Montag, 29. April 2024

Archiv


Jobs für Jedermann

Für einen Hungerlohn in Fabriken schuften - das war das Schicksal vieler Wanderarbeiter in China noch vor einigen Jahren. Doch nun kommt der Aufschwung in ganz China an, sodass es in den Industriezentren an Arbeitskräften fehlt. Wanderarbeiter können sich nun den Job aussuchen - und beginnen, Forderungen zu stellen.

Von Markus Rimmele | 27.03.2010
    "Kostenlose Jobmesse! Kommt nach oben in den zweiten Stock!", ruft der Lautsprecher den Passanten in Endlosschleife zu. Doch keiner reagiert. Acht Uhr morgens auf der Baoan-Straße im südchinesischen Shenzhen.

    In normalen Zeiten wäre hier jetzt die Hölle los: Junge, frisch angekommene Wanderarbeiter würden vor Jobanzeigen Schlange stehen, Arbeitgeber die Suchenden begutachten, Jobagenten junge Männer und Frauen in ihre Läden ziehen. Doch an diesem Morgen lesen nur ein paar Versprengte die Anzeigen auf den großen Tafeln. Auf der Baoan-Straße, wo Shenzhens Arbeitsagenturen sitzen, ist es ruhig geworden. So ruhig, dass auch Wang Gongnians Geschäft nicht mehr läuft. Er vermietet Schlafplätze an die neu Zugewanderten, die noch keinen Job mit Unterkunft haben. Ein Bett für einen Euro pro Nacht. Früher wohnten die Arbeitssuchenden oft wochenlang bei ihm, erzählt Wang. Doch das ist vorbei.

    "Heute finden die so leicht eine Arbeit, viel schneller als vergangenes Jahr. Es dauert nur ein, zwei Tage, dann haben sie einen Job und mieten nicht mehr meine Betten!"

    Lässig schreitet Ye Lusheng die Jobaushänge ab, die Hände in den Hosentaschen. Er ist 22 Jahre alt und gestern in Shenzhen angekommen. Er stammt aus der Binnenprovinz Hunan. Vor einer Anzeige bleibt er kurz stehen. Eine Firma, die Elektronikkomponenten herstellt, sucht Fließbandarbeiter. Zwei Wochen Probezeit. Verdienst knapp 200 Euro im Monat. Ye Lusheng schüttelt den Kopf.

    "Ich möchte mindestens 220 Euro im Monat inklusive Verpflegung und Unterkunft. Und wenn möglich, möchte ich auch gar nicht in einer Fabrik arbeiten. Das mache ich nur im Notfall. Aber ich glaube, es gibt genügend andere Jobmöglichkeiten. Ich würde gern als Fitnesstrainer oder im Hotelmanagement arbeiten."

    Langsam schlendert Ye Lusheng weiter. Plötzlich kommt eine wütende Job-Agentin angelaufen und verlangt ein Ende der Reporterinterviews. Das vergraule ihr ja noch die letzten Kunden. Die Lage ist spürbar angespannt auf dem Jobmarkt in Shenzhen. Fabrikarbeit ist out.

    Chinas Industriezentren im Osten und Süden suchen händeringend nach Arbeitskräften. Allein im Perlflussdelta, wo Shenzhen liegt, fehlen fast eine Million Fabrikarbeiter. In der Stadt Dongguan, ganz in der Nähe, kommen auf einen Jobsuchenden zwei freie Stellen. Dieser Personalmangel hat mehrere Ursachen. Zum einen müssen viele junge Leute nicht mehr in die Industriestädte an der Küste ziehen, um Geld zu verdienen, sagt Geoffrey Crothall vom China Labour Bulletin in Hongkong. Die Organisation kämpft für die Rechte der chinesischen Arbeiter.

    "Die meisten Wanderarbeiter kommen aus den chinesischen Binnenprovinzen. Diese erleben aber gerade selbst einen Wirtschaftsboom. Unternehmen entstehen, Fabriken ziehen dorthin, Jobs werden geschaffen. Die Jobs sind vielleicht nicht ganz so gut bezahlt wie an der Küste. Aber dafür sind auch die Lebenshaltungskosten niedriger. Und der große Vorteil ist: Die Arbeiter sind bei ihren Familien, brauchen sich keine Sorgen um die Ausbildung und medizinische Versorgung ihre Kinder zu machen und können sich um ihre Eltern kümmern."

    Seit Jahren versucht die chinesische Regierung, die rückständigen Binnenprovinzen wirtschaftlich zu stärken. Während der Finanzkrise legte Peking ein gigantisches Konjunkturpaket von 460 Milliarden Euro auf. Ein Großteil davon floss in die Entwicklung und Infrastruktur Zentralchinas. Ein Wachstumsschub. Selbst von der Landwirtschaft lässt es sich mittlerweile vielerorts wieder leben. Viele junge Menschen bleiben nun in der Heimat.

    Doch nicht nur der Boom im Landesinneren ist schuld an dem Arbeitermangel an der Küste. Chinas Arbeitnehmer sind auch anspruchsvoller geworden. Die zweite und dritte Generation der Wanderarbeiter will, wie Ye Lusheng aus Hunan, oftmals nicht mehr für einen Hungerlohn am Fließband malochen. Ihre Eltern haben in ihre Schulbildung investiert und hart dafür gearbeitet, dass sie es einmal besser haben. Und so bieten die Shenzhener Arbeitsvermittler die Fabrikjobs an wie Sauerbier.

    Der 23-jährige Zhao Yong aus der Provinz Sichuan hat auch noch nichts Passendes in den Jobanzeigen gefunden. Er will in den Handelsbereich. Seit zwei Monaten ist er in der Stadt. Seine erste Anstellung als Fabrikarbeiter will er kündigen.

    "Es gibt viele Jobs. Aber es gibt nicht genug Jobs, die zu einem passen. Da ist eine Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage. Die Firmen suchen Leute, die einfach sofort arbeiten. Aber sie wollen einem nichts beibringen. Aber ich will einen Job, bei dem ich etwas lernen und mich verbessern kann."

    Chinas Industrie braucht zwar auch immer mehr gut ausgebildete Mitarbeiter, doch nach wie vor auch Millionen und Abermillionen von Arbeitern, die einfache Tätigkeiten ausführen. Der Arbeitskräftemangel ist gefährlich für Chinas Wirtschaft. Viele Fabriken arbeiten derzeit nur mit der Hälfte oder Dreiviertel der erforderlichen Belegschaft. Die Kunden bekommen das zu spüren. Zum Beispiel Hans Joachim Isler mit seinem gleichnamigen Unternehmen mit Sitz in Hongkong. Isler lässt in China Oberbekleidung für den europäischen Markt herstellen. Die Firma arbeitet mit 20 Fabriken zusammen. Diese können jetzt teilweise nicht mehr rechtzeitig liefern.

    "Jetzt versuchen wir natürlich nur, feuerwehrmäßig diesen Brand zu löschen, und es gelingt eigentlich auch sehr gut, weil: Man findet immer mal wieder Partnerbetriebe, wo Kapazitäten frei sind. Aber generell gibt es natürlich langfristig größere Befürchtungen, dass dieses Problem noch schlimmer wird. Und die Konsequenz daraus sieht man jetzt."

    Isler plant, wegen der Engpässe Teile der Produktion nach Vietnam zu verlegen, wo noch genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.

    China werde als Produktionsstandort im Textilbereich immer schwieriger, sagt Isler. Durch den Arbeitermangel steigt das Selbstbewusstsein der Belegschaften, die um ihren Wert wissen. Sie stellen Forderungen: höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen. Manchmal verlangen sie gar Mitsprache bei Produktionsentscheidungen.

    "Wir sehen es sogar so, dass bei uns mit unseren aufwendigen Produkten manch ein Betrieb sagt: Wir wollen das nicht machen, das ist uns zu schwierig. Wir wollen ein spezifisches Modell nicht machen, weil unsere Arbeiter, die machen das ungern. Und deshalb macht das lieber woanders!"

    Der Mangel an billigen und willigen Fabrikarbeitern könnte nun einen Strukturwandel beschleunigen, der ohnehin schon im Gange und politisch gewollt ist: China soll nach dem Willen Pekings kein Billiglohnland mehr sein, sondern ein Ort für höherwertige Produktion und Hightech. Die Jobsuchenden in Shenzhen sind dafür schon gerüstet. Und die Wirtschaft wird nachziehen.