Montag, 29. April 2024

Archiv


Johanna Renate von Döring-Smirnoff (Hg.): Boris Pasternak. Eine Brücke aus Papier. Die Familienkorrespondenz 1921 - 1960.

Boris Pasternak - wer denkt bei diesem Namen nicht unwillkürlich an den berühmten Hollywood - Film "Doktor Schiwago", an die schwülstig - kitschige Liebesgeschichte zwischen Juri Schiwago und Lara in Zeiten der Revolution und des Krieges vor zuckergussverschneiter Landschaft? Dass "Doktor Schiwago" - richtig ausgesprochen heißt es übrigens "Doktor Shiwago" [sh wie g in Etage]- auch ein philosophisches und religiöses Werk ist, erschließt sich jedoch erst dem Leser des Romans. Und die ganze Tiefe des Werkes durchdringt man gar erst bei mehrmaliger Lektüre. Der Roman erschien 1957 in Italien und sorgte damit für einen politischen Skandal in der Sowjetunion. Als Boris Pasternak 1958 dann den Literaturnobelpreis erhalten sollte - in erster Linie für seine Lyrik - brach eine Hetz- und Diffamierungs-kampagne gegen ihn los, so dass er bei Annahme des Preises seine Ausweisung und Repressalien gegen seine Familie befürchten musste. Boris Pasternak lehnte den Nobelpreis ab. Im S. Fischer Verlag ist jetzt die Familienkorrespondenz Pasternaks aus den Jahren 1921-1960 erschienen - und sie gewährt tiefe Einblicke in das Dasein eines unangepassten Schriftstellers in der sowjetischen Kulturlandschaft der Stalinzeit und der späteren sogenannten "Tauwetterperiode", die zumindest für Boris Pasternak keine solche gewesen ist. Anke Maxein hat das Buch für Sie gelesen.

Anke Maxein | 13.11.2000
    Boris Leonidowitsch Pasternak gehört zu den großen russischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Geboren wurde er 1890 in Moskau und zunächst schien es, dass er den musikalischen Spuren seiner Mutter Rosalija, einer berühmten Pianistin, folgen und Komponist werden würde. Aber weder die Musik, noch das spätere Philosophiestudium gaben Boris Pasternak jene Erfüllung, wie er sie schließlich im Schreiben fand. Ab 1913 veröffentlichte er Gedichte und ab 1922 auch Prosa. Pasternak führte nie Tagebuch, dafür aber eine umfangreiche Korrespondenz, u.a. mit Rainer Maria Rilke und Marina Zwetajewa.

    Der Briefwechsel mit der Familie beginnt im Jahr 1921, als der schon zu Lebzeiten berühmte impressionistische Maler Leonid Pasternak zusammen mit seiner Frau und seinen Töchtern Lidija und Josephina nach Berlin verreiste. Sie wollten sich einige Zeit von den nachrevolutionären Wirren in Russland erholen, während die Söhne Boris und Alexander in Moskau blieben. Die politische und soziale Situation in der Sowjetunion verhinderte jedoch eine Rückkehr der Familie nach Moskau. Boris Pasternak sah seine Eltern und Schwestern nie wieder.

    Die Briefe in "Eine Brücke aus Papier" dokumentieren diese für beide Seiten sehr schmerzliche Trennung. Seinen Eltern, aber ganz besonders seinem Vater gegenüber fühlte sich Boris Pasternak verpflichtet, seine ästhetischen und kulturpolitischen Standpunkte darzulegen und sie von seinen literarischen Plänen zu unterrichten. Es wird deutlich, wie nah sich Pasternak seinen Eltern fühlte, und dass sie ein Kunstverständnis teilten, das dem der Sowjetunion gegenläufig war. So beschreibt Pasternak seine Position gegenüber dem Staat in einem Brief an seine Eltern am 12. Januar 1929 folgendermaßen:

    Nein, unsere Lage ist nicht behaglich - inspiriert, und nicht umsonst gibt es Perioden einer erzwungenen und ärgerlichen Unfruchtbarkeit. Und manchmal bist du gezwungen, in unergiebige und für dich nicht unbedingt notwendige Arbeiten und Überlegungen auszuweichen, beeinflusst von Gerüchten und Gerede. Und du hörst und gehorchst, weil nicht Roszi [ein Literaturkritiker der vorrevolutionären Zeit] spricht, sondern Der Staat. Und ich kann nicht anders als ihm gehorchen. Ich fürchte ihn nicht, sondern respektiere ihn, denn ich glaube eher an seine Zukunft, als an meine eigne.

    In den 30er Jahren glaubte Pasternak aus einem quälenden Vorgefühl vom Tod, dass er nicht mehr lange leben würde. Ermordungen und Selbstmorde von Künstlern und Literaten erschütterten ihn zutiefst. Mehr und mehr begannen für ihn die Realität und das Bild, das die Propaganda malte, auseinander zu klaffen. Über die Diskrepanz von Schein und Sein schrieb Boris Pasternak seinem Vater im Dezember 1932 nach Berlin:

    Aber ob du dir dort, weit weg, all unser Hiesiges vorstellen kannst? Ich denke, nein. Nach dem Ton deiner Briefe glaube ich, dass du dir alles unermesslich normaler ausmalst. Inspirierte und unbestechliche Zeitungskorrespondenten bestärken dich wahrscheinlich in dieser Meinung, auch solche genialen wie Boris Iljitsch [Sbarski] und Lew Grigorjewitsch [Lewin]. Übrigens hat sich die Apokalypse, die du einst verlassen hast, in ihrer Hoffnungslosigkeit nur noch verschlimmert. Doch dass ich nicht gearbeitet habe, liegt nicht an diesen Störungen: Ich habe sie nur zugelassen, weil ich nicht arbeiten konnte. Ich konnte es nicht, trotz der selten günstigen Situation, trotz relativen Wohlstands, trotz des glücklichen Einvernehmens mit Sina, ich konnte es nicht trotz des größten Drangs zu arbeiten, ich konnte es nicht: Weil es jene fiktive Wirklichkeit, die die Boris Iljitschs sich ausdenken und von der sie reden, nicht gibt, und die Kunst kann sich nicht mit Inexistentem beschäftigen, aber heute tut sie so, als beschäftige sie sich damit.

    1931 war Pasternaks Leben aus privater Sicht aus den Fugen geraten. Nachdem er sich in Sinaida Neuhaus, die Frau eines befreundeten Pianisten, verliebt hatte, verließ er seine Frau Jewgenija und den gemeinsamen Sohn Jewgeni. Die Trennung rief in ihm Schuldgefühle hervor, da er auch seine erste Frau noch immer liebte. Unter dem Druck sich entscheiden zu müssen, unternahm Pasternak einen Selbstmordversuch, indem er Jod schluckte. Ein Jahr später, 1932, brachte Boris Pasternak noch einen neuen Lyrikband heraus, "Zweite Geburt", seinen vorerst letzten, denn bis 1937 wurden nur noch Auswahlbände früherer Gedichte veröffentlicht. Pasternak verlegte sich anschließend auf das Übersetzen von georgischen Dichtern, später auch von Shakespeare und Goethe. Aber insbesondere die Übertragung georgischer Dichtung ins Russische gefiel Stalin und das bewahrte Pasternak möglicherweise vor der Verfolgung. Als 1934 der Schriftsteller Óssip Mandelschtám verhaftet wurde, setzte sich Boris Pasternak für dessen Freilassung ein. Dieses Engagement brachte ihm ein dreiminütiges Telefongespräch mit Stalin ein, indem dieser in Form eines versteckten Verhörs die Motive überprüfte.

    In den 30er Jahren nahm Pasternak auch aktiv am gesellschaftlichen Leben teil, ihm wurde gar die Rolle eines offiziellen Repräsentanten angetragen, wie sie der Dichter Wladimir Majakowski bis zu seinem - bis heute als solchen umstrittenen - Selbstmord, innehatte. Die Aussicht auf den Status eines "ersten Poeten" war Pasternak jedoch zuwider, und er spürte die tödliche Gefahr, die davon ausging.

    Eine Woche vor Kriegsausbruch starb Pasternaks Mutter in London, wohin die Familie 1938 emigriert war. Ihr Tod traf zusammen mit den Verhaftungen und "Unglücksfällen" in der Umgebung Pasternaks. So wurde im Sommer der Theaterregisseur Wsewolod Meyerhold verhaftet, mit dem Pasternak durch eine gemeinsame Arbeit an dem Stück "Hamlet" verbunden war. Und nur wenige Tage später wurde Meyerholds Frau bestialisch ermordet. An den Vater schreibt Pasternak am 14. Oktober 1939:

    ...unerträglich neu ist für mich die Existenz ohne Mama. Mich verließ nicht das Gefühl der Heimatlosigkeit, der angehaltenen Zeit und des Endes, wie bei Kälte, wie an stockschwarzen Herbstabenden, und in diese Atmosphäre kam deine Karte, die mich daran erinnerte, dass du noch da bist, und wie gerade, fest und tapfer deine Hand, deine Schrift ist. Natürlich, Mamas Tod war schon ausreichend, - und das braucht keine Analyse, um mich umzuwerfen. Doch diese Nachricht fiel auch noch auf vorbereiteten Boden. Ich bin todmüde vom Leben, von seiner hochtrabenden und triumphierenden Dummheit, von seinen großtuerischen Scheinbarkeiten, die als unstreitbar gelten, von seiner Unersättlichkeit.

    Während des Krieges war die Möglichkeit einer ausführlichen Korrespondenz nicht mehr gegeben. Bisweilen wurden Telegramme oder Karten abgeschickt. Im Sommer 1945 starb schließlich auch Pasternaks Vater. Aufgrund der politischen Situation brach 1946 der Briefwechsel zwischen Boris Pasternak und den Schwestern für zehn Jahre ab. Erst mit Beginn des politischen und kulturellen Tauwetters in der Sowjetunion wurde die Korrespondenz wieder aufgenommen. Inzwischen hatte Boris Pasternak den Roman "Doktor Shiwago" fertig gestellt. Er war sein großes Werk, auf das er sein halbes Leben lang hingearbeitet hatte und von dem er inzwischen hoffte, ihn publizieren zu können. In den Briefen der folgenden Jahre nehmen der Roman, die politischen Reaktionen und Bedrohungen einen großen Raum ein. An die Schwestern schreibt er im August 1956:

    Ihr werdet die Möglichkeit haben [den Roman] zu lesen. Vielleicht wird er euch nicht gefallen - mit seiner ermüdenden und fremden Philosophie - mit seinen reizlosen, lang gezogenen Passsagen, dem Unkonzentrierten des ersten Buches, der grauen effektlosen Blässe der Übergänge. Und dennoch ist es ein großes Werk, ein Buch von gewaltiger, von Jahrhundertbedeutung, dessen Schicksal zwar meinem eignen Schicksal und Wohlergehen nicht unterzuordnen, doch dessen Existenz und Eintritt in die Welt dort, wo das möglich ist, wichtiger und teurer ist als meine eigne Existenz.

    Pasternak wollte, dass sein Roman ungekürzt, unverstümmelt, d.h. unzensiert publiziert wird. Eine Veröffentlichung in der Sowjetunion zerschlug sich, als das Redaktionskollegium der Zeitschrift "Nowij Mir", den Roman ablehnte. Als publik wurde, dass er eine Veröffentlichung im Ausland beabsichtigte, setzte man ihn unter Druck und zwang ihn Telegramme abzuschicken, die dieses Vorhaben stoppen sollten. Doch Pasternak hatte Vorsichtsmaßnahmen getroffen, das Erscheinen von "Doktor Shiwago" in Italien ließ sich nicht mehr aufhalten.

    Der Autor selbst wurde nie verhaftet oder verurteilt, dafür aber nahm der kommunistische Staat anderweitig Einfluss auf sein Leben. So wurden z.B. seine Geliebte, Olga Iwinskaja, 1948 zu vier Jahren Lager verurteilt, weil sie sich weigerte ein falsches Geständnis über Pasternaks Beteiligung an einer zionistischen Verschwörung abzulegen. Sein zweiter Sohn Ljonja fiel in den 50er Jahren bei den Aufnahme - Wettbewerben der Hochschule ohne ersichtlichen Grund durch.

    Am 31. Mai 1960 starb Boris Pasternak in Pjeredélkino, einem kleinen Ort vor Moskau. Währenddessen wartete seine Schwester Lidija in der sowjetischen Botschaft in London auf ein Visum, um ihm am Sterbebett beistehen zu können. Aber erst zu seiner Beerdigung durfte sie schließlich einreisen. Boris Pasternak blieb nach seinem Tod ein staatlich verfemter Dichter. "Doktor Shiwago" wurde erst 1988 in der Sowjetunion gedruckt.

    "Eine Brücke aus Papier" ist ein wunderbares Buch. Es vertraut ganz auf die sprachliche Kraft der Briefe Pasternaks, von denen viele die Empfänger trotz Zensur erreichten und über die Zeit hinweg erhalten geblieben sind. Nur dort, wo es für ein besseres Verständnis nötig war, wurden von Pasternaks Sohn Jewgeni und dessen Frau Jelena Anmerkungen eingeschoben. Vor dem geistigen Auge des Lesers erscheint plastisch der sowjetische Alltag der Stalinzeit, mit seiner Wohnungsnot und der Versorgungsmisere. Die dunklen Jahre der Verfolgung werden zwischen den Zeilen beängstigend spürbar. Sehr lebendig und kraftvoll zeichnet sich die Persönlichkeit Pasternaks ab. Seine wechselnden Gemütsverfassungen hallen im Ton, in der Sprache seiner Briefe wieder. Bisweilen fühlt man sich gar als Eindringling in die intime Welt des Schriftstellers und doch gerät man in seinen sprachlichen Sog und empfindet Anteilnahme und Interesse am Schicksal Pasternaks.

    Dem Buch sind möglichst viele Leser zu wünschen, obwohl es mit 88 DM deutlich zu teuer ist. Und wenn schon solch ein Preis veranschlagt wird, dann hätte das Buch zumindest in Leinen und mit einem Lesebändchen ausgestattet werden müssen. Unverständlich bleibt auch in der Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe, warum das zweibändige russische Original zu einer einbändigen deutschen Ausgabe gekürzt werden musste. - Warum nur?

    Anke Maxein über: Boris Pasternak. Eine Brücke aus Papier. Die Familienkorrespondenz 1921 - 1960. Herausgegeben von Johanna Renate von Döring Smirnoff im S. Fischer Verlag Verlag Frankfurt / Main 2000, 511 Seiten, wie schon erwähnt für DM 88,-