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Jetzt!: "Liebe in großen Städten"
Album-Debüt mit dreißig Jahren Verspätung

Bad Salzuflen gilt als die Ur-Suppe der Hamburger Schule: Jochen Distelmeyer (Blumfeld), Frank Spilker und Thomas Wenzel (Die Sterne), Bernadette La Hengst und Bernd Begemann stammen von dort oder haben dort aufgenommen. Das erste Album der Band Jetzt! erscheint jedoch erst jetzt, 30 Jahre später.

Von Ralf Summer | 05.08.2017
    Die Musiker von "JETZT!" auf einer verschneiten Dachterrasse (Bild: tapeterecords / Andrea Brehme)
    "Jetzt!" - von der verschollenen Kassette zum verspäteten Albumdebüt. (tapeterecords / Andrea Brehme)
    "Meine stille Generation" - mit diesem losrockenden Stück beginnt eine der interessantesten deutschsprachigen Platten des Jahres. Der Titel ist eine Anspielung an das stolze "My Generation" von "The Who". Hier ist es aber eher als Selbstanklage gemeint. Wenn man die 16 Lieder von Jetzt! hört, kann man nicht glauben, dass sie rund 30 Jahre alt sein sollen. Sie sind entstanden, als Neue Deutsche Welle und der Deutsch-Punk vorbei beziehungsweise durch waren - und die Hamburger Schule noch nicht da. Michael Girke war Sänger und Gitarrist von Jetzt! und agierte sozusagen nicht nur im musikalischen, sondern auch im geographischen Niemandsland. Bad Salzuflen, Kneipp-Kurort und "allergikerfreundliche Kommune", Bad Salzuflen bei Bielefeld, das es bekanntlich ja gar nicht gibt. Er hörte vor allem englische Bands wie "The Jam", "The Clash" oder "The Smiths" - aber er sang Deutsch.
    "Die Jahre von Kohl waren absolute Bewegungslosigkeit"
    "Liebe in großen Städten (1984-1988)" heißt das 30 Jahre zu spät erscheinende Debüt von Jetzt!. Entstanden sind seine Lieder also zu einer Zeit, als in England Margaret Thatcher den Umbau der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft vorantrieb - unter Ausschaltung der Gewerkschaften - und so dem Neoliberalismus Tür und Tor öffnete, wie Girke heute sagt. Während West-Deutschland für ihn damals unter einer politischer Dunstglocke lag.
    "Die Jahre von Helmut Kohl, so habe ich das empfunden, waren nach den bewegten 60er und 70er Jahren, politischer Stillstand, absolute Bewegungslosigkeit - bis 1989, bis zur Wiedervereinigung. Und in meiner Generation habe ich eine gewisse Entpolitisierung festgestellt."
    "Das ist total wichtig, politische Kunst zu machen"
    Blumfeld haben es auf ihrem berühmten, romantischen "Old Nobody"-Album gecovert: "Kommst Du Mit In Den Alltag?", im Original auf Kassette 1987 erschienen - geschrieben von Michael Girke und Mijk Van Dijk, der später als Techno-Produzent in Berlin bekannt werden sollte. "Kommst Du Mit In Den Alltag?" ist nicht nur der bekannteste Song aus seiner Feder, er zeigt auch die Stärken von Michael Girke: Ihn beschäftigt Politisches und Privates gleichermaßen. Wenn er singt "Nieder mit den Umständen! Es lebe die Zärtlichkeit!", sprich: naiv das System mit Liebe bekämpfen will.
    "Ja, das ist total wichtig, politische Kunst zu machen. Aber ist nicht auch das Private wichtig? Die Liebe, die Gefühle. Wie schön es ist, wenn es das auch gibt, wenn es jemanden gibt, wenn man darüber sprechen kann und so weiter."
    "Ralph Siegel, wann stirbst du?"
    Michael Girke litt an der Provinz: an Herzschmerz und Kleinstadt-Langeweile. Das heißt, an zu wenig Kultur - vor allem zu wenig guter Musik.
    "Rio Reiser, wo bist du? Peter Hein, wo bist du? Hildegard Knef, wo bist du? Ralph Siegel, wann stirbst du?
    Singt Michael Girke in "Es war einmal in Deutschland". Heute ist Girke Kurator, Dozent und Autor für Film und Literatur. So, wie er damals textete, wird auch heute noch getextet im deutschsprachigen Indie-Pop.
    Die Geschichte muss nicht umgeschrieben werden
    Ein weiteres Beispiel für die nahezu zeitlosen Lyrics von Michael Girke: "Das Dorf Am Ende Der Welt" von Jetzt! wurde später von Bernadette La Hengst gecovert - auch sie war Teil des Fast-Weltweit-Labels in Bad Salzuflen, Ende der 80er, neben Frank Spilker und Thomas Wenzel - beide heute bei "Die Sterne". Auf dem zweiten Mixtape des DIY-Labels aus Nordrhein-Westfalen waren auch "Die Bienenjäger" dabei - die erste Gruppe von Jochen Distelmeyer, später Blumfeld.
    Wir kennen Schatz-Ausgrabungen verschollener Platten aus internationalen Genres wie Afro, Soul oder Reggae – aber dass es auch bei uns so eine Entdeckung gibt, ist schon selten. Die Geschichte der "Hamburger Schule" muss aber nicht umgeschrieben werden - sagt einer, der es wissen muss: der Blogger Motorhorst aus Bayreuth ist großer "Hamburger Schule"-Fan. Sein Ziel ist, ein Buch über Bad Salzuflen zu schreiben. Er hört die "Liebe In großen Städten" von Jetzt! gerade rauf und runter.
    "Es macht schon einen Unterschied, ob man die ganzen Jahre nur irgendwelche Schnipsel kannte oder sie jetzt am Stück hört, auch wenn es vielleicht nicht so gedacht war. Es ist halt wieder ein Puzzle-Teil, das gefehlt hat und nun endlich der Allgemeinheit zur Verfügung steht."