lang auch für Jesus von Nazareth zutreffen."
    "Jesus distanziert sich von seiner eigenen Familie"
    Viel ist spekuliert worden über die Familie Jesu – auch polemisiert. War er ein uneheliches Kind? Oder taucht Josef, Jesu Vater oder Adoptiv-Vater, später in den Evangelien nicht mehr auf, weil er gestorben ist?
    "Das Interessante ist, dass die Familie zumindest am Anfang des Auftretens Jesu überhaupt nicht zu seinen Anhängern gehörte, sondern dem sehr skeptisch gegenüberstand. Wir haben Überlieferungen, dass Jesus sich distanziert von seiner eigenen Familie", so Merz.
    "Wenn jemand zu mir kommt und nicht hasst seinen eigenen Vater und Mutter, und Frau und Kinder, und Brüder und Schwestern, und dazu auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Schüler sein." (Lk 14,26)
    Jesus von Nazareth lebt in unruhigen Zeiten. Judäa, das "Land der Juden", ist von Rom besetzt. Viele hoffen, dass der verheißene Messias erscheinen und das jüdische Volk erlösen möge. Prediger treten auf, Charismatiker, Propheten. Einer von ihnen ist Johannes, genannt "der Täufer".
    Stefan Schreiber
    Stefan Schreiber (privat)
    "Ich vermute, dass Jesus seine Hauptinformationen über die Auslegung der Thora bekommen hat in einer Zeit, in der er als Schüler von Johannes dem Täufer gelebt hat", sagt Stefan Schreiber, katholischer Theologe.
    "Die Axt ist schon an die Wurzel gelegt"
    Warum Jesus sich Johannes anschließt, ist unklar. Auch, wann genau – wahrscheinlich Mitte bis Ende der 20er Jahre. Johannes verkündet Askese, Umkehr, Endzeit. Die Herrschaft Gottes auf Erden stehe unmittelbar bevor, und die Menschen müssten sich schon bald verantworten vor dem Gericht Gottes.
    "Diesen Gerichtsgedanken macht Johannes ganz stark", so Schreiber. "Zum Beispiel in dem Bild:"
    "Die Axt ist schon an die Wurzel der Bäume gelegt." (Mt 3,10)
    Schreiber: "Das heißt ja im Klartext: Da muss man jetzt nur noch ein paar Mal zuschlagen, dann fällt der Baum. Und weil die Zeit kurz ist, pflegt Johannes diesen Ritus der Taufe. Also ein Reinigungsritus, der einen bereitmacht, vor Gott zu stehen und zu sagen: ‚Ja, ich erwarte diese Königsherrschaft Gottes.‘"
    Der Fluss Jordan 
    Bethanien ist laut christlicher Überlieferung der Ort, an dem Jesus von Johannes getauft wurde. Hier ist der Jordan nur noch ein kleiner Fluss. (Deutschlandradio / Philipp Eins)
    "Es war zu der Zeit, dass Jesus aus Nazareth in Galiläa kam und sich Johannes unterwarf, um sich eintauchen zu lassen im Wasser des Jordan." (Mk 1,9)
    "Jesus als Nachfolger von Johannes"
    Das komplette Untertauchen im Flusswasser ist damals ein noch recht junges Ritual in manchen Strömungen des Judentums. Die Menschen sollen von ihren Sünden gereinigt werden. Der gereinigte Jesus erhält in der Täuferbewegung möglicherweise eine herausgehobene Stellung.
    "Er hat – das erfahren wir aber leider nur aus einer ganz kleinen Notiz im Johannesevangelium – vielleicht sogar selber auch getauft, also sozusagen als Vertreter Johannes des Täufers selbst getauft. Hat sich aber dann, zu einem bestimmten Zeitpunkt, vom Täufer abgesetzt und ist seinen eigenen Weg gegangen", sagt Stefan Schreiber. Annette Merz widerspricht:
    "Ich würde nicht sagen, dass er sich abgesetzt hat. Ich denke eher, dass Jesus sich wirklich als Nachfolger von Johannes verstanden hat."
    Johannes der Täufer wird von den Römern hingerichtet. Wann und warum ist umstritten. Zumindest aber schließt sich ein Teil der Johannes-Anhänger Jesus an. Der macht sich als Wanderprediger auf den Weg, wird von seinen jüdischen Anhängern "Rabbi" genannt, "Lehrer".
    "Ich denke, dass die Jesusbewegung eigentlich die zweite Welle der Täuferbewegung gewesen ist", so Merz. "Das Gericht war angekündigt, man hat sich taufen lassen – und dann kam das Gericht nicht. Und Jesus interpretierte das als eine Zeit der Gnade eigentlich – eine extra-geschenkte Zeit."
    "Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist das Reich Gottes über euch gekommen." (Lk 11,20)
    "Ein wirklich extrem radikales Leben"
    Schnell erwirbt sich Jesus den Ruf, dass er Kranke heilen und sie von ihren Dämonen befreien kann. Er spricht vor allem einfache Menschen an: Fischer, Bauern, Zöllner oder Prostituierte.
    "Es ist leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, das Reich Gottes zu betreten." (Mk 10,25)
    Das im Dom von Turin aufbewahrte Tuch aus Leinen zeigt Blutspuren und den Abdruck eines menschlichen Körpers.
    Das "Turiner Grabtuch" zeigt Blutspuren und den Abdruck eines menschlichen Körpers - aber sicher nicht den historischen Jesus, wie lange geglaubt wurde (picture alliance / dpa)
    Merz: "Sie sind rumgezogen und haben eigentlich nichts mitgenommen. Kein Geld mitgenommen, kein Proviant für mehr denn einen Tag mitgenommen. Also Jesus und seine die ihn begleitenden Jüngerinnen und Jünger lebten – durch dies Botschaft von der Nähe Gottes aufgerüttelt – auch ein wirklich extrem radikales Leben."
    "Geh und verkaufe all deinen Besitz und gib es den Armen, dann wirst du einen Schatz in den Himmeln haben, und komm, folge mir!" (Mk 10,21)
    Nicht alle Menschen in Jesu Heimatregion wollen dieser kompromisslosen Botschaft folgen. Manche begegnen ihm feindselig.
    "Seht, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder." (Mt 11,19)
    "Er ist vom Beelzebul besessen und durch den Prinz der Dämonen treibt er die Dämonen aus." (Mk 3,22)
    "Dass Jesus Griechisch sprach, denke ich eher nicht"
    Jesus akzeptiert auch Frauen als Schülerinnen, das ist ungewöhnlich. Dass er aber verheiratet ist oder Kinder hat, darauf hat die Forschung keine Hinweise. Zentrum seines Wirkens ist die Stadt Kapernaum am Nordufer des galiläischen Sees. Wie lange Jesus dort als Prediger auftritt, ist unklar, erklärt Annette Merz:
    "Es ist deutlich, dass das nicht viele Jahre gedauert hat. Aber ob es ein Jahr war oder drei, da können wir keine seriösen historischen Aussagen drüber machen, würde ich sagen."
    Mel Gibson trifft "Jesus Christus" in einem Filmset
    In "Die Passion Christi" ließ Regisseur Mel Gibson Jesus Aramäisch sprechen - trotzdem wurde der Film als unhistorisch kritisiert (AP)
    Was genau Jesus gepredigt hat, das müssen Forscherinnen wie Annette Merz aus den Evangelien rekonstruieren. Die wurden allerdings erst einige Jahrzehnte nach Jesu Tod niedergeschrieben – und zwar auf Griechisch, Jesus lehrte aber aller Wahrscheinlichkeit nach auf Aramäisch.
    "Da wird gerne immer wieder spekuliert über Übersetzungsfehler und Missverständnisse", sagt Merz. "Aber dass Jesus fließend Griechisch sprach, wie manche glauben, das denke ich persönlich eher nicht."
    Wie zuverlässig also sind die Evangelien als Quellen über den historischen Jesus?
    "Man hat von moderner Gedächtnisforschung ausgehend auch die Jesus-Überlieferung sich neu vorgenommen", erklärt Annette Merz. "Dabei kommt immer wieder ein Aspekt deutlich heraus, und das ist, dass Menschen sich in Details unglaublich vertun können, aber dass die Grundlinien der Botschaft meistens richtig auch nach Jahren und Jahrzehnten noch wiedergegeben wurden."
    "Wer auch immer dich auf deine rechte Backe schlägt, wende ihm auch die andere Wange zu. Und wenn dich jemand anklagen will und dir deine Tunika wegnehmen, gib ihm auch deinen Kaftan." (Mt 5, 39-40)
    "Die Basisbotschaft kommt rüber"
    Merz: "Die Basisbotschaft, die kommt rüber. Und das sind Dinge wie: die Feindesliebe. Das sind Dinge wie: die Nähe Gottes, die Liebe Gottes, die Vergebungsbereitschaft Gottes. Das haben wir in so vielen Jesusworten und in so vielen auch biographischen Notizen und Details, dass wir da deutlich historisch verlässliche Aussagen drüber machen können. Auch wenn wir über die Historizität eines einzelnen Wortes oft sagen müssen: Ja, das wissen wir nicht."
    Im Mittelpunkt der Botschaft Jesu steht – wie bei seinem Lehrer Johannes – die Erwartung, dass die Herrschaft Gottes auf Erden unmittelbar bevorsteht.
    Schreiber: "Es gibt dieses Wort von Jesus, das im Lukasevangelium überliefert ist."
    "Ich sah den Satan wie einen Blitz aus den Himmeln fallen." (Lk 10,18)
    Schreiber: "Dahinter steckt im Grunde die Vorstellung: Im Himmel ist der Verursacher des Bösen schon überwunden, schon aus dem Himmel gestürzt. Und das heißt: Jetzt bricht etwas Neues an. Jetzt beginnt eine neue Zeit. Und das ist eben diese Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes, die jetzt auf der Erde anbricht."
    Der Bau der weltweit größten Jesus-Christus-Statue in Swiebodzin, Polen.
    Das Leben Jesu ist historisch nur schwer zu rekonstruieren - eine goldene Krone wie hier im polnischen Swiebodzin trug er sicher nicht. (picture-alliance / dpa / Lech Muszynski)
    Merz: "Mit dieser Vorstellung von der Nähe Gottes geht auch eine Intensivierung der Ethik einher, die vor allem zum Beispiel in der Bergpredigt fassbar ist."
    "Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen." (Mt 5,44)
    "Eine Heilszeit für Israel"
    Einige Gebote der Thora verschärft Jesus – etwa dass man nicht nur seinen Nächsten lieben soll, sondern auch seine Feinde. Oder dass man sich nicht scheiden lassen darf.
    "Was Gott verbunden hat, darf der Mensch nicht trennen." (Mk 10,9)
    Andere Gebote lockert er – besonders, was die rituelle Reinheit betrifft: Jesus hebt Speisegebote auf und wendet sich Nicht-Juden genauso zu wie Kranken, Aussätzigen und "Sündern".
    "Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern es sind die Dinge, die aus dem Menschen herauskommen, die ihn unrein machen." (Mk 7,15)
    Jesus legt die Traditionen und Gebote des Judentums selbstbewusst aus. Sein Wirken ist ausgerichtet auf die Zukunft Israels und des jüdischen Volkes, erklärt der katholische Theologe Stefan Schreiber:
    "Das symbolisiert Jesus vor allem dadurch, dass er einen Kreis von zwölf Schülern um sich schart. Die zwölf, das ist meines Erachtens kein Zufall, sondern die stehen für die zwölf Stämme Israels, für das restituierte Israel. Also eine Heilszeit für Israel, die angebrochen ist."
    Willem Dafoe als Jesus mit Dornenkrone in "Die letzte Versuchung Christi" von Martin Scorsese von 1988
    Dass Jesus tatsächlich mit einer Dornenkrone gefoltert wurde, gilt historisch als unwahrscheinlich - Willem Dafoe in dem Film "Die letzte Versuchung Christi" von Martin Scorsese (1988) (picture-alliance / dpa)
    "Und das alles in einer Zeit, in der natürlich nicht Gott herrschte, sondern die Römer in Palästina – die Römer zusammen mit den jüdischen Eliten, was auch einhergeht mit großer Armut der Bevölkerung", sagt die evangelische Theologin Annette Merz.
    "Gib uns Tag für Tag das Brot, das wir brauchen"
    Jesus reagiert mit seiner religiösen Botschaft also auch auf die tatsächliche Not der jüdischen Bevölkerung. Die brauchte Zuversicht – und genug zu essen, so Merz:
    "Ich würde sagen, dass zum Beispiel das Vaterunser zu den Überlieferungen gehört, bei denen auch wir uns sehr sicher sind, dass sie wirklich wiedergeben, worum es Jesus ging."
    "Wenn ihr betet, sagt: Unser Vater, geheiligt sei dein Name. Dein Reich komme. Gib uns Tag für Tag das Brot, das wir brauchen. Und vergib uns unsere Sünden; denn auch wir vergeben allen, die uns etwas schuldig sind. Und führe uns nicht in Versuchung." (Lk 11,2-4)
    Nachdem er eine Zeit lang in Galiläa gelehrt hatte und seine Anhängerschaft gewachsen war, macht Jesus sich auf den Weg nach Süden, rund 150 Kilometer.
    "Pesach näherte sich schnell, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem." (Jh 2,13)
    "Ob er wirklich eine ganz bestimmte Absicht damit hatte, wissen wir nicht sicher. Was wir lesen, ist eine traditionelle Pilgerreise, die sehr viele fromme Juden aus Galiläa einmal im Jahr mindestens unternahmen", so Merz.
    "Alles wird niedergerissen"
    Jerusalem ist das Zentrum der politischen Macht in Judäa – und durch den Tempel auch Mittelpunkt der jüdischen Religion. Doch Jesu Botschaft fordert die jüdischen Eliten heraus. Indem er eigenmächtig Sünden vergibt, untergräbt er Macht und Privilegien des Tempels.
    "Und in diesem Zusammenhang passieren dann solche Dinge wie das, was wir die Tempel-Aktion nennen", erklärt Schreiber.
    "Jesus ging in das geweihte Haus und fing an, die Verkäufer und Käufer hinauszujagen; und er schmiss die Tische der Geldwechsler um und die Stände der Taubenhändler." (Mk 11,15)
    "Nicht ein einziger Stein wird auf einem anderen bleiben. Alles wird niedergerissen." (Mk 13,2)
    Schreiber: "Die ist natürlich in ihrer Historizität seit Langem auch sehr umstritten – ob das überhaupt möglich ist, dass Jesus da im Tempel-Vorhof irgendwo Händler rauswirft oder Tische umschmeißt."
    "Wurde nicht geschrieben: ‚Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker‘? Aber ihr habt es zu einer Räuberhöhle gemacht." (Mk 11,17)
    "Ich persönlich neige zu der Ansicht, dass da vielleicht doch irgendwie etwas Historisches dahinterstecken könnte – eine prophetische Aktion Jesu, die zeigen soll: So wie das jetzt hier am Tempel läuft, entspricht das nicht dem, was ich von der Königsherrschaft Gottes halte", sagt Schreiber.
    "Die politischen Implikationen der Reich-Gottes-Verkündigung"
    Historisch oder nicht – die Tempel-Aktion spiegelt den Konflikt zwischen Jesus und der jüdischen Elite wider. Als er noch ein Wanderprediger in Galiläa war – einer unter vielen – war Jesus keine Gefahr für die politische Ordnung. In Jerusalem ist er es.
    "Die politischen Implikationen der Reich-Gottes-Verkündigung, die wurden im Zentrum der Macht natürlich am deutlichsten", erklärt Merz. "Und dass es sich am Passahfest abspielte, trug natürlich dazu bei, dass die Situation auch eskalierte. Es ist nicht zufällig, dass Pilatus mit seinen Truppen zu diesem Fest in Jerusalem anwesend war. Das sind die Feste, in denen – ja – jüdisches Selbstbewusstsein aufkam."
    Ein Ultraorthodoxer betet an der Klagemauer.
    Die Klagemauer in Jerusalem: ein Überrest des Zweiten Tempels, in dem Jesus gepredigt haben soll (picture-alliance / dpa / Atef Safadi)
    Ein Beispiel dafür sind Jesus und seine Anhängerschaft mit ihrer Forderung nach der Königsherrschaft Gottes. Solche Umsturzpläne können auch den römischen Herrschern nicht gefallen.
    "Diejenigen, die zunächst mit Jesus in Konflikt gekommen sind in Jerusalem, waren ja wohl nicht die Römer, sondern waren zunächst die jüdischen Autoritäten", so Schreiber. "Die wurden von Jesus in gewisser Weise angegriffen – oder haben sich angegriffen gefühlt. Die haben wahrgenommen, dass Jesus eine gewisse Anhängerschaft um sich geschart hat."
    "Amen, ich sage euch: Die Zöllner und die Huren werden vor euch in das Reich Gottes gehen." (Mt 21,31)
    Schreiber: "Und es würde naheliegen, dass die jüdischen Autoritäten dann gesagt haben: Bevor hier Schlimmeres passiert, räumen wir Jesus aus dem Weg. Wir können das nicht selbst tun, wir überstellen ihn an die Römer, mit dem Anklagegrund, dass Jesus als politischer Aufrührer in Jerusalem für Unruhe sorgt, und – ja – dass wir den Römern empfehlen, ihn aus dem Weg zu räumen."
    Gestorben am 7. April 30?
    Es war im Interesse der Römer, potentielle Aufrührer frühzeitig auszuschalten. Jesus wird von ihnen gefangengenommen – verhört, verurteilt und hingerichtet. Am Kreuz endet das Leben des historischen Menschen Jesus von Nazareth.
    Zu Jesu Todesdatum gibt es in der Forschung viele Theorien. Häufig genannt wird der 7. April im Jahr 30.
    Schreiber: "Es gibt zumindest solche Berechnungen, die uns etwa in das Jahr 30 verweisen. Und das halte ich für durchaus historisch denkbar und plausibel."
    Merz: "Ich sage auch hier: Das können wir wirklich nicht wissen."
    Wirklich gesichertes historisches Wissen gibt es also kaum über ihn – über den vielleicht einflussreichsten Menschen der Geschichte, Jeschu ben Josef – Jesus von Nazareth.
    Schreiber: "Also bleibt die Frage: Wer ist dieser Jesus eigentlich?"
    Homolka: "Ja, wenn Sie den Juden fragen, dann ist das eine vielschichtige Geschichte."
    Bei einer Rabbinerordinationsfeier in der Neuen Synagoge in Erfurt spricht Rabbiner Walter Homolka.
    Der Rabbiner Walter Homolka hat sich intensiv mit der jüdischen Jesus-Forschung auseinandergesetzt (Martin Schutt, dpa)
    Der Rabbiner Walter Homolka ist Professor für jüdische Religionsphilosophie in Potsdam. Er hat sich ausführlich befasst mit jüdischen Perspektiven auf Jesus:
    "Klar ist, dass er eingeordnet werden kann in diesen zeitgeschichtlichen jüdischen Zusammenhang der römischen Besatzung und dass er auch immer mehr wahrgenommen wird als jemand, der ganz einer von uns ist."
    War das Christentum ein Irrtum?
    "Ganz einer von uns" – wenn Jesus also durch und durch als Jude lebte und lehrte, wenn er keine neue Religion gründen wollte und natürlich auch nicht Weihnachten gefeiert hat – ist das Christentum dann ein Irrtum?
    "Nein, sicher nicht", sagt Annette Merz. "Aber es ist eine Entwicklung, die angestoßen ist von Jesus von Nazareth, die sehr stark beschleunigt wurde durch die Erfahrung seines Sterbens und dann die Ostervisionen."
    Schreiber: "Und daraus ergibt sich sozusagen innerhalb Israels – immer noch innerhalb Israels – eine eigene Gemeinschaft, die diesem Jesus anhängt. Und daraus hat sich dann im Laufe der Jahrhunderte die Kirche entwickelt."
    Homolka: "Das Christentum ist vor allem eine Realität. Und Schalom ben Chorin war derjenige, der jüdischerseits darauf hingewiesen hat, dass Juden sich dieser Realität zu stellen haben. Das Judentum schließt auch nicht aus, dass Gott wirkt im Christentum – und auch im Islam. Das ist von jüdischer Seite her eine valide Annahme."
    Der Mensch Jesus von Nazareth ist aller wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit nach nicht von den Toten auferstanden. Historische Tatsache ist aber, dass Menschen schon kurz nach seinem Tod an Jesu Auferstehung glauben. Zunächst Juden, aber schnell auch Griechen, Römer und andere. Die Jesusbewegung wird zu einer neuen, eigenständigen Religion.
    Eine Entwicklung, sagt die evangelische Theologin Annette Merz, "die der historische Jesus ganz sicher nicht gewollt und nicht vorhergesehen hat. Insofern: Das Christentum ist kein Irrtum. Und es ist – es ist eine tragische Entwicklung, dass sehr schnell eine scharfe Feindschaft zwischen Judentum und Christentum entstand – dass also vergessen wurde, dass Jesus Jude war und niemals etwas anderes sein wollte. Aber ja, es ist einfach eine Geschichte, die weiterging."
    Und so feiern Christen an Weihnachten bis heute die Geburt Jesu. Und mit ihnen feiern katholische und evangelische Bibelwissenschaftler – auch wenn sie mit historisch-kritischer Forschung zu dem Ergebnis kommen, dass Jesus gar kein Religionsstifter sein wollte. Sein Wirken mündete trotzdem in einer neuen Religion.
    *Die Übersetzung der Zitate aus den Evangelien orientiert sich an der englischsprachigen "Orthodox Jewish Bible"