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"Jetzt wollen wir an allen Grenzen Freunde haben"

Jüngst die überraschende Aufnahme politischer Beziehungen mit Armenien, offene Gespräche mit Kurden im eigenen Land: Die Türkei ist als Großmacht in spe im Begriff des Wandels. Sie kann auch nicht anders.

Von Gunnar Köhne | 02.09.2009
    Der türkische Finanzminister Mehmet Simsek besucht sein Heimatdorf in der Nähe der syrischen Grenze. Die mitgereisten Fernsehreporter wollen die älteren Bewohner über den berühmten Sohn ihres Dorfes befragen. Doch die sprechen nur kurdisch. Kein Problem: Der kurdischstämmige Minister springt als Dolmetscher ein.
    Selbst als langjähriger Beobachter des Landes staunt man darüber, wie in diesen Tagen in der Türkei vieles selbstverständlich scheint, was noch vor kurzem bei Strafe ausgeschlossen war. Seit Wochen wird in der Türkei hitzig über einen radikalen Kurswechsel in der Kurdenpolitik debattiert, auch wenn noch immer nicht klar ist, was genau das angekündigte Maßnahmenpaket der Regierung enthalten wird. Ankara will noch ein paar Wochen länger mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen über das Thema sprechen - schließlich, sagt Ministerpräsident Erdogan, gehe es nicht um die Kurden, sondern um eine generelle Demokratisierung des Landes. In einem Land, in dem Fortschritt, wenn überhaupt, immer von oben kam, ist das ein neuer Politikstil.
    Und mitten in die innenpolitische Debatte um die Kurden platzt die Nachricht, dass mit dem Erzfeind Armenien die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und damit auch die Öffnung der Grenzen vereinbart worden ist. Außenminister Ahmet Davutoglu formuliert dafür eine drastische Begründung:
    "Sogenannte eingefrorene Konflikte sind wie entsicherte Handgranaten. Sie können jederzeit in unseren Händen explodieren. Das haben wir im vergangenen Jahr beim Krieg in Georgien gesehen."
    Die Türkei ist auf dem Weg zu einer regionalen Großmacht. Zu den G-20-Staaten gehört das Land schon länger, durch Pipelines, die vom Kaspischen Meer aus über Anatolien gen Europa führen, hat sie sich für den Westen zu einem unverzichtbaren Energiekorridor entwickelt. Um dieser neuen Rolle gerecht zu werden, muss die Türkei einerseits ihre innenpolitischen Konflikte bewältigt haben – und zu denen zählt als größter Konflikt zweifellos die Kurdenfrage. Um als regionale Macht wahrgenommen zu werden, muss die Türkei aber andererseits unter Beweis stellen, dass sie in Südeuropa genauso wie im Kaukasus und im Nahen Osten zu Stabilität und Entspannung beitragen kann. Das will sie vor allem den westlichen Freunden zeigen: Mit der neuen Kurdenpolitik und der baldigen Grenzöffnung zu Armenien kommt Ankara Forderungen der EU nach. Mit der jüngsten Zusage an die NATO, 800 weitere Soldaten nach Afghanistan zu entsenden, einem Wunsch der USA. Der türkische Kulturminister Güney beschreibt das neue außenpolitische Denken so:
    "Lange waren wir in allen vier Himmelsrichtungen von Feinden umgeben. Jetzt wollen wir an allen Grenzen Freunde haben."
    Für eine Abkehr von hergebrachten politischen Denkweisen und Gewohnheiten ist der Zeitpunkt günstig, denn die Gegner jeglicher demokratischen Öffnung sind geschwächt. Nationalisten und Kemalisten fristen seit den letzten Wahlen im Parlament ein Schattendasein, die Armee ist durch die Ermittlungen gegen hohe Offiziere wegen mutmaßlichen Putschplänen diskreditiert. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung den Kurs der Regierung unterstützt. Ministerpräsident Erdogan hat sein politisches Schicksal mit dem Erfolg dieser Politik verknüpft:
    "Egal, welchen Preis wir dafür am Ende zu zahlen haben – wir werden von diesem Kurs nicht abweichen. Dieses Risiko sind wir bewusst eingegangen. Wer immer etwas zu diesem neuen Weg beitragen will und kann – Akademiker, Unternehmer, Arbeiter, Zivilorganisationen – der ist dazu herzlich eingeladen."