Donnerstag, 18. April 2024

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Johann Sebastian Bach

Das erste Wort, das von Bach überliefert ist, ist zugleich auch das frechste. "Zippelfagottist" nannte er in Arnstadt einen Musiker namens Geyersbach. Der griff ihn daraufhin auf dem Marktplatz tätlich an, Bach zog den Degen und wehrte sich. Der Streit landete vor dem Kirchenrat, und beide Streithähne wurden gerügt. Was ist denn nun ein "Zippelfagottist"? Leitet sich "Zippel" von "Ziege" ab, von "Zwiebel" oder von "discipulus", Schüler? Darüber streiten heute die Forscher. Viel bedauerlicher ist indes, dass nicht mehr Szenen dieser Art aus Bachs Leben bekannt sind. Die Persönlichkeit des Komponisten ist hinter seinem Werk so gut wie vollständig verschwunden.

Martin Ebel | 25.07.2000
    Wo wenig ist, darf man viel erfinden - und wenn es gut ausfällt, wird das Werk der Phantasie sogar für bare Münze genommen. Tausende von Leserinnen glaubten und glauben noch heute, die rührselige "Chronik der Anna Magdalena Bach" von der Engländerin Esther Meynell stamme tatsächlich von des Kantors zweiter Frau. Solche Mystifikationen sind auch im Jubiläumsjahr beliebt; Andreas Liebert etwa hat einen Roman geschrieben, der Bach aus der Perspektive seiner ältesten Tochter Catharina betrachtet. Er geht nach der Devise vor "auch Bach war ein Mensch" und muss uns nicht weiter beschäftigen. Kurioser das Vorhaben des Franzosen Philippe Delelis, Bach einen Religionswechsel anzudichten. Der Thomaskantor, fabuliert er in seinem Roman "Die letzte Kantate", sei heimlich Katholik geworden; und spinnt um diesen Einfall einen Kriminalplot, der über geheime Botschaften an Mozart, Wagner und Anton Webern bis in in unsere Tage reicht und so haarsträubend ist, dass es schon wieder Spass macht.

    "Niemand kann wissen, wie groß Bach wirklich war", schreibt der holländische Schriftsteller Maarten t'Hart in seinem schwärmerischen Buch "Bach und ich". Dass er aber der Größte war, ist nicht nur für die meisten Komponisten klar. Debussy nannte ihn den "lieben Gott der Musik", und von Mauricio Kagel stammt das bekannte Wort, nicht alle Musiker glaubten an Gott, aber alle an Bach.

    Der Größte ist er zweifellos auch für die Autoren der beiden großen Biographien, die zur 250. Wiederkehr des Todestages auf den Markt gekommen sind und natürlich beide den Anspruch erheben, das Standardwerk für unsere Zeit zu liefern. Schon der Umfang ihrer Bemühungen ist eindrucksvoll: Der "Bach" von Martin Geck (Ordinarius in Dortmund) ist 800 Seiten dick, der "Johann Sebastian Bach" von Christoph Wolff (Harvard), wenn man die kompakt gefüllte Druckseite berücksichtigt, eher noch dicker.

    Der potenzielle Käufer will natürlich wissen: Wer macht es besser? Das lässt sich in einem Satz beantworten: Geck ist wacker, aber Wolff ist brillant. Die Unterschiede liegen nicht in der Sache, sondern in deren Aufbereitung. Wenn die beiden Autoren überhaupt einmal in der Einschätzung differieren, geht es eher um Kleinigkeiten. Etwa bei der berühmte d-moll-Orgeltoccata, einem der berühmtesten Werke des Meisters.

    Sie stammt für Martin Geck eher nicht von Bach, für Christoph Wolff aber doch. Dass aus Köthen wenig Instrumentalwerke überliefert sind, liegt laut Wolff daran, dass viel verlorengegangen ist, laut Geck daran, dass Bach dort wenig geschrieben hat. Insgesamt ist Geck eher "bibelkritisch" und verbietet sich jede Spekulation; Wolff dagegen versucht, auch aus Vermutungen etwas zu machen, und setzt dazu seine enormen historischen und stilistischen Kenntnisse umsichtig, manchmal aber auch mutig ein.

    Den entscheidenden Vorsprung gewinnt Wolff aber durch die Darstellungsweise. Bei Geck droht, musikalisch gesprochen, der Cantus firmus in einem Wust von Neben- und Gegenstimmen, Verzierungen und Ausschmückungen zu verschwinden, bei Wolff ist er immer klar und deutlich zu hören. Auch weiß der Leser bei ihm stets, an welchem Punkt der Entwicklung er sich befindet, und verliert das Ziel nie aus den Augen.

    Geck teilt seinen Gegenstand titelgemäß in "Leben" und "Werk" auf, was im Werkteil zu ermüdenden Längen führt. Vor allem die hundert den Kantaten gewidmeten Seiten lassen auch dem hartnäckigsten Verehrer die Lektüre sauer werden. Zu einem konturierten, gar eigenständigen Bach-Bild gelangt Geck nicht. Seine etwas biedere Prosa hat nur selten Wärme und noch seltener Witz. "Das Meer ist kein Springbrunnen", formuliert er einmal in Anlehnung an Beethovens bekannten Spruch "nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen".

    Gegen den grundsoliden, aber etwas steif voranschreitenden Geck wirkt Wolff wie ein biographischer Überflieger. Angenehm sein sachlicher, aber nie trockener angelsächsischer Tonfall . Bestechend die sparsame Auswahl und Erläuterung der Musikbeispiele; höchst nützlich der Anhang bis hin zur Währungstabelle: Die hilft etwa auszurechnen, dass der Meister in Leipzig rund 100.000 Mark im Jahr verdiente - nicht gerade wenig, auch wenn ein Bach natürlich unbezahlbar war. Überhaupt Leipzig! Hier verbrachte er die letzten 27 Jahre seines Lebens, komponierte vier (oder fünf?) Kantatenjahrgänge (von denen so vieles verloren ist), dazu die "Johannes-" und die "Matthäus-Passion", das "Musikalische Opfer" und die "Kunst der Fuge", führte insgesamt 1500 Mal eigene Werke vor Publikum auf, unterrichtete faule Latein- und begabte Musikschüler, absolvierte also ein unvorstellbares Arbeitspensum und - so will es das überlieferte Bach-Bild - litt entsetzlich unter bürokratischen Einschränkungen und kleinkarierten Vorgesetzten. Hier hält Christoph Wolff dagegen: "Alles in allem", meint er, "gab es für ihn kaum einen besseren Ort als Leipzig". Die bekannten Auseinandersetzungen mit Rektor und Rat leugnet Wolff nicht, zeigt aber ein gewisses Verständnis für die Stadt. Aus ihrer Sicht verlangte Bach einfach zu viel. Bach überforderte seine Umgebung, weil er aus sich selbst das Äußerste hervortreiben wollte, ja musste. Wie sehr Bach seine Zeitgenossen überrragte, kann man genau erst ermessen, wenn man diese besser kennt, wenn man das Gewöhliche dem Außergewöhnlichen gegenüberstellen kann. Und genau dabei hilft Christoph Wolffs Darstellung.

    Eine "geistige Biographie" nennt er sie selbst, und das mit Recht. Denn auf geradezu spannende Weise nähert er sich dem Entscheidenden um den Arbeits- , den Schöpfungsprozess.

    So wie Bach, begreifen wir mit Wolff, hat noch keiner komponiert. Das zeigt der Autor an vier Aspekten: Rezeption und Experiment, Systematik und Revision. Zum ersten saugte Bach schon früh alle vorhandene Musik in sich auf, von den norddeutschen Orgelmeistern bis zum italienischen Instrumentalkonzert, und verwandelte sie sich an. Er schrieb Werke großer Kollegen ab und bearbeitete sie - bis die Musik nicht mehr von Vivaldi oder Reinken, sondern von Bach war. Zweitens: Bach experimentierte gern. Komposition war für ihn kein Handwerk mehr, sondern eine Wissenschaft, bestehend aus Forschung und Lehre. Kein Großer der Musik hat dermaßen intensiv unterrichtet - meist anhand selbstkomponierter Studienwerke. In der eigenen Praxis suchte er, die Grenzen jeder Form, jeder Gattung auszuschreiten und dann zu überschreiten: in Richtung auf größere Komplexität, inneren Zusammenhang, größere Dimensionen, intensiveren Ausdruck.

    Drittens: Bach war Systematiker. Er liebte es, Werke zu Gruppen zusammenzustellen, die dann einen definitiven Charakter haben sollten - von den Solosonaten für Violine zum "Wohltemperierten Klavier", von den "Brandenburgischen Konzerten" zur "Kunst der Fuge". Dabei geht die Tendenz zur Verdichtung, bis in der zuletzt genannten "Kunst der Fuge" alles aus einem einzigen Thema herausgeholt wird.

    Viertens: die Revision. In den letzten zwanzig Jahren nahm Bach ältere Werke wieder vor und überarbeitete sie - auch hier mit dem Ziel der Verdichtung und Vertiefung. Das gilt übrigens auch für die vielzitierten "Parodien", die Wiederverwendung von Kantatensätzen mit verändertem Text. Bekanntlich sind ja große Teile der h-moll-Messe aus solchem "Recycling" entstanden. Wolff zeigt, dass Bach nicht aus Faulheit auf Vorhandenes zurückgriff, sondern dieses durch die Bearbeitung zugleich auf eine höhere Stufe hob.

    Bach kam aus einer Familie von Musikanten. Nie hat er eine Universität besucht hat. Aber in seiner Wissenschaft erreichte er mehr als je einer vor ihm (viele sagen: und nach ihm). Was er erreichte, lernt man mit Wolff besser verstehen. Und durch dieses Verständnis gewinnt auch die Person Bach klarere Konturen.

    Er erscheint uns, im Lichte dieser vorzüglichen Analyse, als ein Künstler und Gelehrter, der seine Begabung früh erkannt hatte, sie als Verpflichtung begriff und sein Leben damit verbrachte, sie zu vervollkommnen. Unsereins kann wiederum ein Leben damit verbringen, die Musik dieses einzigartigen Schöpfers zu begreifen und dieses Begreifen zu vervollkommnen. Irgendwann stößt man dann an eine Grenze, wo es nichts mehr zu begreifen gibt. Aber das Hören, das Staunen, das Genießen: Das kennt bei Bachs Musik nie ein Ende.