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Jörg Meier, Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss. Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg

Er ist Schweizer, heißt Jörg Meier und nennt sich "Jürgmeier" - in einem Wort. Auf seiner Internetseite präsentiert er sich als "Schriftsteller, Berufsschullehrer, Erwachsenenbildner" und bietet "Produkte und Dienstleistungen im Bereich des geschriebenen und gesprochenen Wortes" an. Sein Spezialgebiet scheint die Selbstreflexion des Mannes als Mann zu sein, aber auch an die Probleme der Globalisierung hat er sich gewagt. Nun hat sich der eifrige Herr Jürgmeier mit jenem Übereifer der eidgenössischen Staatsschützer beschäftigt, der ausgerechnet 1989 bekannt wurde und der darauf schließen ließ, dass der Schnüffelinstinkt Schweizer Geheimdienstleute nicht weniger ausgeprägt war als der ihrer Kollegen jenseits der Elbe.

Stephan Wehowsky |
    Die Schweiz hat den Zweiten Weltkrieg gut überstanden. Sie wurde in keine Kampfhandlungen verwickelt, sie wurde nicht besetzt. Doch sie hat Federn gelassen. Die Alliierten haben ihr Kollaboration mit Nazi-Deutschland vorgeworfen. "Sechs Tage arbeiten die Schweizer für die Nazis", sagten die Engländer im Krieg, "am siebten beten sie für den Sieg der Alliierten." Und wegen der immensen Vermögen, die von Deutschland aus auf Schweizer Banken transferiert worden waren, geriet die Schweiz 1997 durch den Eizenstat-Bericht über "Das Benehmen der neutralen Staaten Europas während des Zweiten Weltkriegs" massiv unter Druck. Zudem belastet die bis heute umstrittene Asylpolitik insbesondere gegenüber den verfolgten Juden das schweizerische Selbstbewusstsein.

    Keine weiße Weste also, aber die Kriegsgeneration hat diese unangenehmen Tatsachen verdrängt. Einspruch erhoben Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, danach selbstverständlich die 68er Literaten. Da ist ein unverwechselbarer Ton in der Schweizer Literatur entstanden, der gekennzeichnet ist durch bitteren Hohn. Dieser Hohn drückt das Gefühl aus, es unverdientermaßen allzu gut zu haben. Etwas, so lässt sich dieses Gefühl weiter umschreiben, stimmt nicht mit einem Land, das seine Bürger inmitten weltweiter Not und Gefahr so gut hat davonkommen lassen.

    Ohne dieses spezifische politisch-literarische Klima hätte Jürgmeier sein Buch weder schreiben noch erscheinen lassen können. Ausgangspunkt ist die so genannte Fichenaffäre von 1989, wobei man wissen muss, dass das Wort "Fiche"" aus dem Französischen kommt. Die "Fiche" ist eine Karteikarte. Und in der Fichenaffäre ist die Tatsache aufgeflogen, dass schweizerische Behörden über Jahrzehnte heimlich Karteikarten über alle Bürgerinnen und Bürger, die ihnen irgendwie ungewöhnlich oder verdächtig erschienen, angelegt haben. Das war ein Skandal, gegenüber dem die Stasi-Akten deswegen als harmlos erscheinen, weil man von der DDR ohnehin nichts anderes erwartet hatte. Trotz der Empörung der Betroffenen aber verlor dieser Fall schnell an Interesse.

    Auch wenn der Verfasser des Vorworts, der bekannte Schweizer Publizist, Schriftsteller und Theaterautor Manfred Züfle, gleich zweimal vom "allerletzten Aufschrei der Zivilgesellschaft" schreibt, kann dieser Vorgang Empörung auf Dauer nicht nähren. Denn das banale Versagen des Staatsschutzes - man kann auch von Übereifer sprechen - hat banale Ergebnisse gebracht. Anders als bei den Stasi-Akten erfuhren einzelne Ehepartner nicht, dass sie von ihrem Partner verraten worden waren. Das gleiche gilt für Freundschaften. Nun möchte Jürgmeier aber trotzdem Empörung wach halten. Dazu hat er Lebensgeschichten ausgewählt und diese in fiktive "Berichte" gegossen. Diese Berichte sind ineinander verwoben und reichen bis in den Zweiten Weltkrieg zurück. Mit großer sprachlicher Anstrengung versucht Jürgmeier, ganz banale Vorgänge mit Bedeutung aufzuladen. So heißt es im Bericht über Hansjörg B.:

    Fast hätte der Sonntag, an dem er zum Pazifisten werden sollte, ohne Hansjörg B. stattgefunden. Die Mutter stellte sich ihm in den Friedensweg, habe ihm verboten, an der nordwestschweizerischen Landsgemeinde der "Blaukreuzjugend" teilzunehmen, wegen der Schulaufgaben. Sie sei durch sein Ausrufen des Hungerstreiks konsterniert gewesen. Es ist ungewiss, wem ein bis zum bitteren Ende durchgehaltenes Fastenwochenende des jungen B. mehr auf den Magen geschlagen hätte, der besorgten Mutter oder dem hungernden Sohn, der bereit war, sich für seinen Auftritt an der Landsgemeinde zu quälen. Schließlich war der Flagellant der Verfasser des vorjährigen Protokolls und wollte es sich nicht nehmen lassen, es vor versammelter Hundertschaft selbst vorzutragen. Die durch söhnliche Hartnäckigkeit überraschte Mutter ließ es nicht bis zum Äußersten kommen, ging mit ihrem Fleisch und Blut ein, worauf schweizerische Politik ein Patent anmelden würde, wenn es ein entsprechendes Amt dafür gäbe - einen Kompromiss. Samstag über Büchern und an Mutters Fleischtöpfen, Sonntag im Wortgefecht und am landsgemeindlichen Rednerpult.

    Die zum Teil inhaltlich und grammatikalisch sinnlosen Sätze sind offensichtlich beabsichtigt. Und Jürgmeier ist durchaus in der Lage, die Banalität bis zum äußersten zu treiben. Im Bericht von Leni A., einer Pfarrerin, heißt es in Bezug auf Hiroshima und Nagasaki:

    "Da kamen ja noch Hiroshima und Nagasaki." - "Little Boy" und "Fat Man", wie die Verantwortlichen die ersten und bisher einzigen auf bewohntes Gebiet abgeworfenen Atombomben tauften. Nach Lesart der US-Regierungen das sanftestmögliche Ende des Krieges im Fernen Osten, gemäß sich erhärtenden historischen Erkenntnissen die furiose Eröffnung des nächsten Kampfes um mondiale Führerschaft. Die Toten - sie erfuhren nie, wofür sie verglühten, in wessen Namen sie verstrahlten.

    So geht es immer weiter. Jürgmeier versucht, jedes Schicksal, jeden banalen Gedanken als einzigartig zu präsentieren. Der Vielfalt subjektiven Erlebens stellt er einen Staat gegenüber, der diese kostbaren Ausformungen wie mit einem Insektenvernichtungsmittel auslöscht. Jürgmeier scheut sich nicht, in seiner gedrechselten, oftmals gekrampft witzig sein wollenden Sprache ein Gut-Böse-Schema zu präsentieren: Hier das gelebte Leben, dort die tote Maschinerie des Staates, die von skrupellosen Politikern bedient wird. Erst gegen Ende des Buches wird dieses Schema aufgeweicht, als nämlich die erwähnte Pfarrerin Leni A. an den südafrikanischen Politiker Gathsa Buthelezi schreibt und ihm vorwirft, mit solchen Kapitalistenknechten wie Reagan, Kohl, Chirac oder Thatcher zu kooperieren. Jürgmeier resümiert die Antwort Buthelezis:

    "Es ist stupid", dozierte er, "Angst vor dem großen Geld zu haben." Man (und frau) müsse das große Geld benutzen, um den Wechsel voranzubringen. "Als Schwarzafrikaner", erklärte er selbstbewusst, "verhandele ich mit Regierungen, unabhängig davon, wer gerade Staatsoberhaupt ist." Sie, Leni A., wies er ihr den Platz zu, habe ihr ganzes Leben im Westen verbracht und sei damit legitimiert zu einer Kritik des westlichen Kapitalismus, aber, fragte er, sei etwa der Kommunismus erfolgreich gewesen? Sei der westliche Sozialismus nicht "reiner Luxus, den sich nur die reichsten Länder der Welt leisten können"? Und: "Wenn Freundschaft endet, weil du darauf bestehst, dass ich politisch mache, was du willst - was für eine Freundschaft war das vorher?"

    Ab dieser Stelle hätte das Buch interessant werden können, aber da ist es schon zu Ende. In der Werbung wird nach dem amerikanischen Grundsatz verfahren: "If you have nothing so say, sing it." Jürgmeier verfährt ähnlich. Er möchte sein Missfallen an der Schweiz deutlich machen, aber es fehlen ihm die Materialien, mit denen er dieses Missfallen plausibel illustrieren könnte. Also webt er ein kompliziertes Geflecht von sogenannten Berichten, fügt dazwischen einige nahezu unverständliche Passagen unter der Rubrik "SchwarzundWeiß" ein und meint, auf diese Weise eine neuartige Synthese von Literatur und politischer Analyse zu erzeugen. Tatsächlich serviert er nur einen ebenso faden wie unverdaulichen Brei, so dass man sich fragt, warum Manfred Züfle im Vorwort geschrieben hat:

    Jürgmeiers nun vorliegendes Buch steht in der besten Tradition schweizerischer Literatur.

    Eine solche Zuordnung hat die schweizerische Literatur wirklich nicht verdient.

    Stephan Wehowsky über Jörg Meier, "Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss. Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg". Chronos Verlag Zürich, 274 Seiten, Euro 29.90