Johann Sebastian Bach: "Goldberg-Variationen"
Nun ist sie heraus, die lang erwartete Auseinandersetzung des Pianisten Murray Perahia mit J. S. Bachs Goldberg-Variationen. Perahias Interpretation ist, wie zu vermuten war, denn doch anders als etliche der bekannten Deutungen, und sie ist zweifellos aufregend anders. Im wesentlichen werde ich mich in der heutigen Sendung auf diese Neueinspielung konzentrieren, die bei Sony erschienen ist. Perahia beginnt freilich völlig unspektakulär, und dem Thema, der Aria, ist noch nichts von dem Prozess der Veränderungen anzumerken, den der Pianist durchschreiten wird. Perahia zelebriert ein nach innen gekehrtes, fast inniges Spiel von berückender Anschlagskultur. * Musikbeispiel: J. S. Bach - 'Aria' aus: Goldberg-Variationen BWV 988 Kann man ein so vollkommenes Stück Musik überhaupt variieren? Einen Moment lang ist man versucht, Perahia zuzurufen: Lass gut sein! Aber dieser Pianist zeigt - und das ist eines der wesentlichen Momente dieser Interpretation -, dass schon in der Aria Augenblicke von Unruhe enthalten sind, dass Vollkommenheit fragil ist, dass sie nicht andauern kann, und in einem plötzlich gefassten Entschluss macht er dies alles wahr. Die erste Variation: * Musikbeispiel: J. S. Bach - Nr. 2, Variation 1 aus: Goldberg-Variationen BWV 988 Von der ersten Variation an macht Murray Perahia mit seiner Einspielung der Goldberg-Variationen deutlich, dass der Prozess der Veränderung unaufhaltsam ist. Die grundsätzliche Frage bei den Goldberg-Variationen ist zunächst einmal die, ob der Pianist mehr das tänzerische Element hervorhebt, also den immanenten Suitencharakter des Zyklus', oder ob er sich eher auf den Verlauf der Permutationen konzentriert. Perahia beginnt ausgesprochen tänzerisch, und er geht überhaupt hurtig zur Sache; er schafft es tatsächlich, die 30 Variationen auf eine Scheibe zu bringen. Knapp 75 Minuten dauert das Ganze. Evgeni Koroliov, der vor einigen Monaten bei Hänssler seine überaus durchdachte Deutung des gleichen Zyklus' vorlegte, benötigt etwa 85 Minuten, obwohl man an keiner Stelle den Eindruck gewinnt, er lasse sich besonders viel Zeit. Im Gegenteil: Perahias Interpretation wirkt im Grunde ruhiger. Beide Einspielungen sind von ähnlich hohem Rang und doch unterschieden wie Feuer und Wasser. Koroliov spielt zum Beispiel die jeweiligen Wiederholungen oft demonstrativ anders. Er wechselt etwa in der linken Hand von einem markanten Nonlegato bei der Wiederholung zu einem deutlich hervorgehobenen Legato. Bei Perahia gibt es allenfalls in den Nuancen Unterschiede. Dafür lässt er gerade den Part der linken Hand in sich schillern, phrasiert mit äußerster Raffinesse, lässt den Bass changieren, manchmal so, als handele es sich dabei um ein Streichinstrument. Dennoch oder gerade deswegen ist Perahias Einspielung eine eminent pianistische. Im Verlauf der Variationen entwickelt er mehr und mehr den Farbreichtum des Klaviers, auch das Unstete dieses Instruments, die vielen Gesichter. Fast könnte man meinen, Perahia demonstriere an diesem Zyklus die Entwicklungsgeschichte des Pianoforte bis hin zu impressionistischen und beinahe modernen Klangwirkungen. Was zunächst ganz tänzerisch und beinahe leicht beginnt, zunächst auch eher konservativ erscheint, wird mehr und mehr zu einem Auflösungsprozess, hinter dem die Substanz des Themas zunehmend verschwindet. Das ist das eigentlich Spannende an dieser Einspielung. Dieser Prozess tritt erstmals ganz deutlich in der 11. Variation zutage. * Musikbeispiel: J. S. Bach - Nr.12, Variation 11 aus: Goldberg-Variationen BWV 988 Noch einmal möchte ich an dieser Stelle auf die Einspielung von Evgeni Koroliov zurückkommen. Im Verlauf der Variationen zeigt sich, durch welche Welten Koroliov und Perahia getrennt sind. Der russische Pianist schlägt immer mehr Feuer aus dem Thema der Goldberg-Variationen. Er entwickelt deren utopisches Potential. Und gegen Ende, in der 29. Veränderung, bricht die schiere Lust am Klavierspiel durch. Koroliov oktaviert sogar in der linken Hand und genießt die Pracht des modernen Konzertflügels, bleibt dabei aber rhythmisch straff und entschieden. Die Welt als Wille und Vorstellung, aber dennoch geordnet. * Musikbeispiel: J. S. Bach - aus: Nr. 30, Variation 29: Goldberg-Variationen BWV 988 Evgeni Koroliov mit der vorletzten Variation. Bei Perahia möchte man den Loge aus Wagners "Rheingold" zitieren, der von den Göttern sagt: Ihrem Ende eilen sie zu. Auch das Tempo ist längst dem Prozess der Auflösung unterworfen. * Musikbeispiel: J. S. Bach - Nr.30, Variation 29 aus: Goldberg-Variationen BWV 988 Ganz zum Schluss macht Murray Perahia noch einmal deutlich, worum es ihm zu tun ist mit seiner Interpretation der Goldberg-Variationen: zu zeigen, dass nichts Bestand hat. Auch die Aria, die ja noch einmal wiederholt wird, ist eine andere geworden, ist in mancher Hinsicht nur noch Erinnerung. Bleiben wir noch einmal bei dem Vergleich Koroliov - Perahia. Der erstere legte seine Einspielung zu Beginn des Bachjahres 2000 vor und er stellt sich, wie es scheint, damit überhaupt an den Beginn eines neuen Jahrhunderts. Perahia kommt zum Ende des Jahres 2000 heraus, und er gehört wohl doch eher zu jenen, die der Ansicht sind, mit dem Jahr 2000 und erst mit diesem gehe auch das Jahrhundert zu Ende. Hört man beiden zu, so wird einem einmal mehr bewusst, wie janusköpfig dieser Mann namens Bach war. Noch einmal Murray Perahia. * Musikbeispiel: J. S. Bach - Nr.32, 'Aria' aus: Goldberg-Variationen BWV 988 Soweit die neue Einspielung der Goldberg-Variationen von J.S.Bach durch Murray Perahia, dieser Tage erschienen bei Sony Classical. Am Mikrofon bedankt sich Norbert Ely für Ihre Aufmerksamkeit.