Otto Schily. Geboren am 20. Juli 1932 in Bochum, Rechtsanwalt und Bundesminister a.D. 1980 Gründungsmitglied der Partei Die Grünen. Mitglied des Bundestags für die Grünen von 1983 bis 1986 und von 1987 bis 1989. Im selben Jahr Übertritt zur SPD, ab 1990 SPD-MdB, von 1998 bis 2005 Bundesinnenminister. Zurzeit MdB. Otto Schily ist in zweiter Ehe verheiratet und hat zwei Kinder.
Otto Schily: "Ich weiß, dass meine Mutter immer nur von dem Verbrecher Hitler sprach."
Kindheit im Dritten Reich
Rainer Burchardt: Herr Schily, Jahrgang 1932, Sie sind in Bochum als Kind aufgewachsen, wie man so gerne sagt, großbürgerlicher Hintergrund, anthroposophische Familie. Wie war das damals, als Kind im Dritten Reich aufzuwachsen? Haben Sie eigentlich Einschneidungen von politischer Seite erlebt? Und wie ist der Nationalsozialismus in Ihrem Elternhaus angekommen?
Otto Schily: Also ich bin in der Tat am 20. Juli 1932 geboren, das ist ja der Tag es Preußenputsches, also ich sage mal, schlimmes historisches Ereignis verbindet sich mit für mich einem erfreulichem Ereignis, nämlich meiner Geburt. Man muss sich, wenn man in diese Zeit sich zurückversetzt, die Lebenswelt eines Kindes anders vorstellen als das heute der Fall ist. Also die Informationswelt, die heute schon auf Kinder und auf Jugendliche zukommt, die war damals nicht vorhanden. Und wir sind als Kinder da viel träumerischer aufgewachsen, haben viele Märchen gelesen, haben die Märchenwelt sozusagen auch ein bisschen in unserer Umgebung gesehen, auch so wie die Ferien gestaltet waren. Und in meinem Elternhaus war es so, dass auch die Erwachsenenwelt und die Kinderwelt doch noch ziemlich voneinander getrennt waren. Äußerlich zum Beispiel gab es einen Kindertisch, an dem gegessen wurde. Und da saß dann auch die Haushälterin, die Erwachsenen saßen; erst wenn man 14 war, durfte man dann am Erwachsenentisch sitzen. Ich glaube, das ist wichtig zu sagen, weil manche die Vorstellung haben, man sei sozusagen mit der politischen Welt viel stärker verbunden, das ist doch mehr äußerlich an mich herangekommen. Und zum ersten Mal bewusst war 1938, bei der Judenverfolgung, der sogenannten Kristallnacht, das sehe ich aber nur schemenhaft vor mir, wo mein Vater totenbleich nach Hause kam und davon berichtete und auch so einen, ja, so einen Brandgeruch in der Stadt.
Burchardt: Ihr Vater war Direktor einer Bochumer Berghütte.
Schily: Damals noch nicht, er war da Prokurist, das war noch eine relativ untergeordnete Stelle im Bochumer Verein für Gussstahlfabrikation. Verein klingt so ein bisschen komisch, weil das war eine Aktiengesellschaft, aber das stammt noch aus der Zeit, als man noch einen wirtschaftlichen Verein als Grundlage für ein solches Unternehmen, als Rechtsform eines solchen Unternehmens, benutzt hat. Dann kann ich erinnern, das war Anfang der 40er Jahre, da kam dann die Gestapo ins Haus und meine Eltern wurden dann zum Verhör abgeholt und wurden unsere ganzen Bücher ausgeräumt. Und sonst war dieses ganze Thema, ja, wir hören das sozusagen immer nur so indirekt. Ich weiß, dass meine Mutter immer nur von dem Verbrecher Hitler sprach, aber auf der anderen Seite auch immer die Sorge war, das könnte irgendwann ein Dienstmädchen ausplaudern. Es gab schon mal, ich weiß auch, wir hatten mal in, später sind wir dann nach Partenkirchen gegangen, in das Haus meines Großvaters.
Burchardt: War das Kinderschutz?
Schily: Nein, das war sozusagen, um von den Bombennächten…
Burchardt: Ja, das meine ich.
Schily: …ich kann mich noch erinnern, dass da schon die ersten Bomben kamen und wir in den Luftschutzkeller mussten immer nachts, und das war da in Partenkirchen sicherer. Und in Partenkirchen hatten wir dann eine Hausgehilfin, die war total vernarrt in den Hitler. Die kriegte auch immer so Anfälle, sie hat irgendwann mal den Hitler bei irgendeinem Umzug gesehen und wenn sie da sich so erinnerte, dann kriegte sie so einen kleinen psychischen Anfall. Und bei so einer Hausgehilfin musst du natürlich immer auf der Hut sein, dass sie nicht denunziert. Das ist so, und ich kann mich erinnern, dass mein ältester Bruder, das war der Peter, der ist ja nicht mehr am Leben, der später ja Arzt geworden ist, der wollte nicht zur HJ und ist dann aus dem Elternhaus - das war ja zwangsweise, er musste in die Hitlerjugend eintreten - dann ist er vom Elternhaus abgehauen und wollte in die Schweiz.
Burchardt: Ist man an Sie auch noch herangetreten?
Schily: Ich war, wie hieß denn das, das war so eine Vorform…
Burchardt: Sie waren sehr jung damals.
Schily: …der Hitlerjugend, da musste ich auch da mitmachen. Das fand ich zum Teil sogar ganz schön, weil die machten da so…
Burchardt: So Pfadfinder.
Schily: …ja, so Geländespiele, das war mehr so Pfadfinderei. Und wir sollten dann auch auf den Führer vereidigt werden, aber meine Mutter hat das verhindert. Die hat immer gesagt, nein, mein Sohn ist krank.
Schily: "Eigentlich wollte ich mehr der Musik mich zuwenden."
Bildungsbürger und Anthroposoph
Burchardt: Herr Schily, Sie kommen, man würde heute sagen, aus einem Familienhaushalt mit anthroposophischem Hintergrund, und Ihr Vater war Unternehmer. Was zum Teufel hat Sie eigentlich in die Juristerei vertrieben?
Schily: Ja, also Elternhaus, Sie haben gesagt, großbürgerliches Haus, ich würde eher sagen, ein Bildungsbürgerhaus. Wir waren gar nicht so mit den Glücksgütern gesegnet, gut, später war mein Vater dann Vorstandsmitglied beim, und später Präsident des Gießereiverbandes, da ging es ihm ganz gut, aber mit fünf Kindern hat man einiges zu tun, selbst mit einem guten Gehalt. Und während der Kriegszeit ging es uns ganz jämmerlich, ich beklage mich nicht, weil andere viel Schlimmeres erlebt haben, aber ich werde nie vergessen, dass wir richtig gehungert haben, und ich habe heute noch die Narben von den Hungerödemen. Und es ist eine gute Erfahrung, ich bin dem Schicksal dankbar, dass ich die Erfahrung hatte, damit man weiß zu schätzen, was es bedeutet, dass man ausreichend zu Essen hat und Kleidung hat. Aber was ich meinen Eltern verdanke, und dafür bin ich wirklich von Herzen dankbar, ist eben die Vermittlung von Bildung. Wir haben zu Hause Dickens gelesen und mein Vater sprach sehr viele Sprachen und aber auch die Verbindung mit der Anthroposophie hat, glaube ich, mein Lebenswerk sehr stark bedingt, weil man eben ganz anderen Zugang auch zum Menschen bekommt. Was heißt denn Anthroposophie, heißt "Wissenschaft vom Menschen" und versucht, einen wissenschaftlichen Zugang zur geistigen Qualität des Menschen zu gewinnen. Das war sehr umstritten, und natürlich hat man als Kind manchmal auch darunter gelitten, weil die Anthroposophie ja doch eine Weile sehr verteufelt wurde, auch nach dem Krieg, bekämpft wurde als Sektiererei und Ähnlichem, das reicht ja bis heute, dass einige das in der Weise bekämpfen. Man kann das ja auch einige Dinge kritisch sehen, das ist ja völlig erlaubt. Das hat der Begründer der Anthroposophie selber gesagt, wir verkünden hier keine ewigen Wahrheiten, sondern versuchen, einen Weg aufzuzeigen, sich dem zu nähern. Aber wenn man heute mal die Ergebnisse der Anthroposophie sieht, in der Medizin, in der Landwirtschaft, in vielen anderen Dingen, dann muss ich sagen: In der Bibel heißt es, an den Früchten sollt ihr sie erkennen, da kann ich nur sagen, das ist sehr positiv! Heute geht jeder ganz selbstverständlich in einen Bioladen und kauft Demeterprodukte.
Burchardt: War das, wenn wir so einen kleinen Sprung machen schon mal, für Sie so eine Vorprägung, dann zu den Grünen politisch zu gehen?
Schily: Ja, das sage ich, ja, natürlich. Ich habe gesagt, in den Grünen sind zwei Strömungen zusammengekommen, die radikaldemokratische Strömung, die man vielleicht so symbolisch verorten kann mit 1848, der Revolution hier in Deutschland, und die ökologische Strömung, die kommt von weither,kommt aus der Romantik, einem anderen Naturverständnis, Schelling, und reicht auch über die Anthroposophie, also die biologisch-dynamische Landwirtschaft, bis hin dann in die Gegenwart, da kam auch einiges aus Amerika. Ich kann mich erinnern, dass wir damals sehr intensiv dieses Buch gelesen haben "The Silent Spring", der stumme Frühling, als das erste Mal auch aus Amerika berichtet wurde über die schädlichen Entwicklungen einer Überchemisierung der Landwirtschaft, also, das ist ein Thema. Und ich kann mich dann - wenn wir da jetzt mal einen Sprung machen dann in die spätere Zeit der außenparlamentarischen Opposition, da würde ich diese Fragen hier ein bisschen als abseitig -
Burchardt: Wir kommen da garantiert noch drauf, ich würde doch noch ganz gern diese Frage noch mal wiederholen. Was hat Sie in die Juristerei dann gebracht?
Schily: Eigentlich wollte ich ja mehr der Musik mich zuwenden, aber ich habe dann in nüchterner Einschätzung meines Talents gesagt, das reicht nicht. Ich bin nach wie vor mit der Musik sehr verbunden. Und dann habe ich das Jurastudium gewählt aus zweierlei Gründen. Einmal schon wegen einer gewissen Politisierung während meiner Schulzeit, ich habe mich dann für Heinemann begeistert, für Dehler und solche Leute, für Adolf Arndt, und habe diese Diskussionen sehr, sehr lebhaft und intensiv mitverfolgt, und Jura schien mir da durchaus eine Möglichkeit zu sein. Aber Jura auch eigentlich in dem Sinne der Nichtfestlegung vorher.
Burchardt: Wollte ich gerade sagen, Dehler, Heinemann, Arndt, das waren ja in der damaligen Zeit eher Nonkonformisten, die waren ja alle in anderen Parteien, die waren ja durchaus auch nicht etwa bei der Sozialdemokratie, oder die waren zumindest vom Geist her nicht so festgelegt.
Schily: Nein, nein, Heinemann war in der Gesamtdeutschen Volkspartei, Dehler war bei der FDP, ich hatte am Anfang sehr starke Neigungen zu den freien Demokraten, aber später eben diese Gestalten wie Heinemann und andere, die da auftraten, die haben mich schon sehr beeindruckt. Die ganz großen Debatten, Ollenhauer hat mich dann nicht beeindruckt, da hat mich Adenauer mehr beeindruckt. Aber wir waren, ich war so aus meinem jugendlichen Temperament natürlich gegen die restaurative Tendenz von Adenauer eingestellt.
Schily: "Ich war ja ein Suchender."
Politischer Jurist und Nonkonformist
Burchardt: Sie sind dann '58 nach Berlin gegangen.
Schily: Nein, schon früher, schon früher.
Burchardt: Ja? Aber es war so exakt…
Schily: Also schon in den 50er Jahren.
Burchardt: …die Sachen, wo Berlin nun wirklich der politische Brennpunkt war, war das für Sie auch eine ganz bewusste Entscheidung zu sagen, da, wo es jetzt wirklich knallt oder knallen könnte, da will ich hin, da will ich dabei sein?
Schily: Ja, das war sicher eine ganz bewusste Entscheidung. Ich bin ja - aber die Politisierung fängt schon ein bisschen früher an. Ich hab studiert in München. Auch da gab es schon so ein bisschen Kontakt auch mal zum SDS, dem damaligen SDS, übrigens da der Klaus Arndt damals der Vorsitzende vom Allgemeinen Studentenausschuss war in München, aber noch sehr sachte. Und dann bin ich nach Hamburg gegangen, und dort habe ich dann im Verlauf meines Studiums, Jurastudiums, bin ich auch gewechselt in das Europa-Kolleg, das war sehr gut, weil da, das Europa-Kolleg war ein Studentenwohnheim, aber mit eigenem Programm, auch europapolitischem Programm. Und dann bin ich mit vielen Europäern zusammengekommen. Wir haben auch die europäischen Institutionen damals besucht. Wir waren in Luxemburg, damals noch bei der Montanunion, Sie werden sich noch an Etzel erinnern. Und das hat mich sehr stark geprägt. Na, das fing dann aber auch, dann habe ich Uwe Wesel kennengelernt.
Burchardt: Der spätere Vizepräsident der FU.
Schily: Der spätere Vizepräsident der Universität, der damals noch erst anfing, Latein zu studieren, dann übergewechselt ist zu Jura. Ja, das waren dann auch die Ereignisse 1956. Da war ich noch in Hamburg, da haben wir dann noch damals demonstriert gegen die Besetzung Ungarns durch die Russen. Aber gleichzeitig demonstriert auch gegen die Aktion von Großbritannien am Suezkanal.
Burchardt: Das war ja auch die Zeit der Wiederbewaffnung. Hat das für Sie eine Rolle gespielt?
Schily: Ja, auch das spielte eine Rolle. Wir waren natürlich gegen die Wiederbewaffnung.
Burchardt: NATO-Eintritt?
Schily: NATO-Eintritt war da nicht so das Thema, aber die Wiederbewaffnung war für uns doch ein schwieriges Thema. Da habe ich natürlich meine Position später wieder überdacht und verändert.
Burchardt: Hat es denn für Sie persönlich bedeutet zu sagen, ich schwimme nicht mit dem Strom. Ich will schon etwas wacher sein, und ich will jetzt, was gesellschaftliche Moderne angeht, möchte ich gegenhalten?
Schily: Ja, ich war noch ein Suchender. Ich war ja ein Suchender, war da nicht festgelegt, wohin ich gehen wollte. Aber jedenfalls mit der restaurativen Tendenz, das war nun klare Gegenposition zur restaurativen Tendenz, und das müssen Sie…
Burchardt: Was war der SDS?
Schily: Der SDS kam dann später, das war erst mit Berlin. Ich bin bewusst nach, Sie haben mich gefragt, ich bin bewusst nach Berlin gegangen, weil es eine faszinierende Stadt war, und ich habe ja noch die Zeit in Berlin miterlebt vor der Mauer. Ich kenne noch die Zeit vor der Mauer. Das war auch schon eine spannende Stadt zu der Zeit.
Burchardt: Sie waren zwei Jahre später Zeuge, als J. F. Kennedy auf dem Rathaus, am Schöneberger Rathaus, stand. Wie haben Sie das selbst empfunden, denn Amerikanismus kippte danach ja ziemlich.
Schily: War das zwei Jahre später?
Burchardt: '63, ja.
Schily: '63, ja. Der Mauerbau war schrecklich. Wir waren ja so was von wütend. Wir sind mit dem Auto immer da lang gefahren, zum Teil haben wir noch gesehen, wie den Leuten über die Mauer geholfen wurde da in Wedding und haben da auch versucht, noch zu helfen. Und das war natürlich vollkommener Blödsinn, nicht wahr? Wir haben wie die Verrückten gehupt auf unserem Auto. Wahrscheinlich dachten wir, wie die Mauern von Jericho könnten wir die zum Einsturz bringen. Das hat natürlich alles nichts genutzt. Ja, und es war schon da das Gefühl, also jetzt werden wir sehr bedrängt. Wir werden eingeschlossen, und sie sitzen hier. Und Kennedy war da wirklich eine Gestalt, die uns dann, und nun hatte ich eine positive Vormeinung von den Kennedybrüdern, die in Algerien erstmals da auch versucht haben, diesen Algerienkonflikt positiv zu wenden, und wir haben dem zugejubelt. Ich bin dann an so einer Laterne hoch. Und wie der dann da sagte: "Ich bin ein Berliner", da waren natürlich alle aus dem Häuschen.
Schily: "Der Vietnamkrieg war natürlich ein Fehler."
USA und Brennpunkt Berlin
Burchardt: Kennedy, nachträglich ist das doch sehr offensichtlich geworden, hatte auch seinen Anteil am Vietnamkrieg. Und Vietnamkrieg war dann nachher das große, beherrschende Thema der 60er Jahre…
Schily: Ja.
Burchardt: ...und auch so ein Stück, wenn man so will, Geburtshilfe für die Außerparlamentarische Opposition.
Schily: Sicher.
Burchardt: Und für Sie war das natürlich auch sicherlich ein Anlass, sich da noch mehr zu engagieren?
Schily: Ja, und zwar das ist ein Prozess der Enttäuschung. Ich muss Ihnen dazu sagen, ich bin ein Freund Amerikas bis heute. Und nach dem Zweiten Weltkrieg war ich in einer besonderen Weise auf Amerika eingestimmt. Das hing auch damit zusammen, dass die Ersten, mit denen ich da in Kontakt kam, von der neuen Besatzungsmacht, waren die Amerikaner in Bayern. Für uns waren eigentlich die Amerikaner das Idol, wir dachten, das ist die Richtige. Mein Vater ging sogar soweit zu sagen, wir sind ja politisch, kulturell, wirtschaftlich so pleite, am besten wäre es, wir würden von uns als, ich weiß gar nicht, wir wären der 50. oder 52. …
Burchardt: Damals 50.
Schily: ... der 50. Staat Amerikas einverleiben, dann wären wir am besten aufgehoben. Soweit ist mein Vater gegangen. Die Amerikaner kamen dann auch so an. Wir haben dann viele Kontakte auch nach Amerika gehabt und die Quäkerspeisung, all das habe ich nicht vergessen, wie die Amerikaner sich verhalten haben. Die haben uns als Erste die Hand gereicht. Die haben uns auch buchstäblich am Leben erhalten. Und das schlug dann um mit einigen Ereignissen, die wir dann eben, dazu gehörte Persien, Iran, dazu gehörte eben auch Vietnam. Ich habe immer gesagt, es ist aber auch keine Kritik an Amerika als solches oder am amerikanischen Volk, sondern an einer bestimmten amerikanischen Politik. Und man muss auch sagen, die Kritik, und das ist ja ein großer Verdienst der Amerikaner, dass die Kritik ja in dem eigenen Land auch entstanden ist. Es ist ja nicht so, dass die Amerikaner das so schweigend hingenommen hätten. Und das ist eben auch - ich finde das Positive an der amerikanischen Demokratie, dass wenn solche, und der Vietnamkrieg war natürlich ein Fehler, weil die Amerikaner sind meiner Meinung nach in einen Kolonialkrieg der Franzosen eingestiegen. Die Franzosen waren besiegt, die berühmte Schlacht bei Dien Bien Phu mit Castris. Die Amerikaner sind da eingestiegen und haben da eine schwere Niederlage erlitten.
Schily: "Politisch ist die Außerparlamentarische Opposition total gescheitert."
Die Außerparlamentarische Opposition
Burchardt: Wie sehen Sie denn in der Nachbetrachtung eigentlich tatsächlich die Legitimation der APO, auch der 68er? Es wird ja eigentlich immer mehr gesagt, das war der unter den Talaren der Muff von 1.000 Jahren. Es war mehr innenpolitisch. Es war die Restauration der Adenauerzeit, sollte überwunden werden. Sie heben jetzt mehr ab auf Vietnam, auf Algerien und dergleichen. Sind es eher die außenpolitischen oder die innenpolitischen Dinge?
Schily: Nein, es sind zwei Komponenten am stärksten, die diese Bewegung in eine gewisse Dynamik hineingetragen haben. Das war die Kritik an der mangelnden Verarbeitung der Nazi-Zeit, die ganzen Fälle Globke, Vialon und so weiter, Rehse-Urteil, dieses Einrücken der alten Nazis in hohe Ämter, im Militär, in der Polizei, in anderen Staatsämtern, in der Wirtschaft und auch außenpolitisch, die sich dann da manifestierte in etwa Freiheitsglocken nach Vietnam, dass in Vietnam die Freiheit verteidigt wird. Aber politisch ist die Außerparlamentarische Opposition total gescheitert, weil sie sich dann in Sektiererei begeben hat oder hat dann diese Maskeraden aufgelegt von verschiedenen kommunistischen Systemen bis hin zu…
Burchardt: War das unvermeidlich?
Schily: …nein, das war natürlich nicht unvermeidlich. Aber das war eben so diese Entlehnung. Man hat sich dann im Kostümverleih bedient. Christian Semmler mimte dann Ernst Thälmann in dieser KPD/A0, das war dann diese maoistische Gruppierung, bis hin eben in den Terrorismus. Man muss sagen, politisch ist die Außerparlamentarische Opposition total gescheitert. Aber sie hat ein großes Verdienst. Und das hat ja Karl Heinz Bohrer mal in einem sehr guten Artikel im "Merkur" richtig beschrieben. Er sagte, diese Außerparlamentarische Opposition hat eine kulturelle Umwälzung vollzogen. Und das ist ihr großes Verdienst. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen, wie vorher wie verkrampft und verkrustet unsere Gesellschaft war. Über Sexualität durfte überhaupt nicht diskutiert werden. Ich meine, dass die Außerparlamentarische Opposition das alles wieder übertrieben hat mit einer Art von Exhibitionismus…
Burchardt: Kommune Eins oder sowas.
Schily: ... in den Kommunen, das ist ja eine andere Sache. Aber jedenfalls der berühmte Satz, der ja selbst dann die konservativsten Juristen irgendwann imponiert hat von Fritz Teufel, wie er dann aufstehen sollte, und dann dieser berühmte Satz "Wenn es der Wahrheitsfindung dient", das hat natürlich mal zur Auflockerung gedient. Oder wenn Rainer Langhans dann gesagt hat, er soll seine Personalien angeben, dann sagt er, ich stelle mich gerne vor, aber vielleicht sind Sie auch so nett und sagen als Richter hier mal Ihren Namen, mit denen ich es zu tun habe. Das sind ja so Dinge.
Schily: "Zeitweise wurde man als der Terroristenverteidiger."
Nebenkläger und Verteidiger
Burchardt: Sie gelten ja als ein Mann der Staatsraison, und Sie sind damals als Verteidiger zunächst im Mahler-Prozess aufgetreten und dann eben auch als Verteidiger für Gudrun Ensslin. Beides ja Leute, die teilweise, Mahler, zwar nicht Terrorist, aber zumindest der RAF nahegelegt wurde, und zum anderen Ensslin, na ja, da wissen wir Bescheid. Was hat Sie damals motiviert, dafür einzutreten? Es war ja dann, wenn man so will, gegen den Staat?
Schily: Nein, nein. Das muss man ja auch in der historischen Abfolge sehen. Erst mal war ich fünf Jahre in einer Wirtschaftskanzlei und habe nur Wirtschaftsrecht gemacht, Urheberrechte und so weiter. Dann habe ich mal in einem Erbschaftsstreit Horst Mahler kennengelernt, da damals so mit der großen Werbe auftrat, war damals schon eine Person des öffentlichen Interesses. Journalisten tigerten hinter ihm her, und er kam in den Gerichtssaal, wo ist die Wanze, die ich zertreten kann. Die Wanze war ich, erwies sich aber als sehr widerstandsfähig, ich gewann den Prozess nämlich. Und da, wie das immer so ist, dachte er, aha, das ist doch ein ernst zu nehmender Gegner. Und dann sind wir bekannt geworden auch über hier aus der künstlerischen Zeit und dann auch über den republikanischen Club, den ich schon erwähnt habe. Dann kam diese berühmte Geschichte mit Benno Ohnesorg, 2. Juni 1967, Schah-Demonstration und dann der Tod von Benno Ohnesorg. Und dort hat mich dann Mahler gebeten oder angeboten, ich könnte die Nebenklage übernehmen, also für den Vater von Benno Ohnesorg. So, das war mein erster politischer Prozess, den ich je gemacht habe. Vorher habe ich Zivilrecht gemacht. Und da war ich nun nicht Verteidiger, sondern da war ich Ankläger.
Burchardt: Wobei der Polizist Kurras freigesprochen wurde.
Schily: Na ja, gut das waren noch, wir müssen in die Einzelheiten jetzt nicht einsteigen.
Burchardt: Ja klar.
Schily: Ich habe immerhin, ich kann mich auch erinnern, ich war dann der Einzige, der seine Revision gewonnen hat. Wir haben vier Rezessionsverfahren, Staatsanwaltschaft, Mahler, noch zwei andere Anwälte und ich, nein, ich war die vierte, zwei Anwälte, die Staatsanwaltschaft und ich. Und nur meine Revision ging durch, war ich natürlich sehr stolz darauf.
Burchardt: Es gab ja in der damaligen Zeit auch eine Szene in der Juristerei, die hieß, so mal salopp formuliert, die Linksanwälte. Dazu gehörten die Namen wie Croissant, wie Groenewold, Schily und so weiter. Ist das auch für Sie mit eine Motivation gewesen zu sagen, Mensch, wir haben in der Juristerei jetzt aber auch Kollegen, die sind kritisch gegenüber dieser Entwicklung, die wir hier erleben?
Schily: Nein, nein, das waren wir nicht. Ich war auch nie Mitglied des Anwaltskollektivs. Das ist auch so eine Legende, die sich über die Zeiten gehalten hat. Ich bin in eine Gruppierung zunächst mal reingegangen, die hat sich nachher tot gelaufen, die nannte sich republikanischer Anwaltsverein, hat mit den heutigen Republikanern nichts zu tun. Da war damals ein Hannoveraner Anwalt an der Spitze, den hatte ich kennengelernt über die Humanistische Union. Und wir haben gesagt, wir müssen uns ein bisschen auch das unabhängige Organ der Rechtspflege stärker natürlich sozusagen profilieren. Insofern haben Sie schon ganz recht. Aber ich würde das jetzt ungern in diese Linie ziehen, die Sie jetzt ansprechen mit Croissant…
Burchardt: War umstritten?
Schily: …zunächst mal war das ein ganz sympathischer Kollege, das kann ich gar nicht anders sagen. Er machte auf mich einen sehr sympathischen Eindruck. Der kam ja, war eher bürgerlicher Anwalt, der in Scheidungsverfahren und in Stuttgart sehr angesehen war. Was mich nachträglich an Herrn Croissant sehr stört, ist, dass später rausgekommen ist, dass er mit der Stasi zusammengearbeitet haben soll. Das macht die Sache natürlich schon sehr düster. Insofern lasse ich mich ungern mit ihm in einem Topf rühren. Das werden Sie verstehen.
Burchardt: Ja. Sie haben vorhin gesagt zum Thema Terrorismus, das rutschte dann eben da ab, war irgendwie dann natürlich auch mit das Ende der Außerparlamentarischen Opposition. Es gab in der damaligen Zeit ja die sogenannten Sympathisanten, die sich dann gesellschaftlich ja irgendwo etablierten. Heinrich Böll hat, glaube ich, mal irgendwann damals gesagt, was wird man dann machen, wenn Ulrike Meinhof an der Tür steht und sagt, ich brauche Unterkunft. Wie ist das aus Ihrem Erleben damals gewesen? War das eine diffamierende Aktion des Staates gegen, ich will mal sagen, ganz normale Bürger? Jeder, der in irgendeiner Form diese Namen in den Mund nahm, galt ja schon als Sympathisant.
Schily: Ja, das ist eine sehr, sehr schwierige Frage. Das muss man auch vielleicht kritisch und zum Teil vielleicht auch selbstkritisch sehen. Es gab Umfragen, wenn ich mich recht erinnere, die hat man wohl eher intern gemacht, dass, so in der Anfangsphase der Baader-Meinhof-Gruppe, es tatsächlich so eine Sympathisantenszene gab, die man vielleicht so wie der Heinrich Böll, wie Sie es gerade zitiert haben, charakterisieren kann. Ich glaube, dass das aber, als die ersten schlimmen Vorfälle, wo Menschen ums Leben kamen, dass das völlig gekippt ist. Und insofern hat sich das dann verwandelt. Und natürlich ist der Vorgang als solcher schon auch eine, es ist ja sehr viel jetzt darüber gesprochen worden zum Teil, vielleicht auch zu viel über die sogenannte bleierne Zeit. Für mich ist die Frage, die mich beschäftigt hat damals und auch natürlich irgendwie bis heute, wie kommt zum Beispiel so ein Mann wie der Holger Mainz, der ein ausgesprochener Pazifist war, überzeugter Pazifist, dazu, sich dann einer Gruppe zuzugesellen, die meinte, sie müsste den bewaffneten Kampf gegen die Gesellschaft führen. Oder eine Gudrun Ensslin, die ursprünglich mal in der Wählerinitiative Willy Brandt gearbeitet hat.
Burchardt: Und aus Pastorenhaushalt kommt.
Schily: Und einem Pastorenhaushalt kommt, wie sagt man, einem pietistischen Pastorenhaushalt, ein sehr beachtlicher Mann, Herr Pfarrer Ensslin. Das ist eine Frage, mit der man sich auseinandersetzen muss. Und das wurde dann auch schwierig. Weil immer, wenn man gesagt hat, wir müssen doch auch versuchen, auch in einem Prozess, zu verstehen, was da passiert ist, warum das passiert ist, dass das immer schon als Rechtfertigung gesehen wird. Und das ist eine andere Frage. Oder dass die Verteidigung von Personen gleichgesetzt wurde mit Verteidigung von Straftaten. Das ist ja nicht. Das ist ja auch das Etikett, was mir dann bis heute, es hat sich ein bisschen jetzt verflüchtigt, aber zeitweise wurde man als der Terroristenverteidiger, da ist ja eigentlich alles schon festgelegt.
Burchardt: Und in denselben Sack gesteckt.
Schily: Ja, man ist sozusagen Terrorismusverteidiger. Wenn einer den Grafen Lambsdorff verteidigt hat, der angeklagt war wegen irgendwelcher Korruptionsdelikte, dann ist das kein Korruptionsverteidiger.
Schily: "Ich bin ja politisch ein Spätentwickler."
Der Weg ins Parlament
Burchardt: Herr Schily, wir müssen mal ein bisschen zur Politik jetzt kommen, das heißt zur unmittelbaren, zu Ihrem politischen Engagement. Wir hatten ja vorhin ja schon kurz angesprochen die Grünen. Ende der 70er Jahre ergab sich dann ja aus der bleiernen Zeit, vielleicht auch gerade nach '77, Schleyer-Entführung und folgende, ergab sich dann so etwas, dass man sagte, außerparlamentarisch reicht nicht, wir müssen in die Parlamente. Die Grünen etablierten sich und gründeten sich. Sie gelten als Mitgründer der Grünen. 1980 und 1983, schwupp, waren sie auch im Bundestag. War für Sie dieser Weg in die Politik dann eine innere Logik nach all diesen Erlebnissen, die Sie selbst ja nun sehr unmittelbar gehabt haben?
Schily: Ich hatte immer eine Neigung, in die Politik zu gehen. Ich habe mich manchmal da in die Nähe begeben, dann wieder entfernt. Ich bin ja nun sehr lange schon in Berlin zu Hause. Und es gab aber immer mal so Gespräche mit der damaligen Sozialdemokratischen Partei mit dem damaligen regierenden Bürgermeister Stobbe. Da hat mir auch mal so ein rosa Formular gegeben, mit dem ich dann meinen Beitrag…
Burchardt: Das haben Sie aber erst später ausgefüllt?
Schily: …das habe ich nicht ausgefüllt, damals. Das hing damit zusammen, dass mich damals die Sozialdemokratie, das war alles der sogenannte Kreisel-Skandal und so, das gefiel mir alles nicht so richtig. Und dann kamen Petra Kelly, Milan Horáèek und solche Leute, die eben was anderes im Sinn hatten und erst mal so eine Liste gegründet, das war noch ein ganz loser Zusammenhang, noch gar keine richtige Partei, und die das Thema Ökologie und Radikaldemokratie mit auch, sagen wir einer sehr, sehr offensiven Friedenspolitik verbunden. Das hat mir gut gefallen. Das passte sozusagen in meine Biografie rein. Ich bin ja politisch ein Spätentwickler. Wie alt war ich da, also '68, kann man ja ausrechnen.
Burchardt: Bis 1980, '83.
Schily: '83, '80 ja, bitte.
Burchardt: Da waren sie 48 Jahre alt.
Schily: Ja, ja, schon ein Spätentwickler. Und das habe ich dann sehr bewusst mitgemacht. Ich war ja auch mit einer der Begründer der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz. Bin dann wieder ausgetreten, weil dann die Maoisten reinkamen. So, das ging so hin und her. Und diese Geburtswehen der Grünen waren ja nun auch nicht von Pappe. Da drängten dann die AOD-Leute rein, die waren schon so leicht mehr nach rechtsextrem.
Burchardt: Herbert Gruhl.
Schily: Herbert Gruhl. Gut, das war ein anständiger Mann, aber dann doch auch eher ultrakonservativ. Aber schlimmer war eben Hausleiter. Ich hab da einen ziemlichen Kampf geführt, dass dieser Hausleiter da nicht das Sagen bekam. Und in dieser schwierigen noch Laborphase, da habe ich eigentlich ein ganz guten Zugang auch zu den Grünen gewonnen. Ich kann mich noch erinnern, unser erste Wahl war ja dann schon gleich 1980, glaube ich, und dann kläglich abgeschnitten. Ich kann mich deshalb gut erinnern, weil kein Mensch wollte sich da vor die Kameras stellen. Ich bin aber vor die Kameras gegangen und habe gesagt, es ist ein großer Erfolg. Weil das erste Mal hatten wir ein Wahlergebnis, mit dem wir eine Wahlkampfkostenerstattung bekamen, und damit also einen gewissen Anfang gesetzt hatten, um nach vorne zu kommen. Ja, und dann ging das in den Ländern weiter und '83 war dann das erste Mal, dass wir in den Bundestag einzogen.
Burchardt: Wobei ich erinnere, aus der damaligen Zeit ja gerade in Bonn ja auch viele Diskussionen, auch endlose Nachtdiskussionen in der "Tulpe" damals, wie das Gebäude da hieß, in der Fraktion, und es spalteten sich die Grünen relativ schnell auf in Fundamentalisten auf der einen Seite, ich sag jetzt Petra Kelly, und Realos, Otto Schily, Joschka Fischer, auf der anderen Seite, wenn das in etwa so grob geschnitten dargestellt werden kann. Und man sagt ja auch, Sie hätten dann die Grünen verlassen, weil sie dann auch ein Opfer der Rotation wurden. Ist das für Sie damals zu fundamentalistisch gewesen, was die Grünen wollten?
Schily: Mit Petra Kelly habe ich mich eigentlich gut verstanden, obwohl wir auch unsere Konflikte hatten. Ich versuch mir ja manchmal vorzustellen, wie Petra Kelly heute eigentlich sich in der politischen Szene ausnehmen würde. Ich glaube immer noch, dass sie eine beachtliche Figur wäre. Mein tiefgehender Konflikt in den Grünen entstand nicht so sehr mit Petra Kelly, sondern mit Frau Ditfurth und Herrn Ebermann. In der Phase war es dann eigentlich auch so, wo immer mein Name drunter stand, hatte schon von vornherein keine Chance, eine Mehrheit auf einem grünen Parteitag zu bekommen. Es spielte sicherlich auch eine Rolle, dass die Grünen mir eigentlich gar keine Perspektive mehr geboten haben, weil so eine Rotation und du hast deine Pflicht und Schuldigkeit da getan. Die Grünen haben sich ja doch unter großen Mühen erst mal dieser ganzen Verrücktheiten entledigt, Rotation. Am Anfang sollte ja nach zwei Jahren rotiert werden, ein absoluter Blödsinn. Bis hin, dass man früher keine Fotos auf den Plakaten, das, was dann später mit Joschka Fischer möglich wurde, das war da nicht möglich. Und deshalb bin ich '89, natürlich auch ein bisschen gesagt, ich bin ja nicht der Allerjüngste, man muss auch sehen, dass ich mich da engagiere. Und die SPD hat ja nun auch eine Entwicklung vollzogen. Ich hab damals, das war ein bisschen, bisschen hochtrabend, was ich da gesagt habe. Eigentlich hat sich die SPD meinen Positionen stärker angenähert als ich den Positionen der SPD, aber ein bisschen Körnchen Wahrheit ist da dran.
Burchardt: Man findet eine Szene, es gab ja damals diese Szeneprovinzen, Szenelokal, direkt am Kanzleramt in Bonn und wo ja dann schon so etwas wie Rot-Grün immer mal am gemeinsamen Tresen gesessen hat. Es wird immer gesagt, Sie und Gerhard Schröder hätten seinerzeit schon mal auf einem Bierdeckel eine gemeinsame Kabinettsliste ausgearbeitet. War das so?
Schily: Es gab mal so was, ja.
Schily: "Ich habe alle Rollen durchgemacht."
Im Namen der SPD
Burchardt: Sie sind dann '89 zu den Sozialdemokraten gegangen. Das kam zusammen mit dem Fall der Mauer.
Schily: Richtig.
Burchardt: Und zwei Jahre später waren Sie dann auch der Vorsitzende, oder drei Jahre später, des Treuhanduntersuchungsausschusses. Sie sind ja eigentlich ständiger Gast in Untersuchungsausschüssen. Wir müssen auch über den Flick-Ausschuss vielleicht auch noch kurz sprechen.
Schily: Ich habe alle Rollen in Untersuchungsausschüssen wahrnehmen dürfen, einmal als, wenn man so will, Ankläger im Flick-Untersuchungssausschuss.
Burchardt: Haben Sie sich ein bisschen als Staatsanwalt gefühlt in den Ausschüssen?
Schily: Da war ich der Ankläger, gar keine Frage. Und ich musste auch aufpassen, dass ich nicht, Peter Struck versuchte damals eine Umarmungstrategie.
Burchardt: Bei Flick?
Schily: Ja, ja, verständlicherweise, war von ihm ja richtig. Da habe ich auch gesagt, nein, Peter, ich muss hier die eigenständige Rolle der Grünen dabei wahren. Aber ich habe gut verstanden mit Peter Struck damals auch, mit dem ich gut befreundet bin.
Burchardt: Ich sehe Sie da noch sitzen im 19. Stock des Langen Eugen und hinter sich etwa 200 Akten und jemand, der ständig Ihnen die Akten gereicht hat. Und es verfolgt Sie eigentlich, wenn ich auch den Visa-Ausschuss nehme, wo Sie ein fünfstündiges Referat gehalten hatten, um es mal so zu formulieren. Sie galten immer als unglaublich vorbereitet. Und jeder, der es mit Ihnen zu tun hatte, der konnte eigentlich schon morgens sich sagen, oh, heute gibt es Haue?
Schily: Na gut, ich habe alle Rollen durchgemacht, wie gesagt der Ankläger, das war Flick. Dann kam der Treuhanduntersuchungsausschuss und war der Vorsitzende. Und dann bin ich froh, dass heute noch Leute zu mir kommen wie zum Beispiel der Bundespräsident Köhler, die sagen, ich sei als Vorsitzender sehr fair gewesen. Bin ich stolz drauf. Natürlich auch ein scharfer Frager, befürchteter Frager, aber ein fairer Vorsitzender.
Burchardt: Aber bei all diesen Ausschüssen ist letztlich nichts…
Schily: So, und dann bin ich der Zeuge. Da war ich Zeuge, das ist vielleicht mein denkwürdigster Auftritt, weil das eine psychische und physische Leistung schon war. Man saß da ja vor diesem Ausschuss, sie sind da ganz allein, die Kamera ist auf sie gerichtet, hinter Ihnen sind die Journalisten und haben dann gerade ein paar Akten, und dann müssen Sie da Rede und Antwort stehen. Das ist mir, glaube ich, ganz gut gelungen.
Burchardt: Trotz alledem, sind Sie nicht auch ein bisschen frustriert in der Nachbetrachtung? Flick-Untersuchungsausschuss irgendwie auch abgebrochen worden, Sie haben sich selbst immer auf eine zweite Vernehmung mit Franz Josef Strauß gefreut, der sich ja Ihnen gegenüber auch, wie er sagte, den schnarrenden Casino-Ton verbitten wollte. Das kam nicht mehr zustande, weil das abgebrochen wurde, beim Treuhandausschuss auch im Sande verlaufen, beim Visa-Ausschuss eigentlich auch. Sind diese Ausschüsse eigentlich für die Katz? Sind das dann tatsächlich nur politische Instrumente?
Schily: Nein. Ich bin der Überzeugung, dass wir Untersuchungsausschüsse brauchen. Das ist ein wichtiges parlamentarisches Instrument und sehr, sehr wichtig, dass es das gibt, und das dürfen wir auch nicht einschränken. Aber natürlich haben sie begrenzte Wirkung. Sie werden auch häufig missbraucht, um irgendeine bestimmte politische Botschaft in die Welt zu setzen. Aber alle Untersuchungsausschüsse, die Sie genannt haben, haben ihre Wirkung gehabt.
Schily: "Das NPD-Verbotsverfahren ist gescheitert, weil das Bundesverfassungsgericht da eine falsche Entscheidung getroffen hat."
Der Bewahrer der Staatsraison
Burchardt: Eine sicherlich empfindliche Niederlage war Ihr Versuch des NPD-Verbots.
Schily: Ja.
Burchardt: Frage auch, was ist da aus Ihrer Sicht falsch gemacht worden? Sehr umstritten die Hausdurchsuchungen im sogenannten Cicero-Verfahren und letztendlich auch die Frage der biometrischen Erfassung. Sind Sie im Laufe Ihres politischen Lebens dann doch ein stringenterer Law-and-Order-Mensch geworden?
Schily: Nein, ich sage nur, das sind zwei Aufgaben, die unterschiedliche Perspektiven und Reichweiten haben. Auch als Verteidiger bin ich ein Anwalt für den Rechtsstaat. Das heißt, ich muss dafür sorgen, dass die rechtsstaatlichen Garantien eingehalten werden, fairer Prozess, Unschuldsvermutung. In der staatlichen Verantwortung ist das natürlich eine ganz andere Haltung, die aber hier genauso die Legitimation hat. Die drei Fälle, die Sie ansprechen, Herr Burchardt, die kann ich sehr einfach kommentieren. Das NPD-Verbotsverfahren ist gescheitert, weil das Bundesverfassungsgericht da eine falsche Entscheidung getroffen hat. Das muss ich ganz offen sagen, ich bleibe dabei. Ich habe großen Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht, erlaube mir aber auch, einmal zu sagen, dass es auch vor Fehlern nicht gefeit ist.
Burchardt: Der formelle Vorwurf war falsch?
Schily: Nein. Man hat gesagt, die ganze NPD sei vom Verfassungsschutz gesteuert, was ein völliger Unsinn ist. Denn Leute, Informanten, die man gewonnen hat, sind ja nicht Mitglieder des Verfassungsschutzes, sondern Informanten. Auch ein Informant, der aus der kriminellen Szene gewonnen wird, wird nicht dadurch Mitglied der Polizei. Das war eine fehlerhafte Entscheidung. Und wenn man jetzt vor der Situation steht, dass man entweder die Beobachtung einer verfassungsfeindlichen Partei einstellen muss, was die Pflichtaufgabe des Verfassungsschutzes ist, oder man muss auf die Einleitung eines, wie ich finde, begründeten Parteiverbotsverfahrens verzichten, dann weiß ich nicht, wie man damit umgehen will.
Burchardt: Also jetzt noch mal ein neuer Anlauf?
Schily: Ja, wenn das Verfassungsgericht bei seiner jetzigen Haltung, der damaligen Haltung bleibt, dann ist ein Verbotsverfahren wenig aussichtsreich. Das ist klar. Obwohl ich die NPD nach wie vor für verbotswürdig halte. Es ist ein schlimmer Fall, ein schlimmer Sachverhalt, dass Sie und ich für diese Partei noch Steuergelder zahlen müssen.
Burchardt: Aber bei Cicero sind Sie natürlich auch im neuen Gewerbe in starke Kritik geraten?
Schily: Ja, völlig zu Unrecht. Denn auch da werden die Dinge völlig durcheinander gebracht. Was ist denn bei Cicero geschehen? Bei Cicero hat es eine Durchsuchung gegeben, für die ist verantwortlich der Staatsanwalt und das Gericht. Ich als Innenminister kann weder eine Durchsuchung beantragen, noch kann ich sie etwa verfügen. Das würde ich auch den Teufel tun. Als Innenminister darf ich das gar nicht.
Burchardt: Aber Sie haben das unterstützend kommentiert.
Schily: Nein, was heißt unterstützend kommentiert? Nein, nein, verehrter Herr Burchardt, auch da sind Sie leider schlecht informiert! Denn was darf ich als Innenminister? Was ich getan habe, ist, es wurde seinerzeit ein Ermittlungsverfahren gegen einen Journalisten eingeleitet wegen Geheimnisverrat. Das ist Sache der Staatsanwaltschaft. Ich hätte jetzt die Möglichkeit gehabt zu sagen, ich gebe dazu nicht die Genehmigung, und zwar deshalb, weil ich sage, dadurch könnten die Interessen des Staates beeinträchtigt werden. Es kam ja im Ermittlungsverfahren auch so zu Gefahrensituationen. Die Genehmigung habe ich aber gegeben. Und ich bin ein großer Anhänger der Pressefreiheit. Aber ich bin nicht dafür, dass Journalisten sozusagen im rechtsfreien Raum agieren, sondern wir auch, der Staat hat das Recht sein Geheimnis zu wahren, genauso wie ja die Journalisten sehr darauf achten, dass ihr Pressegeheimnis gewahrt bleibt. Man sagt, ja nicht die Informanten und so weiter. Das verstehe ich auch. Dann hat man gesagt, ja, aber wir wollen doch, wir müssen doch - selbst wenn das Skandale sind - dann müssen wir doch mal auch Informationen gewinnen können. Da sage ich, aber liebe Freunde, darum geht es doch gar nicht. Hier ist die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ein Skandal, da kann man nun auch nicht. Es ging ja darum, Ausforschung eines Ermittlungsverfahrens. Die Sache ist ganz kompliziert. Und ich hab mir da nicht den geringsten Vorwurf zu machen.
Burchardt: Ist das denn falsch vermittelt worden in die Öffentlichkeit?
Schily: Ja, leider. Von einigen Leuten, auch leider vom Deutschen Journalistenverband in einer, wie ich finde, absolut unzulässigen Form. Ich hab mich gewundert, dass so ein großer Journalist, ist ja nun wirklich ungeheuer begabter Mann wie eben Herr Prantl, das völlig verzerrt dargestellt hat, der wissen muss, dass ich gar nicht das darf und weder kann und weder gemacht habe. Was war Ihr Drittes, mit der Biometrie?
Burchardt: Wir können das auch mit der Online-Durchsuchung vielleicht dann noch zusammennehmen. Gegen Ende Ihrer Dienstzeit wurde ja irgendwie gesagt, na ja, der Schily, der ist eigentlich inzwischen in der falschen Partei.
Schily: Nein, nein, auch das ist, die Betrachtungsweise ist falsch, denn ich bin immer dafür eingetreten, dass wir als Sozialdemokratie eine Partei von Recht und Ordnung sind, Law and Order, das heißt es. Das heißt, wenn man in einer freiheitlichen Gesellschaft leben will, dann braucht man Recht und Ordnung. Wir nennen die Europäische Union einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes. Und dieses Spannungsverhältnis, was manchmal zwischen Freiheit und Sicherheit entsteht, ist eben das Recht. Und deshalb muss man für Recht und Ordnung sein. Wer frei leben will, der braucht das. Und deshalb gibt es da gar kein Vertun. Wir dürfen das nicht irgendwelchen Konservativen oder Reaktionären überlassen. Das ist ein Urthema für die Sozialdemokratie. Da fühle ich mich durchaus auch einig etwa wie Tony Blair, der das auch gesagt hat, und mit Gerhard Schröder. Und wenn Sie dann über bestimmte Dinge reden, dann sehe ich auch, dass sich da die Proportionen zum Teil in einer Weise verschoben haben, dass ich schon meine, da muss man noch mehr Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit leisten, als das bisher der Fall war. Biometrie ist wichtig, um heute eine sichere Identifizierung und Authentifizierung von Personen zu gewährleisten.
Burchardt: Herr Schily, ganz zum Schluss, mit der Bitte auch um eine kurze Antwort. Sie wirken sehr engagiert, sehr vital. Wann kehren Sie ein Ministeramt zurück?
Schily: Nein, nein das ist passé. Das war eine sehr interessante und spannende Erfahrung, wofür ich dankbar bin. Sieben Jahre Innenminister reicht. Nein, ich werde noch mein Parlamentsmandat ausüben bis 2009.
Burchardt: Bis zur nächsten Wahl, dann nicht mehr?
Schily: Dann werde ich auch nicht mehr, dann bin ich 77, und da ich ja mit meiner anthroposophischen Erziehung in Jahrsiebten denke, passt das gut. Ich wollte ja schon mit 70 aufhören. Aber nun gut, sind es noch sieben Jahre länger geworden. Jetzt werde ich im nächsten Jahr 77, und dann ist es gut. Und jetzt kann ich einen kleinen Spaß noch zum Schluss sagen. Ich könnte dann ja, dann wird ja Horst Köhler wiedergewählt ...
Burchardt: Wenn er antritt.
Schily: ... wenn er antritt, ich denke schon, und dann wird er für fünf Jahre gewählt, und von 2009 wäre das dann 2014. Im Jahr 2014 wäre ich 82. Und das ist nach den italienischen Gepflogenheiten das Alter, indem man als Präsident kandidiert. Mein Freund Giorgio Napolitano ist mit 82 italienischer Staatspräsident geworden. Dann kann ich ja dann mal mit meiner Frau diskutieren, ob ich dann als Bundespräsident kandidiere. Ich kann Ihnen aber verraten, meine Frau ist strikt dagegen. Und ich werde dem Rat meiner Frau folgen.
Burchardt: Schönen Dank, Herr Schily!
Otto Schily: "Ich weiß, dass meine Mutter immer nur von dem Verbrecher Hitler sprach."
Kindheit im Dritten Reich
Rainer Burchardt: Herr Schily, Jahrgang 1932, Sie sind in Bochum als Kind aufgewachsen, wie man so gerne sagt, großbürgerlicher Hintergrund, anthroposophische Familie. Wie war das damals, als Kind im Dritten Reich aufzuwachsen? Haben Sie eigentlich Einschneidungen von politischer Seite erlebt? Und wie ist der Nationalsozialismus in Ihrem Elternhaus angekommen?
Otto Schily: Also ich bin in der Tat am 20. Juli 1932 geboren, das ist ja der Tag es Preußenputsches, also ich sage mal, schlimmes historisches Ereignis verbindet sich mit für mich einem erfreulichem Ereignis, nämlich meiner Geburt. Man muss sich, wenn man in diese Zeit sich zurückversetzt, die Lebenswelt eines Kindes anders vorstellen als das heute der Fall ist. Also die Informationswelt, die heute schon auf Kinder und auf Jugendliche zukommt, die war damals nicht vorhanden. Und wir sind als Kinder da viel träumerischer aufgewachsen, haben viele Märchen gelesen, haben die Märchenwelt sozusagen auch ein bisschen in unserer Umgebung gesehen, auch so wie die Ferien gestaltet waren. Und in meinem Elternhaus war es so, dass auch die Erwachsenenwelt und die Kinderwelt doch noch ziemlich voneinander getrennt waren. Äußerlich zum Beispiel gab es einen Kindertisch, an dem gegessen wurde. Und da saß dann auch die Haushälterin, die Erwachsenen saßen; erst wenn man 14 war, durfte man dann am Erwachsenentisch sitzen. Ich glaube, das ist wichtig zu sagen, weil manche die Vorstellung haben, man sei sozusagen mit der politischen Welt viel stärker verbunden, das ist doch mehr äußerlich an mich herangekommen. Und zum ersten Mal bewusst war 1938, bei der Judenverfolgung, der sogenannten Kristallnacht, das sehe ich aber nur schemenhaft vor mir, wo mein Vater totenbleich nach Hause kam und davon berichtete und auch so einen, ja, so einen Brandgeruch in der Stadt.
Burchardt: Ihr Vater war Direktor einer Bochumer Berghütte.
Schily: Damals noch nicht, er war da Prokurist, das war noch eine relativ untergeordnete Stelle im Bochumer Verein für Gussstahlfabrikation. Verein klingt so ein bisschen komisch, weil das war eine Aktiengesellschaft, aber das stammt noch aus der Zeit, als man noch einen wirtschaftlichen Verein als Grundlage für ein solches Unternehmen, als Rechtsform eines solchen Unternehmens, benutzt hat. Dann kann ich erinnern, das war Anfang der 40er Jahre, da kam dann die Gestapo ins Haus und meine Eltern wurden dann zum Verhör abgeholt und wurden unsere ganzen Bücher ausgeräumt. Und sonst war dieses ganze Thema, ja, wir hören das sozusagen immer nur so indirekt. Ich weiß, dass meine Mutter immer nur von dem Verbrecher Hitler sprach, aber auf der anderen Seite auch immer die Sorge war, das könnte irgendwann ein Dienstmädchen ausplaudern. Es gab schon mal, ich weiß auch, wir hatten mal in, später sind wir dann nach Partenkirchen gegangen, in das Haus meines Großvaters.
Burchardt: War das Kinderschutz?
Schily: Nein, das war sozusagen, um von den Bombennächten…
Burchardt: Ja, das meine ich.
Schily: …ich kann mich noch erinnern, dass da schon die ersten Bomben kamen und wir in den Luftschutzkeller mussten immer nachts, und das war da in Partenkirchen sicherer. Und in Partenkirchen hatten wir dann eine Hausgehilfin, die war total vernarrt in den Hitler. Die kriegte auch immer so Anfälle, sie hat irgendwann mal den Hitler bei irgendeinem Umzug gesehen und wenn sie da sich so erinnerte, dann kriegte sie so einen kleinen psychischen Anfall. Und bei so einer Hausgehilfin musst du natürlich immer auf der Hut sein, dass sie nicht denunziert. Das ist so, und ich kann mich erinnern, dass mein ältester Bruder, das war der Peter, der ist ja nicht mehr am Leben, der später ja Arzt geworden ist, der wollte nicht zur HJ und ist dann aus dem Elternhaus - das war ja zwangsweise, er musste in die Hitlerjugend eintreten - dann ist er vom Elternhaus abgehauen und wollte in die Schweiz.
Burchardt: Ist man an Sie auch noch herangetreten?
Schily: Ich war, wie hieß denn das, das war so eine Vorform…
Burchardt: Sie waren sehr jung damals.
Schily: …der Hitlerjugend, da musste ich auch da mitmachen. Das fand ich zum Teil sogar ganz schön, weil die machten da so…
Burchardt: So Pfadfinder.
Schily: …ja, so Geländespiele, das war mehr so Pfadfinderei. Und wir sollten dann auch auf den Führer vereidigt werden, aber meine Mutter hat das verhindert. Die hat immer gesagt, nein, mein Sohn ist krank.
Schily: "Eigentlich wollte ich mehr der Musik mich zuwenden."
Bildungsbürger und Anthroposoph
Burchardt: Herr Schily, Sie kommen, man würde heute sagen, aus einem Familienhaushalt mit anthroposophischem Hintergrund, und Ihr Vater war Unternehmer. Was zum Teufel hat Sie eigentlich in die Juristerei vertrieben?
Schily: Ja, also Elternhaus, Sie haben gesagt, großbürgerliches Haus, ich würde eher sagen, ein Bildungsbürgerhaus. Wir waren gar nicht so mit den Glücksgütern gesegnet, gut, später war mein Vater dann Vorstandsmitglied beim, und später Präsident des Gießereiverbandes, da ging es ihm ganz gut, aber mit fünf Kindern hat man einiges zu tun, selbst mit einem guten Gehalt. Und während der Kriegszeit ging es uns ganz jämmerlich, ich beklage mich nicht, weil andere viel Schlimmeres erlebt haben, aber ich werde nie vergessen, dass wir richtig gehungert haben, und ich habe heute noch die Narben von den Hungerödemen. Und es ist eine gute Erfahrung, ich bin dem Schicksal dankbar, dass ich die Erfahrung hatte, damit man weiß zu schätzen, was es bedeutet, dass man ausreichend zu Essen hat und Kleidung hat. Aber was ich meinen Eltern verdanke, und dafür bin ich wirklich von Herzen dankbar, ist eben die Vermittlung von Bildung. Wir haben zu Hause Dickens gelesen und mein Vater sprach sehr viele Sprachen und aber auch die Verbindung mit der Anthroposophie hat, glaube ich, mein Lebenswerk sehr stark bedingt, weil man eben ganz anderen Zugang auch zum Menschen bekommt. Was heißt denn Anthroposophie, heißt "Wissenschaft vom Menschen" und versucht, einen wissenschaftlichen Zugang zur geistigen Qualität des Menschen zu gewinnen. Das war sehr umstritten, und natürlich hat man als Kind manchmal auch darunter gelitten, weil die Anthroposophie ja doch eine Weile sehr verteufelt wurde, auch nach dem Krieg, bekämpft wurde als Sektiererei und Ähnlichem, das reicht ja bis heute, dass einige das in der Weise bekämpfen. Man kann das ja auch einige Dinge kritisch sehen, das ist ja völlig erlaubt. Das hat der Begründer der Anthroposophie selber gesagt, wir verkünden hier keine ewigen Wahrheiten, sondern versuchen, einen Weg aufzuzeigen, sich dem zu nähern. Aber wenn man heute mal die Ergebnisse der Anthroposophie sieht, in der Medizin, in der Landwirtschaft, in vielen anderen Dingen, dann muss ich sagen: In der Bibel heißt es, an den Früchten sollt ihr sie erkennen, da kann ich nur sagen, das ist sehr positiv! Heute geht jeder ganz selbstverständlich in einen Bioladen und kauft Demeterprodukte.
Burchardt: War das, wenn wir so einen kleinen Sprung machen schon mal, für Sie so eine Vorprägung, dann zu den Grünen politisch zu gehen?
Schily: Ja, das sage ich, ja, natürlich. Ich habe gesagt, in den Grünen sind zwei Strömungen zusammengekommen, die radikaldemokratische Strömung, die man vielleicht so symbolisch verorten kann mit 1848, der Revolution hier in Deutschland, und die ökologische Strömung, die kommt von weither,kommt aus der Romantik, einem anderen Naturverständnis, Schelling, und reicht auch über die Anthroposophie, also die biologisch-dynamische Landwirtschaft, bis hin dann in die Gegenwart, da kam auch einiges aus Amerika. Ich kann mich erinnern, dass wir damals sehr intensiv dieses Buch gelesen haben "The Silent Spring", der stumme Frühling, als das erste Mal auch aus Amerika berichtet wurde über die schädlichen Entwicklungen einer Überchemisierung der Landwirtschaft, also, das ist ein Thema. Und ich kann mich dann - wenn wir da jetzt mal einen Sprung machen dann in die spätere Zeit der außenparlamentarischen Opposition, da würde ich diese Fragen hier ein bisschen als abseitig -
Burchardt: Wir kommen da garantiert noch drauf, ich würde doch noch ganz gern diese Frage noch mal wiederholen. Was hat Sie in die Juristerei dann gebracht?
Schily: Eigentlich wollte ich ja mehr der Musik mich zuwenden, aber ich habe dann in nüchterner Einschätzung meines Talents gesagt, das reicht nicht. Ich bin nach wie vor mit der Musik sehr verbunden. Und dann habe ich das Jurastudium gewählt aus zweierlei Gründen. Einmal schon wegen einer gewissen Politisierung während meiner Schulzeit, ich habe mich dann für Heinemann begeistert, für Dehler und solche Leute, für Adolf Arndt, und habe diese Diskussionen sehr, sehr lebhaft und intensiv mitverfolgt, und Jura schien mir da durchaus eine Möglichkeit zu sein. Aber Jura auch eigentlich in dem Sinne der Nichtfestlegung vorher.
Burchardt: Wollte ich gerade sagen, Dehler, Heinemann, Arndt, das waren ja in der damaligen Zeit eher Nonkonformisten, die waren ja alle in anderen Parteien, die waren ja durchaus auch nicht etwa bei der Sozialdemokratie, oder die waren zumindest vom Geist her nicht so festgelegt.
Schily: Nein, nein, Heinemann war in der Gesamtdeutschen Volkspartei, Dehler war bei der FDP, ich hatte am Anfang sehr starke Neigungen zu den freien Demokraten, aber später eben diese Gestalten wie Heinemann und andere, die da auftraten, die haben mich schon sehr beeindruckt. Die ganz großen Debatten, Ollenhauer hat mich dann nicht beeindruckt, da hat mich Adenauer mehr beeindruckt. Aber wir waren, ich war so aus meinem jugendlichen Temperament natürlich gegen die restaurative Tendenz von Adenauer eingestellt.
Schily: "Ich war ja ein Suchender."
Politischer Jurist und Nonkonformist
Burchardt: Sie sind dann '58 nach Berlin gegangen.
Schily: Nein, schon früher, schon früher.
Burchardt: Ja? Aber es war so exakt…
Schily: Also schon in den 50er Jahren.
Burchardt: …die Sachen, wo Berlin nun wirklich der politische Brennpunkt war, war das für Sie auch eine ganz bewusste Entscheidung zu sagen, da, wo es jetzt wirklich knallt oder knallen könnte, da will ich hin, da will ich dabei sein?
Schily: Ja, das war sicher eine ganz bewusste Entscheidung. Ich bin ja - aber die Politisierung fängt schon ein bisschen früher an. Ich hab studiert in München. Auch da gab es schon so ein bisschen Kontakt auch mal zum SDS, dem damaligen SDS, übrigens da der Klaus Arndt damals der Vorsitzende vom Allgemeinen Studentenausschuss war in München, aber noch sehr sachte. Und dann bin ich nach Hamburg gegangen, und dort habe ich dann im Verlauf meines Studiums, Jurastudiums, bin ich auch gewechselt in das Europa-Kolleg, das war sehr gut, weil da, das Europa-Kolleg war ein Studentenwohnheim, aber mit eigenem Programm, auch europapolitischem Programm. Und dann bin ich mit vielen Europäern zusammengekommen. Wir haben auch die europäischen Institutionen damals besucht. Wir waren in Luxemburg, damals noch bei der Montanunion, Sie werden sich noch an Etzel erinnern. Und das hat mich sehr stark geprägt. Na, das fing dann aber auch, dann habe ich Uwe Wesel kennengelernt.
Burchardt: Der spätere Vizepräsident der FU.
Schily: Der spätere Vizepräsident der Universität, der damals noch erst anfing, Latein zu studieren, dann übergewechselt ist zu Jura. Ja, das waren dann auch die Ereignisse 1956. Da war ich noch in Hamburg, da haben wir dann noch damals demonstriert gegen die Besetzung Ungarns durch die Russen. Aber gleichzeitig demonstriert auch gegen die Aktion von Großbritannien am Suezkanal.
Burchardt: Das war ja auch die Zeit der Wiederbewaffnung. Hat das für Sie eine Rolle gespielt?
Schily: Ja, auch das spielte eine Rolle. Wir waren natürlich gegen die Wiederbewaffnung.
Burchardt: NATO-Eintritt?
Schily: NATO-Eintritt war da nicht so das Thema, aber die Wiederbewaffnung war für uns doch ein schwieriges Thema. Da habe ich natürlich meine Position später wieder überdacht und verändert.
Burchardt: Hat es denn für Sie persönlich bedeutet zu sagen, ich schwimme nicht mit dem Strom. Ich will schon etwas wacher sein, und ich will jetzt, was gesellschaftliche Moderne angeht, möchte ich gegenhalten?
Schily: Ja, ich war noch ein Suchender. Ich war ja ein Suchender, war da nicht festgelegt, wohin ich gehen wollte. Aber jedenfalls mit der restaurativen Tendenz, das war nun klare Gegenposition zur restaurativen Tendenz, und das müssen Sie…
Burchardt: Was war der SDS?
Schily: Der SDS kam dann später, das war erst mit Berlin. Ich bin bewusst nach, Sie haben mich gefragt, ich bin bewusst nach Berlin gegangen, weil es eine faszinierende Stadt war, und ich habe ja noch die Zeit in Berlin miterlebt vor der Mauer. Ich kenne noch die Zeit vor der Mauer. Das war auch schon eine spannende Stadt zu der Zeit.
Burchardt: Sie waren zwei Jahre später Zeuge, als J. F. Kennedy auf dem Rathaus, am Schöneberger Rathaus, stand. Wie haben Sie das selbst empfunden, denn Amerikanismus kippte danach ja ziemlich.
Schily: War das zwei Jahre später?
Burchardt: '63, ja.
Schily: '63, ja. Der Mauerbau war schrecklich. Wir waren ja so was von wütend. Wir sind mit dem Auto immer da lang gefahren, zum Teil haben wir noch gesehen, wie den Leuten über die Mauer geholfen wurde da in Wedding und haben da auch versucht, noch zu helfen. Und das war natürlich vollkommener Blödsinn, nicht wahr? Wir haben wie die Verrückten gehupt auf unserem Auto. Wahrscheinlich dachten wir, wie die Mauern von Jericho könnten wir die zum Einsturz bringen. Das hat natürlich alles nichts genutzt. Ja, und es war schon da das Gefühl, also jetzt werden wir sehr bedrängt. Wir werden eingeschlossen, und sie sitzen hier. Und Kennedy war da wirklich eine Gestalt, die uns dann, und nun hatte ich eine positive Vormeinung von den Kennedybrüdern, die in Algerien erstmals da auch versucht haben, diesen Algerienkonflikt positiv zu wenden, und wir haben dem zugejubelt. Ich bin dann an so einer Laterne hoch. Und wie der dann da sagte: "Ich bin ein Berliner", da waren natürlich alle aus dem Häuschen.
Schily: "Der Vietnamkrieg war natürlich ein Fehler."
USA und Brennpunkt Berlin
Burchardt: Kennedy, nachträglich ist das doch sehr offensichtlich geworden, hatte auch seinen Anteil am Vietnamkrieg. Und Vietnamkrieg war dann nachher das große, beherrschende Thema der 60er Jahre…
Schily: Ja.
Burchardt: ...und auch so ein Stück, wenn man so will, Geburtshilfe für die Außerparlamentarische Opposition.
Schily: Sicher.
Burchardt: Und für Sie war das natürlich auch sicherlich ein Anlass, sich da noch mehr zu engagieren?
Schily: Ja, und zwar das ist ein Prozess der Enttäuschung. Ich muss Ihnen dazu sagen, ich bin ein Freund Amerikas bis heute. Und nach dem Zweiten Weltkrieg war ich in einer besonderen Weise auf Amerika eingestimmt. Das hing auch damit zusammen, dass die Ersten, mit denen ich da in Kontakt kam, von der neuen Besatzungsmacht, waren die Amerikaner in Bayern. Für uns waren eigentlich die Amerikaner das Idol, wir dachten, das ist die Richtige. Mein Vater ging sogar soweit zu sagen, wir sind ja politisch, kulturell, wirtschaftlich so pleite, am besten wäre es, wir würden von uns als, ich weiß gar nicht, wir wären der 50. oder 52. …
Burchardt: Damals 50.
Schily: ... der 50. Staat Amerikas einverleiben, dann wären wir am besten aufgehoben. Soweit ist mein Vater gegangen. Die Amerikaner kamen dann auch so an. Wir haben dann viele Kontakte auch nach Amerika gehabt und die Quäkerspeisung, all das habe ich nicht vergessen, wie die Amerikaner sich verhalten haben. Die haben uns als Erste die Hand gereicht. Die haben uns auch buchstäblich am Leben erhalten. Und das schlug dann um mit einigen Ereignissen, die wir dann eben, dazu gehörte Persien, Iran, dazu gehörte eben auch Vietnam. Ich habe immer gesagt, es ist aber auch keine Kritik an Amerika als solches oder am amerikanischen Volk, sondern an einer bestimmten amerikanischen Politik. Und man muss auch sagen, die Kritik, und das ist ja ein großer Verdienst der Amerikaner, dass die Kritik ja in dem eigenen Land auch entstanden ist. Es ist ja nicht so, dass die Amerikaner das so schweigend hingenommen hätten. Und das ist eben auch - ich finde das Positive an der amerikanischen Demokratie, dass wenn solche, und der Vietnamkrieg war natürlich ein Fehler, weil die Amerikaner sind meiner Meinung nach in einen Kolonialkrieg der Franzosen eingestiegen. Die Franzosen waren besiegt, die berühmte Schlacht bei Dien Bien Phu mit Castris. Die Amerikaner sind da eingestiegen und haben da eine schwere Niederlage erlitten.
Schily: "Politisch ist die Außerparlamentarische Opposition total gescheitert."
Die Außerparlamentarische Opposition
Burchardt: Wie sehen Sie denn in der Nachbetrachtung eigentlich tatsächlich die Legitimation der APO, auch der 68er? Es wird ja eigentlich immer mehr gesagt, das war der unter den Talaren der Muff von 1.000 Jahren. Es war mehr innenpolitisch. Es war die Restauration der Adenauerzeit, sollte überwunden werden. Sie heben jetzt mehr ab auf Vietnam, auf Algerien und dergleichen. Sind es eher die außenpolitischen oder die innenpolitischen Dinge?
Schily: Nein, es sind zwei Komponenten am stärksten, die diese Bewegung in eine gewisse Dynamik hineingetragen haben. Das war die Kritik an der mangelnden Verarbeitung der Nazi-Zeit, die ganzen Fälle Globke, Vialon und so weiter, Rehse-Urteil, dieses Einrücken der alten Nazis in hohe Ämter, im Militär, in der Polizei, in anderen Staatsämtern, in der Wirtschaft und auch außenpolitisch, die sich dann da manifestierte in etwa Freiheitsglocken nach Vietnam, dass in Vietnam die Freiheit verteidigt wird. Aber politisch ist die Außerparlamentarische Opposition total gescheitert, weil sie sich dann in Sektiererei begeben hat oder hat dann diese Maskeraden aufgelegt von verschiedenen kommunistischen Systemen bis hin zu…
Burchardt: War das unvermeidlich?
Schily: …nein, das war natürlich nicht unvermeidlich. Aber das war eben so diese Entlehnung. Man hat sich dann im Kostümverleih bedient. Christian Semmler mimte dann Ernst Thälmann in dieser KPD/A0, das war dann diese maoistische Gruppierung, bis hin eben in den Terrorismus. Man muss sagen, politisch ist die Außerparlamentarische Opposition total gescheitert. Aber sie hat ein großes Verdienst. Und das hat ja Karl Heinz Bohrer mal in einem sehr guten Artikel im "Merkur" richtig beschrieben. Er sagte, diese Außerparlamentarische Opposition hat eine kulturelle Umwälzung vollzogen. Und das ist ihr großes Verdienst. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen, wie vorher wie verkrampft und verkrustet unsere Gesellschaft war. Über Sexualität durfte überhaupt nicht diskutiert werden. Ich meine, dass die Außerparlamentarische Opposition das alles wieder übertrieben hat mit einer Art von Exhibitionismus…
Burchardt: Kommune Eins oder sowas.
Schily: ... in den Kommunen, das ist ja eine andere Sache. Aber jedenfalls der berühmte Satz, der ja selbst dann die konservativsten Juristen irgendwann imponiert hat von Fritz Teufel, wie er dann aufstehen sollte, und dann dieser berühmte Satz "Wenn es der Wahrheitsfindung dient", das hat natürlich mal zur Auflockerung gedient. Oder wenn Rainer Langhans dann gesagt hat, er soll seine Personalien angeben, dann sagt er, ich stelle mich gerne vor, aber vielleicht sind Sie auch so nett und sagen als Richter hier mal Ihren Namen, mit denen ich es zu tun habe. Das sind ja so Dinge.
Schily: "Zeitweise wurde man als der Terroristenverteidiger."
Nebenkläger und Verteidiger
Burchardt: Sie gelten ja als ein Mann der Staatsraison, und Sie sind damals als Verteidiger zunächst im Mahler-Prozess aufgetreten und dann eben auch als Verteidiger für Gudrun Ensslin. Beides ja Leute, die teilweise, Mahler, zwar nicht Terrorist, aber zumindest der RAF nahegelegt wurde, und zum anderen Ensslin, na ja, da wissen wir Bescheid. Was hat Sie damals motiviert, dafür einzutreten? Es war ja dann, wenn man so will, gegen den Staat?
Schily: Nein, nein. Das muss man ja auch in der historischen Abfolge sehen. Erst mal war ich fünf Jahre in einer Wirtschaftskanzlei und habe nur Wirtschaftsrecht gemacht, Urheberrechte und so weiter. Dann habe ich mal in einem Erbschaftsstreit Horst Mahler kennengelernt, da damals so mit der großen Werbe auftrat, war damals schon eine Person des öffentlichen Interesses. Journalisten tigerten hinter ihm her, und er kam in den Gerichtssaal, wo ist die Wanze, die ich zertreten kann. Die Wanze war ich, erwies sich aber als sehr widerstandsfähig, ich gewann den Prozess nämlich. Und da, wie das immer so ist, dachte er, aha, das ist doch ein ernst zu nehmender Gegner. Und dann sind wir bekannt geworden auch über hier aus der künstlerischen Zeit und dann auch über den republikanischen Club, den ich schon erwähnt habe. Dann kam diese berühmte Geschichte mit Benno Ohnesorg, 2. Juni 1967, Schah-Demonstration und dann der Tod von Benno Ohnesorg. Und dort hat mich dann Mahler gebeten oder angeboten, ich könnte die Nebenklage übernehmen, also für den Vater von Benno Ohnesorg. So, das war mein erster politischer Prozess, den ich je gemacht habe. Vorher habe ich Zivilrecht gemacht. Und da war ich nun nicht Verteidiger, sondern da war ich Ankläger.
Burchardt: Wobei der Polizist Kurras freigesprochen wurde.
Schily: Na ja, gut das waren noch, wir müssen in die Einzelheiten jetzt nicht einsteigen.
Burchardt: Ja klar.
Schily: Ich habe immerhin, ich kann mich auch erinnern, ich war dann der Einzige, der seine Revision gewonnen hat. Wir haben vier Rezessionsverfahren, Staatsanwaltschaft, Mahler, noch zwei andere Anwälte und ich, nein, ich war die vierte, zwei Anwälte, die Staatsanwaltschaft und ich. Und nur meine Revision ging durch, war ich natürlich sehr stolz darauf.
Burchardt: Es gab ja in der damaligen Zeit auch eine Szene in der Juristerei, die hieß, so mal salopp formuliert, die Linksanwälte. Dazu gehörten die Namen wie Croissant, wie Groenewold, Schily und so weiter. Ist das auch für Sie mit eine Motivation gewesen zu sagen, Mensch, wir haben in der Juristerei jetzt aber auch Kollegen, die sind kritisch gegenüber dieser Entwicklung, die wir hier erleben?
Schily: Nein, nein, das waren wir nicht. Ich war auch nie Mitglied des Anwaltskollektivs. Das ist auch so eine Legende, die sich über die Zeiten gehalten hat. Ich bin in eine Gruppierung zunächst mal reingegangen, die hat sich nachher tot gelaufen, die nannte sich republikanischer Anwaltsverein, hat mit den heutigen Republikanern nichts zu tun. Da war damals ein Hannoveraner Anwalt an der Spitze, den hatte ich kennengelernt über die Humanistische Union. Und wir haben gesagt, wir müssen uns ein bisschen auch das unabhängige Organ der Rechtspflege stärker natürlich sozusagen profilieren. Insofern haben Sie schon ganz recht. Aber ich würde das jetzt ungern in diese Linie ziehen, die Sie jetzt ansprechen mit Croissant…
Burchardt: War umstritten?
Schily: …zunächst mal war das ein ganz sympathischer Kollege, das kann ich gar nicht anders sagen. Er machte auf mich einen sehr sympathischen Eindruck. Der kam ja, war eher bürgerlicher Anwalt, der in Scheidungsverfahren und in Stuttgart sehr angesehen war. Was mich nachträglich an Herrn Croissant sehr stört, ist, dass später rausgekommen ist, dass er mit der Stasi zusammengearbeitet haben soll. Das macht die Sache natürlich schon sehr düster. Insofern lasse ich mich ungern mit ihm in einem Topf rühren. Das werden Sie verstehen.
Burchardt: Ja. Sie haben vorhin gesagt zum Thema Terrorismus, das rutschte dann eben da ab, war irgendwie dann natürlich auch mit das Ende der Außerparlamentarischen Opposition. Es gab in der damaligen Zeit ja die sogenannten Sympathisanten, die sich dann gesellschaftlich ja irgendwo etablierten. Heinrich Böll hat, glaube ich, mal irgendwann damals gesagt, was wird man dann machen, wenn Ulrike Meinhof an der Tür steht und sagt, ich brauche Unterkunft. Wie ist das aus Ihrem Erleben damals gewesen? War das eine diffamierende Aktion des Staates gegen, ich will mal sagen, ganz normale Bürger? Jeder, der in irgendeiner Form diese Namen in den Mund nahm, galt ja schon als Sympathisant.
Schily: Ja, das ist eine sehr, sehr schwierige Frage. Das muss man auch vielleicht kritisch und zum Teil vielleicht auch selbstkritisch sehen. Es gab Umfragen, wenn ich mich recht erinnere, die hat man wohl eher intern gemacht, dass, so in der Anfangsphase der Baader-Meinhof-Gruppe, es tatsächlich so eine Sympathisantenszene gab, die man vielleicht so wie der Heinrich Böll, wie Sie es gerade zitiert haben, charakterisieren kann. Ich glaube, dass das aber, als die ersten schlimmen Vorfälle, wo Menschen ums Leben kamen, dass das völlig gekippt ist. Und insofern hat sich das dann verwandelt. Und natürlich ist der Vorgang als solcher schon auch eine, es ist ja sehr viel jetzt darüber gesprochen worden zum Teil, vielleicht auch zu viel über die sogenannte bleierne Zeit. Für mich ist die Frage, die mich beschäftigt hat damals und auch natürlich irgendwie bis heute, wie kommt zum Beispiel so ein Mann wie der Holger Mainz, der ein ausgesprochener Pazifist war, überzeugter Pazifist, dazu, sich dann einer Gruppe zuzugesellen, die meinte, sie müsste den bewaffneten Kampf gegen die Gesellschaft führen. Oder eine Gudrun Ensslin, die ursprünglich mal in der Wählerinitiative Willy Brandt gearbeitet hat.
Burchardt: Und aus Pastorenhaushalt kommt.
Schily: Und einem Pastorenhaushalt kommt, wie sagt man, einem pietistischen Pastorenhaushalt, ein sehr beachtlicher Mann, Herr Pfarrer Ensslin. Das ist eine Frage, mit der man sich auseinandersetzen muss. Und das wurde dann auch schwierig. Weil immer, wenn man gesagt hat, wir müssen doch auch versuchen, auch in einem Prozess, zu verstehen, was da passiert ist, warum das passiert ist, dass das immer schon als Rechtfertigung gesehen wird. Und das ist eine andere Frage. Oder dass die Verteidigung von Personen gleichgesetzt wurde mit Verteidigung von Straftaten. Das ist ja nicht. Das ist ja auch das Etikett, was mir dann bis heute, es hat sich ein bisschen jetzt verflüchtigt, aber zeitweise wurde man als der Terroristenverteidiger, da ist ja eigentlich alles schon festgelegt.
Burchardt: Und in denselben Sack gesteckt.
Schily: Ja, man ist sozusagen Terrorismusverteidiger. Wenn einer den Grafen Lambsdorff verteidigt hat, der angeklagt war wegen irgendwelcher Korruptionsdelikte, dann ist das kein Korruptionsverteidiger.
Schily: "Ich bin ja politisch ein Spätentwickler."
Der Weg ins Parlament
Burchardt: Herr Schily, wir müssen mal ein bisschen zur Politik jetzt kommen, das heißt zur unmittelbaren, zu Ihrem politischen Engagement. Wir hatten ja vorhin ja schon kurz angesprochen die Grünen. Ende der 70er Jahre ergab sich dann ja aus der bleiernen Zeit, vielleicht auch gerade nach '77, Schleyer-Entführung und folgende, ergab sich dann so etwas, dass man sagte, außerparlamentarisch reicht nicht, wir müssen in die Parlamente. Die Grünen etablierten sich und gründeten sich. Sie gelten als Mitgründer der Grünen. 1980 und 1983, schwupp, waren sie auch im Bundestag. War für Sie dieser Weg in die Politik dann eine innere Logik nach all diesen Erlebnissen, die Sie selbst ja nun sehr unmittelbar gehabt haben?
Schily: Ich hatte immer eine Neigung, in die Politik zu gehen. Ich habe mich manchmal da in die Nähe begeben, dann wieder entfernt. Ich bin ja nun sehr lange schon in Berlin zu Hause. Und es gab aber immer mal so Gespräche mit der damaligen Sozialdemokratischen Partei mit dem damaligen regierenden Bürgermeister Stobbe. Da hat mir auch mal so ein rosa Formular gegeben, mit dem ich dann meinen Beitrag…
Burchardt: Das haben Sie aber erst später ausgefüllt?
Schily: …das habe ich nicht ausgefüllt, damals. Das hing damit zusammen, dass mich damals die Sozialdemokratie, das war alles der sogenannte Kreisel-Skandal und so, das gefiel mir alles nicht so richtig. Und dann kamen Petra Kelly, Milan Horáèek und solche Leute, die eben was anderes im Sinn hatten und erst mal so eine Liste gegründet, das war noch ein ganz loser Zusammenhang, noch gar keine richtige Partei, und die das Thema Ökologie und Radikaldemokratie mit auch, sagen wir einer sehr, sehr offensiven Friedenspolitik verbunden. Das hat mir gut gefallen. Das passte sozusagen in meine Biografie rein. Ich bin ja politisch ein Spätentwickler. Wie alt war ich da, also '68, kann man ja ausrechnen.
Burchardt: Bis 1980, '83.
Schily: '83, '80 ja, bitte.
Burchardt: Da waren sie 48 Jahre alt.
Schily: Ja, ja, schon ein Spätentwickler. Und das habe ich dann sehr bewusst mitgemacht. Ich war ja auch mit einer der Begründer der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz. Bin dann wieder ausgetreten, weil dann die Maoisten reinkamen. So, das ging so hin und her. Und diese Geburtswehen der Grünen waren ja nun auch nicht von Pappe. Da drängten dann die AOD-Leute rein, die waren schon so leicht mehr nach rechtsextrem.
Burchardt: Herbert Gruhl.
Schily: Herbert Gruhl. Gut, das war ein anständiger Mann, aber dann doch auch eher ultrakonservativ. Aber schlimmer war eben Hausleiter. Ich hab da einen ziemlichen Kampf geführt, dass dieser Hausleiter da nicht das Sagen bekam. Und in dieser schwierigen noch Laborphase, da habe ich eigentlich ein ganz guten Zugang auch zu den Grünen gewonnen. Ich kann mich noch erinnern, unser erste Wahl war ja dann schon gleich 1980, glaube ich, und dann kläglich abgeschnitten. Ich kann mich deshalb gut erinnern, weil kein Mensch wollte sich da vor die Kameras stellen. Ich bin aber vor die Kameras gegangen und habe gesagt, es ist ein großer Erfolg. Weil das erste Mal hatten wir ein Wahlergebnis, mit dem wir eine Wahlkampfkostenerstattung bekamen, und damit also einen gewissen Anfang gesetzt hatten, um nach vorne zu kommen. Ja, und dann ging das in den Ländern weiter und '83 war dann das erste Mal, dass wir in den Bundestag einzogen.
Burchardt: Wobei ich erinnere, aus der damaligen Zeit ja gerade in Bonn ja auch viele Diskussionen, auch endlose Nachtdiskussionen in der "Tulpe" damals, wie das Gebäude da hieß, in der Fraktion, und es spalteten sich die Grünen relativ schnell auf in Fundamentalisten auf der einen Seite, ich sag jetzt Petra Kelly, und Realos, Otto Schily, Joschka Fischer, auf der anderen Seite, wenn das in etwa so grob geschnitten dargestellt werden kann. Und man sagt ja auch, Sie hätten dann die Grünen verlassen, weil sie dann auch ein Opfer der Rotation wurden. Ist das für Sie damals zu fundamentalistisch gewesen, was die Grünen wollten?
Schily: Mit Petra Kelly habe ich mich eigentlich gut verstanden, obwohl wir auch unsere Konflikte hatten. Ich versuch mir ja manchmal vorzustellen, wie Petra Kelly heute eigentlich sich in der politischen Szene ausnehmen würde. Ich glaube immer noch, dass sie eine beachtliche Figur wäre. Mein tiefgehender Konflikt in den Grünen entstand nicht so sehr mit Petra Kelly, sondern mit Frau Ditfurth und Herrn Ebermann. In der Phase war es dann eigentlich auch so, wo immer mein Name drunter stand, hatte schon von vornherein keine Chance, eine Mehrheit auf einem grünen Parteitag zu bekommen. Es spielte sicherlich auch eine Rolle, dass die Grünen mir eigentlich gar keine Perspektive mehr geboten haben, weil so eine Rotation und du hast deine Pflicht und Schuldigkeit da getan. Die Grünen haben sich ja doch unter großen Mühen erst mal dieser ganzen Verrücktheiten entledigt, Rotation. Am Anfang sollte ja nach zwei Jahren rotiert werden, ein absoluter Blödsinn. Bis hin, dass man früher keine Fotos auf den Plakaten, das, was dann später mit Joschka Fischer möglich wurde, das war da nicht möglich. Und deshalb bin ich '89, natürlich auch ein bisschen gesagt, ich bin ja nicht der Allerjüngste, man muss auch sehen, dass ich mich da engagiere. Und die SPD hat ja nun auch eine Entwicklung vollzogen. Ich hab damals, das war ein bisschen, bisschen hochtrabend, was ich da gesagt habe. Eigentlich hat sich die SPD meinen Positionen stärker angenähert als ich den Positionen der SPD, aber ein bisschen Körnchen Wahrheit ist da dran.
Burchardt: Man findet eine Szene, es gab ja damals diese Szeneprovinzen, Szenelokal, direkt am Kanzleramt in Bonn und wo ja dann schon so etwas wie Rot-Grün immer mal am gemeinsamen Tresen gesessen hat. Es wird immer gesagt, Sie und Gerhard Schröder hätten seinerzeit schon mal auf einem Bierdeckel eine gemeinsame Kabinettsliste ausgearbeitet. War das so?
Schily: Es gab mal so was, ja.
Schily: "Ich habe alle Rollen durchgemacht."
Im Namen der SPD
Burchardt: Sie sind dann '89 zu den Sozialdemokraten gegangen. Das kam zusammen mit dem Fall der Mauer.
Schily: Richtig.
Burchardt: Und zwei Jahre später waren Sie dann auch der Vorsitzende, oder drei Jahre später, des Treuhanduntersuchungsausschusses. Sie sind ja eigentlich ständiger Gast in Untersuchungsausschüssen. Wir müssen auch über den Flick-Ausschuss vielleicht auch noch kurz sprechen.
Schily: Ich habe alle Rollen in Untersuchungsausschüssen wahrnehmen dürfen, einmal als, wenn man so will, Ankläger im Flick-Untersuchungssausschuss.
Burchardt: Haben Sie sich ein bisschen als Staatsanwalt gefühlt in den Ausschüssen?
Schily: Da war ich der Ankläger, gar keine Frage. Und ich musste auch aufpassen, dass ich nicht, Peter Struck versuchte damals eine Umarmungstrategie.
Burchardt: Bei Flick?
Schily: Ja, ja, verständlicherweise, war von ihm ja richtig. Da habe ich auch gesagt, nein, Peter, ich muss hier die eigenständige Rolle der Grünen dabei wahren. Aber ich habe gut verstanden mit Peter Struck damals auch, mit dem ich gut befreundet bin.
Burchardt: Ich sehe Sie da noch sitzen im 19. Stock des Langen Eugen und hinter sich etwa 200 Akten und jemand, der ständig Ihnen die Akten gereicht hat. Und es verfolgt Sie eigentlich, wenn ich auch den Visa-Ausschuss nehme, wo Sie ein fünfstündiges Referat gehalten hatten, um es mal so zu formulieren. Sie galten immer als unglaublich vorbereitet. Und jeder, der es mit Ihnen zu tun hatte, der konnte eigentlich schon morgens sich sagen, oh, heute gibt es Haue?
Schily: Na gut, ich habe alle Rollen durchgemacht, wie gesagt der Ankläger, das war Flick. Dann kam der Treuhanduntersuchungsausschuss und war der Vorsitzende. Und dann bin ich froh, dass heute noch Leute zu mir kommen wie zum Beispiel der Bundespräsident Köhler, die sagen, ich sei als Vorsitzender sehr fair gewesen. Bin ich stolz drauf. Natürlich auch ein scharfer Frager, befürchteter Frager, aber ein fairer Vorsitzender.
Burchardt: Aber bei all diesen Ausschüssen ist letztlich nichts…
Schily: So, und dann bin ich der Zeuge. Da war ich Zeuge, das ist vielleicht mein denkwürdigster Auftritt, weil das eine psychische und physische Leistung schon war. Man saß da ja vor diesem Ausschuss, sie sind da ganz allein, die Kamera ist auf sie gerichtet, hinter Ihnen sind die Journalisten und haben dann gerade ein paar Akten, und dann müssen Sie da Rede und Antwort stehen. Das ist mir, glaube ich, ganz gut gelungen.
Burchardt: Trotz alledem, sind Sie nicht auch ein bisschen frustriert in der Nachbetrachtung? Flick-Untersuchungsausschuss irgendwie auch abgebrochen worden, Sie haben sich selbst immer auf eine zweite Vernehmung mit Franz Josef Strauß gefreut, der sich ja Ihnen gegenüber auch, wie er sagte, den schnarrenden Casino-Ton verbitten wollte. Das kam nicht mehr zustande, weil das abgebrochen wurde, beim Treuhandausschuss auch im Sande verlaufen, beim Visa-Ausschuss eigentlich auch. Sind diese Ausschüsse eigentlich für die Katz? Sind das dann tatsächlich nur politische Instrumente?
Schily: Nein. Ich bin der Überzeugung, dass wir Untersuchungsausschüsse brauchen. Das ist ein wichtiges parlamentarisches Instrument und sehr, sehr wichtig, dass es das gibt, und das dürfen wir auch nicht einschränken. Aber natürlich haben sie begrenzte Wirkung. Sie werden auch häufig missbraucht, um irgendeine bestimmte politische Botschaft in die Welt zu setzen. Aber alle Untersuchungsausschüsse, die Sie genannt haben, haben ihre Wirkung gehabt.
Schily: "Das NPD-Verbotsverfahren ist gescheitert, weil das Bundesverfassungsgericht da eine falsche Entscheidung getroffen hat."
Der Bewahrer der Staatsraison
Burchardt: Eine sicherlich empfindliche Niederlage war Ihr Versuch des NPD-Verbots.
Schily: Ja.
Burchardt: Frage auch, was ist da aus Ihrer Sicht falsch gemacht worden? Sehr umstritten die Hausdurchsuchungen im sogenannten Cicero-Verfahren und letztendlich auch die Frage der biometrischen Erfassung. Sind Sie im Laufe Ihres politischen Lebens dann doch ein stringenterer Law-and-Order-Mensch geworden?
Schily: Nein, ich sage nur, das sind zwei Aufgaben, die unterschiedliche Perspektiven und Reichweiten haben. Auch als Verteidiger bin ich ein Anwalt für den Rechtsstaat. Das heißt, ich muss dafür sorgen, dass die rechtsstaatlichen Garantien eingehalten werden, fairer Prozess, Unschuldsvermutung. In der staatlichen Verantwortung ist das natürlich eine ganz andere Haltung, die aber hier genauso die Legitimation hat. Die drei Fälle, die Sie ansprechen, Herr Burchardt, die kann ich sehr einfach kommentieren. Das NPD-Verbotsverfahren ist gescheitert, weil das Bundesverfassungsgericht da eine falsche Entscheidung getroffen hat. Das muss ich ganz offen sagen, ich bleibe dabei. Ich habe großen Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht, erlaube mir aber auch, einmal zu sagen, dass es auch vor Fehlern nicht gefeit ist.
Burchardt: Der formelle Vorwurf war falsch?
Schily: Nein. Man hat gesagt, die ganze NPD sei vom Verfassungsschutz gesteuert, was ein völliger Unsinn ist. Denn Leute, Informanten, die man gewonnen hat, sind ja nicht Mitglieder des Verfassungsschutzes, sondern Informanten. Auch ein Informant, der aus der kriminellen Szene gewonnen wird, wird nicht dadurch Mitglied der Polizei. Das war eine fehlerhafte Entscheidung. Und wenn man jetzt vor der Situation steht, dass man entweder die Beobachtung einer verfassungsfeindlichen Partei einstellen muss, was die Pflichtaufgabe des Verfassungsschutzes ist, oder man muss auf die Einleitung eines, wie ich finde, begründeten Parteiverbotsverfahrens verzichten, dann weiß ich nicht, wie man damit umgehen will.
Burchardt: Also jetzt noch mal ein neuer Anlauf?
Schily: Ja, wenn das Verfassungsgericht bei seiner jetzigen Haltung, der damaligen Haltung bleibt, dann ist ein Verbotsverfahren wenig aussichtsreich. Das ist klar. Obwohl ich die NPD nach wie vor für verbotswürdig halte. Es ist ein schlimmer Fall, ein schlimmer Sachverhalt, dass Sie und ich für diese Partei noch Steuergelder zahlen müssen.
Burchardt: Aber bei Cicero sind Sie natürlich auch im neuen Gewerbe in starke Kritik geraten?
Schily: Ja, völlig zu Unrecht. Denn auch da werden die Dinge völlig durcheinander gebracht. Was ist denn bei Cicero geschehen? Bei Cicero hat es eine Durchsuchung gegeben, für die ist verantwortlich der Staatsanwalt und das Gericht. Ich als Innenminister kann weder eine Durchsuchung beantragen, noch kann ich sie etwa verfügen. Das würde ich auch den Teufel tun. Als Innenminister darf ich das gar nicht.
Burchardt: Aber Sie haben das unterstützend kommentiert.
Schily: Nein, was heißt unterstützend kommentiert? Nein, nein, verehrter Herr Burchardt, auch da sind Sie leider schlecht informiert! Denn was darf ich als Innenminister? Was ich getan habe, ist, es wurde seinerzeit ein Ermittlungsverfahren gegen einen Journalisten eingeleitet wegen Geheimnisverrat. Das ist Sache der Staatsanwaltschaft. Ich hätte jetzt die Möglichkeit gehabt zu sagen, ich gebe dazu nicht die Genehmigung, und zwar deshalb, weil ich sage, dadurch könnten die Interessen des Staates beeinträchtigt werden. Es kam ja im Ermittlungsverfahren auch so zu Gefahrensituationen. Die Genehmigung habe ich aber gegeben. Und ich bin ein großer Anhänger der Pressefreiheit. Aber ich bin nicht dafür, dass Journalisten sozusagen im rechtsfreien Raum agieren, sondern wir auch, der Staat hat das Recht sein Geheimnis zu wahren, genauso wie ja die Journalisten sehr darauf achten, dass ihr Pressegeheimnis gewahrt bleibt. Man sagt, ja nicht die Informanten und so weiter. Das verstehe ich auch. Dann hat man gesagt, ja, aber wir wollen doch, wir müssen doch - selbst wenn das Skandale sind - dann müssen wir doch mal auch Informationen gewinnen können. Da sage ich, aber liebe Freunde, darum geht es doch gar nicht. Hier ist die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ein Skandal, da kann man nun auch nicht. Es ging ja darum, Ausforschung eines Ermittlungsverfahrens. Die Sache ist ganz kompliziert. Und ich hab mir da nicht den geringsten Vorwurf zu machen.
Burchardt: Ist das denn falsch vermittelt worden in die Öffentlichkeit?
Schily: Ja, leider. Von einigen Leuten, auch leider vom Deutschen Journalistenverband in einer, wie ich finde, absolut unzulässigen Form. Ich hab mich gewundert, dass so ein großer Journalist, ist ja nun wirklich ungeheuer begabter Mann wie eben Herr Prantl, das völlig verzerrt dargestellt hat, der wissen muss, dass ich gar nicht das darf und weder kann und weder gemacht habe. Was war Ihr Drittes, mit der Biometrie?
Burchardt: Wir können das auch mit der Online-Durchsuchung vielleicht dann noch zusammennehmen. Gegen Ende Ihrer Dienstzeit wurde ja irgendwie gesagt, na ja, der Schily, der ist eigentlich inzwischen in der falschen Partei.
Schily: Nein, nein, auch das ist, die Betrachtungsweise ist falsch, denn ich bin immer dafür eingetreten, dass wir als Sozialdemokratie eine Partei von Recht und Ordnung sind, Law and Order, das heißt es. Das heißt, wenn man in einer freiheitlichen Gesellschaft leben will, dann braucht man Recht und Ordnung. Wir nennen die Europäische Union einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes. Und dieses Spannungsverhältnis, was manchmal zwischen Freiheit und Sicherheit entsteht, ist eben das Recht. Und deshalb muss man für Recht und Ordnung sein. Wer frei leben will, der braucht das. Und deshalb gibt es da gar kein Vertun. Wir dürfen das nicht irgendwelchen Konservativen oder Reaktionären überlassen. Das ist ein Urthema für die Sozialdemokratie. Da fühle ich mich durchaus auch einig etwa wie Tony Blair, der das auch gesagt hat, und mit Gerhard Schröder. Und wenn Sie dann über bestimmte Dinge reden, dann sehe ich auch, dass sich da die Proportionen zum Teil in einer Weise verschoben haben, dass ich schon meine, da muss man noch mehr Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit leisten, als das bisher der Fall war. Biometrie ist wichtig, um heute eine sichere Identifizierung und Authentifizierung von Personen zu gewährleisten.
Burchardt: Herr Schily, ganz zum Schluss, mit der Bitte auch um eine kurze Antwort. Sie wirken sehr engagiert, sehr vital. Wann kehren Sie ein Ministeramt zurück?
Schily: Nein, nein das ist passé. Das war eine sehr interessante und spannende Erfahrung, wofür ich dankbar bin. Sieben Jahre Innenminister reicht. Nein, ich werde noch mein Parlamentsmandat ausüben bis 2009.
Burchardt: Bis zur nächsten Wahl, dann nicht mehr?
Schily: Dann werde ich auch nicht mehr, dann bin ich 77, und da ich ja mit meiner anthroposophischen Erziehung in Jahrsiebten denke, passt das gut. Ich wollte ja schon mit 70 aufhören. Aber nun gut, sind es noch sieben Jahre länger geworden. Jetzt werde ich im nächsten Jahr 77, und dann ist es gut. Und jetzt kann ich einen kleinen Spaß noch zum Schluss sagen. Ich könnte dann ja, dann wird ja Horst Köhler wiedergewählt ...
Burchardt: Wenn er antritt.
Schily: ... wenn er antritt, ich denke schon, und dann wird er für fünf Jahre gewählt, und von 2009 wäre das dann 2014. Im Jahr 2014 wäre ich 82. Und das ist nach den italienischen Gepflogenheiten das Alter, indem man als Präsident kandidiert. Mein Freund Giorgio Napolitano ist mit 82 italienischer Staatspräsident geworden. Dann kann ich ja dann mal mit meiner Frau diskutieren, ob ich dann als Bundespräsident kandidiere. Ich kann Ihnen aber verraten, meine Frau ist strikt dagegen. Und ich werde dem Rat meiner Frau folgen.
Burchardt: Schönen Dank, Herr Schily!