Freitag, 19. April 2024

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Jewgenija Ginsburg
"Marschroute eines Lebens"

Immer wieder waren es auch russischsprachige Autorinnen, die von den Schrecknissen des Stalinismus und dessen Folgen geschrieben haben. Eines der frühesten literarischen Zeugnisse über den Stalinschen Gulag erschien vor knapp einem halben Jahrhundert, selbstverständlich nur im Westen: Die Erinnerungen der Journalistin Jewgenija Ginsburg.

Von Rolf Schneider | 18.01.2016
    "Ich habe mich bemüht, alles im Gedächtnis zu bewahren, in der Hoffnung, es eines Tages jenen guten Menschen erzählen zu können, jenen echten Kommunisten, die mich irgendwann gewiss, ganz gewiss, anhören werden."
    Diese Sätze stehen am Eingang des Buches "Marschroute eines Lebens" von Jewgenija Ginsburg. Die Autorin erzählt darin von ihrer Leidenszeit als politisch Verfolgte unter Josef Stalin. Nach fast zwei Jahrzehnten Haft und Verbannung 1953 entlassen, wurde sie später offiziell rehabilitiert und trat der Partei, aus der sie 1937 ausgeschlossen worden war, wieder bei.
    Ihre Erinnerungen erschienen 1967, freilich nicht in ihrer Heimat. Jene wahren Kommunisten, die sie sich als Leser wünschte, waren da allenfalls Mitglieder der italienischen KP, denn ihr Verlag saß in Mailand. Fortan durfte sie in der Sowjetunion nicht mehr publizieren. Das russische Publikum musste bis 1998 warten, ehe es ihr Buch auf üblichem Wege beziehen konnte. Da war die Autorin längst tot. Zuvor hatte es bloß sowjetische Untergrundveröffentlichung gegeben.
    Tochter einer jüdischen Apothekerfamilie
    Jewgenija Semjonowna Ginsburg wurde 1904 als Tochter einer jüdischen Apothekerfamilie in Moskau geboren. Sie studierte Sozialwissenschaften und Pädagogik in der tartarischen Metropole Kasan, wo ihr späterer Ehemann Pawel Aksjonow Bürgermeister war. Bis bis zu ihre Verhaftung lehrte sie an der dortigen Universität.
    "Im Jahre 1937, als das alles über mich hereinbrach, war ich etwas über dreißig. Heute bin ich über fünfzig. Dazwischen liegen achtzehn Jahre, die Jahre dort. Die verschiedensten Gefühle haben mich in diesen Jahren gequält. Aber dominierend blieb immer das Staunen: Ist das denn denkbar? Kann das denn wahr sein?"
    Es ist wahr gewesen und nicht nur in ihrem Fall. Als vorgebliche Trotzkisten und Volksfeinde wurden damals um die siebenhunderttausend Menschen hingerichtet. Die Gesamtzahl der Inhaftierten ging in die Millionen. "Marschroute eines Lebens" war dazu eines der ersten, von einer unmittelbar Betroffenen verfassten Zeugnisse. Die große Abrechnung Alexander Solschenizyns erschien erst sechs Jahre danach.
    Jewgenija Ginsburg beginnt ihren Bericht nicht mit ihrer Verhaftung, sondern mit dem Attentat auf den Leningrader Parteichef Sergej Kirow im Jahre 1934. Der, ein brutaler Stalinist, war gleichwohl in der Partei ungleich populärer als der Diktator im Kreml. Dass der tödliche Anschlag von Stalin inszeniert worden sei, ist immer wieder gemutmaßt, doch nie eindeutig belegt worden. Stalin nahm ihn nur als willkommenen Anlass für jene Verfolgungen, die dann, ab 1936, in den alles umfassenden Terror der Tschistka mündeten.
    "Die Zeitungsblätter ätzten, verwundeten und vergifteten das Herz, wie der Stachel eines Skorpions. Nach jedem Prozess wurde die Schlinge enger gezogen. Das Leben wurde bestimmt durch den neuen furchtbaren Terminus 'Volksfeind'. Jedes Gebiet und jede nationale Republik mussten, irgendeiner ungeheuerlichen Logik entsprechend, ihre eigenen 'Volksfeinde' haben"
    Darunter die Ginsburg. Ihr Vergehen bestand darin, eine Unbotmäßigkeit, von der sie keine Kenntnis haben konnte, nicht angezeigt zu haben. Ihr Buch schildert die Verhöre, die selten höflich, meist brutal geführt wurden. Es schildert die elenden Bedingungen in den wechselnden Haftanstalten. Es erzählt von Mitgefangenen. Der Prozess gegen sie vor einem Militärgericht ist eine Farce. Die verhängte Strafe muss sie in wechselnden Lagern verbüßen.
    Keine zwischenmenschlichen Kontakte im Gulag
    Einer ihrer Vernehmer sagt einmal, man sei doch nicht die Gestapo. Die Anmerkung macht unfreiwillig aufmerksam auf Parallelen zwischen Sowjet- und Hitlerherrschaft. Freilich gab es da auch Unterschiede, etwa bei den Lagern: Jene der Nazis waren primär auf Menschenvernichtung angelegt, jene Stalins auf Zwangsarbeit, die freilich menschenvernichtende Dimensionen annehmen konnte. Immerhin, auch das schildert die Ginsburg, waren im Gulag kleine zwischenmenschliche Kontakte möglich, selbst Liebesbeziehungen. Die Autorin traf hier einen aus Deutschland stammenden Mediziner, der sich um sie kümmerte und den sie später in zweiter Ehe heiraten würde.
    Den Diktator Stalin hat die Autorin einmal direkt erlebt, anlässlich der Beisetzung des Dichters Maxim Gorki.
    "Ich lüge nicht, wenn ich behaupte, dass ich damals ohne jede Verehrung sein Gesicht betrachtete. Ich war überrascht, wie hässlich es war und wie wenig es jenem majestätischen Antlitz ähnelte, das von Millionen von Bildnissen gütig auf uns herabblickte. Von Verehrung konnte bei mir wirklich keine Rede sein, eigentlich nur von verhohlener Feindseligkeit."
    Dass sie gleichwohl an der kommunistischen Partei und deren Verheißungen festhielt bis zuletzt, muss da irritieren. Der jüngere ihrer beiden Söhne, der Schriftsteller Wassili Aksionow, hat diese Haltung seiner Mutter nicht geteilt. Gepeinigt von staatlichen Schikanen, floh er 1980 in die USA.
    1967, als Jewgenija Ginsburgs Buch erschien, war das Jahr der beginnenden Studentenrevolten. "Marschroute eines Lebens" wurde von denen begrüßt, die sich davon in ihrer antikommunistischen Haltung bestätigt sahen, die Neomarxisten ignorierten es. Erst Solschenizyns Bücher haben dann zu allgemeiner Ernüchterung geführt und dies zumal in Frankreich.
    Jewgenia Ginsburg: "Marschroute eines Lebens", Rowohlt Verlag, 1967, das Buch ist derzeit nur antiquarisch erhältlich