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Jetzt Berlin

"Paris hätte mir jeder zugetraut. Berlin hielten die meisten, die mich kennen, zuerst für eine Strafversetzung." Als Reisejournalist und Kulturkorrespondent - die letzten 25 Jahre als Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" - hat der 1938 geborene Hans Scherer wohl die ganze Welt gesehen. Zuletzt hatte er etliche Jahre in Paris zugebracht, 1996 ist er dann nach Berlin gegangen: "Bisher hatte ich nur äußerst kritische Geschichten und Glossen über Berlin geschrieben, so daß bei vielen, die nur flüchtig lasen, der Eindruck entstand, ich hätte etwas gegen Berlin. Die Wahrheit ist, daß ich überhaupt kein Verhältnis zu Berlin hatte."

Detlef Grumbach |
    Autor: Also doch eine Strafversetzung? Wer Hans Scherers Feuilletons und Reportagen kennt, ahnt, daß es so etwas für ihn gar nicht geben kann. Wer in seinen Büchern "Stopover. Ein Jahr auf Reisen", "Pariser Passagen" oder "Cote d’Azur" auf Entdeckungsreise gegangen ist, weiß, daß es für diesen leidenschaftlichen Beobachter überall etwas aufzuspüren gibt, wo Menschen sich begegnen und ihre Spuren hinterlassen, daß er seine oft verschmitzt erzählten Eindrücke überall sammelt und seine stilistischen Funken aus dem scheinbar Nebensächlichen schlägt. "Jetzt Berlin. Unterwegs in der Hauptstadt" heißt sein neues Buch: "Wer Geschichten über Potsdamer Platz, Kanzleramt und Prenzlauer Berg, Gedächtniskirche, Mode-Szene und Prominente erwartet, wird enttäuscht. Da sitzt mißmutig ein älterer Herr im Hundertsiebenundachtziger-Bus, ein junges Mädchen steigt zu und setzt sich neben ihn. Eine Frechheit, sagen die Augen des Alten, und plötzlich wirkt er berührt und hilflos: Das Mädchen weint. Was geht in den beiden vor? Der neugierige und zufällige Beobachter weiß es nicht, aber diese beiden fremden Menschen nehmen seine ganze Aufmerksamkeit gefangen, und Scherer fängt auch seine Leser. Und dann wieder der Blick durchs Fenster, in den Regen hinaus: "Man durchfährt alle Himmel und Höllen in Berlin. Es waren Stadtteile, deren Bauten den Passagier im Bus an seine Kindheit erinnerten. Gepflegte Wohnsiedlungen aus den zwanziger Jahren, aber auch verschnörkelte Aufschriften auf Ruinen: ‘Kolonialwaren’ oder Reklamen für Marken, die es gar nicht mehr gibt: ‘Mampe Halb und Halb’."

    Legenden und Klischees, die die Erwartungen an einen Ort prägen, schiebt der Flaneur, als der sich der Autor gerne stilisiert, beiseite. Mit nur wenigen Erinnerungen an vergangene Besuche und seine Erlebnisse in den wilden sechziger Jahren läuft er los und erkundet die Stadt wie ein Neuling: eine Stadt im Umbruch, die vieles verspricht, von dem kaum jemand weiß, wie sie ihre Wechsel auf die Zukunft einlösen wird. So schaut Scherer auf Situationen am Rande, schmeckt und riecht die Atmosphäre, ist immer als Betrachter und Erzähler präsent. Gerade dadurch charakterisiert er die Orte subjektiv, liebevoll, genau. Er zeigt uns unverwechselbar "sein" Berlin, seine Bismarckstraße beispielsweise - "keine schöne Straße", wie er zugibt, eine konturlose Hauptverkehrsader ohne Szene-Läden oder Hauptstadt-Flair, in die er sich dennoch verguckt hat und in der er täglich etwas Neues entdeckt: "Ein Nagelstudio, gemeint sind Fingernägel, eine wirklich zukunftsweisende Branche. Oder die Papyrus-Druckerei mit echten Papyrus-Pflanzen im Schaufenster. Ich wußte sofort, daß die Bismarckstraße meine Straße ist. Sie ist so herrlich unpersönlich, so nah am Alltag und ihm doch so fern. Stolz verzichtet sie auf kleinbürgerliche Gemütlichkeit."

    Autor: Spitzbübisch berichtet der Kulturkorrespondent von den merkwürdigsten Veranstaltungen, die er voller Neugier besucht: etwa von einem Vortrag über den Umgang mit den Seelen der Verstorbenen - inklusive Kontaktmöglichkeit durch ein Medium für fünfzehn Mark Einritt, von grotesken Versuchen, die Salonkultur der zwanziger Jahre wiederzubeleben, von den zahlreichen Bemühungen ausländischer Konsulate, mangels politischer Aufgaben wenigstens irgend etwas Schöngeistiges zu tun. Bleiben am Ende die "aufgeweckten" Berliner Taxifahrer, die - so Scherers Erfahrung - immer erpicht darauf sind, den Gast in ein Gespräch zu verwickeln: Ob man zu Besuch hier sei, woher man komme, was man mache. "Dann kam die unvermeidliche Frage, die ich inzwischen fürchte wie der Teufel das Weihwasser: ‘Arbeiten Sie noch?’ Als wären die Fahrer besessen von dieser Frage, höre ich sie immer wieder: ‘Arbeiten Sie noch?’ Wie alt muß ich aussehen. Wie alt muß ich ihnen vorkommen. Inzwischen habe ich mich sogar an die Frage gewöhnt. ‘Nun ja’, sage ich im Taxi, mehr für mich als für den Fahrer, ‘ich arbeite noch. Ich bin mit Berlin alt geworden.’"

    Es gibt Wahrheiten, die unbarmherzig und kalt erscheinen und lieber verdrängt oder verschwiegen werden. Hans Scherer ist ihnen nie ausgewichen. Eine Mischung aus Melancholie und Trotz verleiht seinen Beobachtungen aber auch dann menschliche Wärme. In den letzten Zeilen seines Buches aber ist er derjenige, der taxiert wird - unvoreingenommen und genau. Man schmunzelt über die ironische Spitze gegen dieses alte Berlin, mit der er kontert, und erschrickt, wenn man erfährt, daß der Autor das Erscheinen seines letzten Buches nicht mehr erlebt hat. Hans Scherer ist Anfang Juni in Berlin gestorben.