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Joachim Perels: Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime

Künstler, die bis zum Ende des NS-Regimes mit den Wölfen geheult hatten, konnten sich auch in der frühen deutschen Nachkriegsgesellschaft in ihrem Schweigen und Verdrängen gut aufgehoben fühlen. Bis weit in die 60er Jahre war Vergangenheitspolitik nicht gerade eine allgemein geförderte Disziplin. Besonders kam das in der Haltung der Justiz zum Ausdruck, die sich leichter tat, den Widerstand gegen das Regime für illegal zu befinden, als Täter und Mitläufer vor dem nun demokratischen Gesetz zur Rechenschaft zu ziehen. Mit den Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime hat sich seit Jahren der Jurist und Politikwissenschaftler Joachim Perels auseinandergesetzt. Seine Studien zum Thema sind nun im Offizin Verlag unter dem fragenden Titel erschienen: "Entsorgung der NS-Herrschaft?" Horst Meier hat das Buch für uns gelesen.

Von Horst Meier |
    "Die historische Entwicklung der Bundesrepublik gilt als rechtsstaatlich-demokratische Erfolgsgeschichte. Diese Sicht, die im Blick auf die verfassungsrechtlichen Institutionen und dem politischen Prozess im Wesentlichen zutreffend ist, kann jedoch für den Umgang mit der NS-Herrschaft keine generelle Gültigkeit beanspruchen. "

    Das zeigte sich, schreibt Joachim Perels, vor allem an der Tendenz der Justiz, den Widerstand gegen Hitler als illegal zu beurteilen, Straffreiheit für Schreibtischtäter zu gewähren, Kriegsverbrechen der Wehrmacht zu entschuldigen und Richter freizusprechen, die auf der Grundlage extrem judenfeindlicher Gesetze hasserfüllte Todesurteile gefällt hatten.

    Perels, der Politische Wissenschaft in Hannover lehrt, wendet sich auch aktuellen Debatten um Form und Inhalt des Gedenkens zu und plädiert für eine angemessene, das heißt "unverstellte" Wahrnehmung des Nationalsozialismus. Zudem beschwören seine biographischen Skizzen über die "Zeugen der Erinnerung" das moralische und intellektuelle Vermächtnis von Männern wie Martin Niemöller, Eugen Kogon, Wolfgang Abendroth und Fritz Bauer. Doch den Schwerpunkt des Bandes bilden die ersten zwei Kapitel: "Strukturen der NS-Despotie" und "Das Hitler-Regime vor dem Forum des Rechts".

    Da ist das inzwischen gut erforschte Problem der personellen Kontinuität: Die alten Eliten wurden nach einer von den Alliierten erzwungenen Entlassungswelle schon bald in Verwaltung, Justiz und Rechtswissenschaft wieder verwendet. Mit fatalen Folgen für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen, wie man weiß. Um nur das markanteste Beispiel zu nennen: In der Rechtsprechung der Strafgerichte gab es die augenfällige Neigung, Täter, die direkt am Massenmord beteiligt waren, als bloße "Gehilfen" einzustufen. Fritz Bauer, tatkräftiger Generalstaatsanwalt in Hessen, resümierte:

    "Hinter der bei den Gerichten bis hinauf zum Bundesgerichtshof beliebten Annahme bloßer Beihilfe steht die nachträgliche Wunschvorstellung, im totalitären Staat der Nazi-Zeit habe es nur wenige Verantwortliche gegeben, es seien nur Hitler und ein paar seiner Allernächsten gewesen, während alle übrigen lediglich vergewaltigte terrorisierte Mitläufer oder depersonalisierte und dehumanisierte Existenzen waren, die veranlasst wurden, Dinge zu tun, die ihnen völlig wesensfremd waren."

    Man kann es heute kaum nachvollziehen, aber es ist wahr: Jene, die mit Maschinenpistole und Schnapsflasche an den Erschießungsgräben der mobilen Mordkommandos, den so genannten Einsatzgruppen, standen, jene, die den Anstaltsmord an Behinderten und Geisteskranken im weißen Arztkittel durchführten, wurden als "Gehilfen" zu Freiheitsstrafen von zwei, drei Jahren verurteilt. Perels macht deutlich, wie es zu solchen "Streichelstrafen" für Massenmörder im Dienste des NS-Staats kommen konnte: Mit Hilfe einer extrem subjektivierten juristischen Täterlehre war es möglich, unmittelbar Tatbeteiligte als "kleine Rädchen" im Getriebe einer nahezu subjektlosen Tötungsmaschinerie zu entschuldigen. "Ein Täter, Hitler, und ein Volk von Gehilfen", kommentierte der Strafrechtslehrer Jürgen Baumann diese Konstruktion.

    Perels weist darauf hin, welche Doppelfunktion eine antiliberale Sichtweise hatte, die nicht auf objektive Sachverhalte abstellte, sondern auf die innere Willensrichtung und Gesinnung des Täters fixiert war. Während sie schon in der Weimarer Republik und ungleich radikalisierter im NS-Staat dazu diente, bloße Meinungsäußerungen von Kommunisten als Vorbereitung eines gewaltsamen hochverräterischen Unternehmens einzustufen und damit die Strafbarkeit uferlos auszudehnen, war sie in der Bundesrepublik gegenüber NS-Tätern für das Gegenteil gut: die Strafbarkeit einzuschränken. Was, am Rande gesagt, nicht daran hinderte, gleichzeitig die eingeübte Feinderklärung gegen links zu praktizieren. Auf sechs- bis siebentausend verurteilte Kommunisten brachte man es in den fünfziger und sechziger Jahren. Meist wurde bloße kommunistische Propagandatätigkeit kriminalisiert – auch solche, die vor 1956 lag, dem Jahr des KPD-Verbots. Eine Rechtsprechung, die 1961 durch das Bundesverfassungsgericht korrigiert wurde. Die Gesinnungsparagraphen des politischen Strafrechts wurden erst 1968 unter dem damaligen Justizminister Gustav Heinemann gestrichen. Perels bezieht sich hier auf das Standardwerk, das Alexander von Brünneck 1978 über die "Politische Justiz gegen Kommunisten" publizierte.

    Zum Versagen der Justiz kam das der Bundesregierung: In den Verhandlungen um die Europäische Menschenrechtskonvention verhinderte diese, dass der in Artikel 7 Absatz 2 statuierte Grundsatz, NS-Täter ohne Rücksicht auf das zur Zeit der Tat geltende Recht zu bestrafen, für die Bundesrepublik in Kraft treten konnte.

    Im Rückblick wird freilich eines klar: All diese Fehlleistungen und Defizite haben mit einem meist gar nicht wahrgenommenen Problem zu tun, wie Perels ausführt, das in der Gründungsgeschichte der Bonner Republik verborgen liegt.

    "Der Nationalsozialismus ist nicht durch eine von den Deutschen getragene Revolution überwunden worden. Unterhalb der neuen demokratisch legitimierten Spitze behielten latente oder offene Teilrechtfertigungen für die Diktatur ein starkes Gewicht. Die Legitimationslinien konvergieren in einem bis heute wirksamen Nationalismus, der die unverstellte Wahrnehmung der nationalsozialistischen Staatsverbrechen blockiert und die Schuldfrage entschärft - durch die Gleichsetzung der Untaten der Nazis und der Kriegshandlungen der Alliierten."

    Kränkelndes demokratisches Selbstbewusstsein und die heutigen Geschichtsdebatten sind vor dem Hintergrund der ausgebliebenen Selbstbefreiung besser zu verstehen. So auch die jüngste Konjunktur der Vergangenheitspolitik, in der, was den Luftkrieg anbelangt, eine früher eher im privaten Kreis beschworene Leidensgeschichte der Deutschen nun öffentlich wiederentdeckt wird. Perels nennt es "ungeheuerlich", dass ein Autor wie Jörg Friedrich in seinem Bestseller "Der Brand" alliierte Bomberflotten als "Einsatzgruppen" oder brennende Luftschutzkeller als "Krematorien" bezeichnet. In immer neuen Anläufen deckt Perels alte und neue Tendenzen auf, dem schwärzesten Kapitel der deutschen Geschichte auszuweichen. Dass diese so leidenschaftliche wie kluge Auseinandersetzung biographisch grundiert ist, erfährt man beiläufig in einem Text über die "Politischen Dimensionen letzter Äußerungen von Widerstandskämpfern". Unter ihnen findet sich Friedrich Justus Perels. Sein Vater, so der Autor, war Rechtsberater der Bekennenden Kirche und opponierte "gegen die Verwandlung des Protestantismus in eine Filiale der Diktatur". Er wurde als Mitverschwörer des 20. Juli vom so genannten Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und 1945, kurz vor der Befreiung, hingerichtet. Joachim Perels, geboren 1942, war damals nicht einmal drei Jahre alt. Die heilige Schrift seiner "Bekennenden Kirche" ist das Grundgesetz, zu dessen antinazistischem Kern er die Würde des Menschen sowie das Recht auf Leben und das Verbot der Todesstrafe zählt. Mit Scharfsinn und leiser Melancholie beleuchtet er in seinem Buch die Schattenseiten der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte, legt die Narben bloß, die eine unzureichende, oftmals gescheiterte Aufarbeitung der NS-Verbrechen schlug.

    Horst Meier war das über "Entsorgung der NS-Herrschaft?" von Joachim Perels. Das Buch mit 384 Seiten ist im Offizin Verlag erschienen und kostet 22.90 Euro.