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Jesus' Sohn

Da reist einer per Anhalter und findet sich plötzlich in einem blutigen Verkehrsgemetzel auf dem Highway wieder. Ein anderer durchsucht die Bars der Stadt nach dieser Bauchtänzerin, die es ihm so sehr angetan hat, und findet stattdessen die größte Rauschgift-Pille seiner Drogenkarriere. Und ein Dritter verbringt seine Feierabende damit, als Spanner um das Haus eines fremden Ehepaares zu schleichen. Nein, die Figuren in Denis Johnsons Geschichten sind weder Glückspilze noch ordentliche Bürger, und wenn in ihre Köpfe auch viel hineinpaßt, Klarblick und nüchterner Verstand gehören nicht dazu. Viel eher ähneln sie Gestalten aus den schlimmen oder skurrilen Träumen eines gequälten Geistes. Es ist eine merkwürdig entrückt anmutende Sphäre, in der sie agieren, mal komisch, mal verzweifelt.

Eberhard Falcke |
    Nach den faktischen Ursachen dafür muß man nicht lange suchen. Denn auch wenn der Autor aus Kiffen, Fixen und Pillenwerfen kein großes Thema macht, so gibt es doch in diesen elf Short Stories keinen Helden, dessen Wahrnehmung nicht von Drogen oder deren Entzug beeinflußt wäre. Nichts anderes signalisiert auch das Motto, auf welches der Buchtitel "Jesus' Sohn" zurückgeht. Es stammt aus Lou Reed's Velvet-Underground-Song "Heroin": "When I'm rushing on my run / And I feel just like Jesus' Son..."

    Mögen die Gefühle eines Jesus-Sohnes auch rätselhaft bleiben - von dem Befinden seiner bedröhnten Herumtreiber liefert Johnson jedenfalls ein sehr genaues Bild. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, bewegen sie sich in ihrer engen Welt. Ein größerer, klarer Überblick über ihre Situation bleibt ihnen verwehrt. Umso intensiver treten ihnen dafür die Details vor Augen - im einen Fall erschreckend, im anderen berauschend. Zum Beispiel dann, wenn der schon erwähnte Anhalter die Unfallszene, in die er verwickelt wird, als ein absurdes nächtliches Inferno erlebt. Oder wenn der besagte Spanner sich mit völliger Arglosigkeit als beobachtender Teilhaber in die Intimitäten eines fremden Ehepaares vertieft.

    Trotzdem hat Denis Johnson mit diesen Geschichten alles andere im Sinn, als psychologische oder soziale Notfallstudien. So wenig es Samuel Beckett bei seinen beschädigten Figuren um deren konkrete Misere ging, so wenig geht es Johnson um die bloße Darstellung von Junkie-Schicksalen. Vielmehr dient ihm die durch Drogen verfremdete Wahrnehmungsweise nur dazu, Bilder eines reduzierten Lebens zu zeichnen, in dem weder Sinn noch Zusammenhänge zu entdecken sind. Und das tut er mit wenigen, doch kunstvoll genau gesetzten Strichen.

    Wie schon in seinem Roman "Wiederbelebung eines Gehängten", der vor zwei Jahren auf deutsch erschien, erzählt Johnson auch hier von jenem, wie es im Roman heißt, "Reich der Blinden, wo kein Unterschied mehr zu erkennen ist zwischen oben und unten, Recht und Unrecht, Sex und Liebe, Männern und Frauen, ja nicht einmal zwischen Lebenden und Toten". Da erschießt ein Mann im Streit einen anderen, was der Erzähler zum Anlaß nimmt, seine Leser daran zu erinnern, daß die Differenz zwischen dem Mörder und den Rechtschaffenen nur minimal ist. "Wenn ich euch den Kopf aufmachen und mit einem heißen Lötkolben in eurem Hirn herumfahren würde, könnte ich so jemanden auch aus euch machen."

    Denis Johnson formuliert in diesen Geschichten knapp, manchmal poetisch konzentriert, ohne jedoch dem Manierismus eines bloßen lakonischen Sounds zu verfallen. Nicht zu Unrecht bescheinigte ihm ein amerikanischer Kritiker, daß der Autor auf seinem Weg von der Lyrik über den Roman nun auf dem Gebiet der Short Story besonders Bemerkenswertes geleistet habe. Verwirrung und beklemmende Ratlosigkeit beherrschen Atmosphäre und Tonlage dieser Stories. Sie liefern Momentaufnahmen aus einer Junkie-Gesellschaft, in der die Sucht mehr ist als lediglich ein Drogenproblem.Sie läßt sich hier ganz allgemein verstehen als Metapher für ein haltloses Taumeln zwischen Bedürfnis und flüchtiger Befriedigung. Und durch solche Verhaltensweisen wird das Dasein, nicht nur in den Metropolen, längst vielfach bestimmt. Johnson zeigt die daraus resultierende Verengung der Perspektiven ebenso wie ihre Folgen: die Veitstänze zwischen Angst und hirnverbranntem Übermut. Höhenflug und Absturz gehen da unmittelbar ineinander über. Und jede der Geschichten beschreibt so einen Looping auf einer Bahn die nirgends hinführt. "Gewöhnlich fühlten wir uns schuldig", bemerkt der immergleiche Ich-Erzähler einmal, "und waren verängstigt, weil etwas mit uns nicht stimmte und wir nicht wußten, was."