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Johannes Rau: Den ganzen Menschen bilden – Wider den Nützlichkeitszwang

Dazu als Buchtip:

von Renate Faerber-Husemann: | 29.03.2004
    Johannes Rau / Evelyn Roll: Weil der Mensch ein Mensch ist. Rowohlt Berlin Verlag 2004. 192 S., EUR 16,90

    Ganz unaufgeregt schöpft da ein Mann aus seiner Lebenserfahrung und schafft es, zumindest bei den Lesern dieses Buches, die Diskussionen um das Thema Bildung vom Kopf auf die Füße zu stellen. "Plädoyer für eine neue Bildungspolitik” lautet der Untertitel. Und während den Bürgern seit Monaten eher Verwirrung stiftende Begriffe wie "Wissensgesellschaft”, Elite-Universitäten”, "PISA” oder "IGLU” um die Ohren gehauen werden, fragt Johannes Rau nach den bleibenden Zielen von Bildung und gibt folgende Antwort:

    Die Entwicklung der Persönlichkeit. Die Teilhabe an der Gesellschaft und die Vorbereitung auf den Beruf.

    Der Beltz Verlag, stolz darauf, sich seit über hundert Jahren für liberale Pädagogik zu engagieren, hat aus den Reden des Bundespräsidenten zur Bildungspolitik ein Buch zusammengestellt. Das hat leider die üblichen Mängel solcher Textsammlungen: Zu viele Wiederholungen, zu wenig Kürzungen, Belangloses neben Perlen, fehlende verbindende, kommentierende Texte. Und doch liest man das Buch zur eigenen Überraschung gern und mit Gewinn, während doch solche Redensammlungen von Spitzenpolitikern normalerweise ungelesen in den Regalen verschwinden. Das mag daran liegen, dass Johannes Rau sich Jahrzehnte lang ganz konkret mit Bildungspolitik beschäftigt hat, als Wissenschaftsminister und dann als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen. In jener Zeit wandelte sich das einstige Kohle-und Stahl-Revier zu einem Wissens-Zentrum mit der höchsten Dichte an Universitäten in Europa. Bildungspolitik, verbunden mit der Frage nach Chancengleichheit, hat Rau auch während seiner Präsidentschaft wie kaum ein anderes Thema beschäftigt. Immer wieder warnte der Vater von drei Kindern vor verfrühter Auslese, sorgte sich wegen der Ausgrenzung von Kindern aus sozial schwachen und Migranten-Milieus und schaute modische Begriffe wie beispielsweise den von der Wissensgesellschaft kritisch an:

    Das Wissen allein führt nicht zum Denken, zum Entscheiden und zum Handeln. Gelegentlich habe ich sogar die Sorge, wir würden eine Gesellschaft Unwissender werden – wenn auch auf historisch einmalig hohem Niveau. Denn die Flut der Informationen verstellt uns oft den Blick auf die wesentlichen Sachverhalte. Und für manche Menschen bedeutet diese Flut der Information Desorientierung. Sie führt zur Verweigerung oder zu Resignation.

    Ganzheitliche Bildung statt eines platten " Fitmachens für....” fordert Johannes Rau. Immer noch, wie schon seit dreißig Jahren, werden in Deutschland Glaubenskriege darüber geführt, mit welcher Schule sich diese Ziele erreichen lassen. Die nun begonnene Elite-Diskussion scheint eher in Richtung noch strengerer Auslese zu gehen – obwohl es inzwischen eine Binsenwahrheit ist, dass jene Länder die besten Resultate vorlegen, die auf frühzeitiges Sortieren der Kinder in unterschiedliche Bildungssysteme verzichten. Denn nur dann können soziale Benachteiligungen durch das Elternhaus ein Stück weit ausgeglichen werden. In keinem Land der Welt – auch das hat PISA uns gelehrt – bestimmt die Herkunft der Kinder so stark ihren Bildungserfolg oder Misserfolg wie in Deutschland. In Haushalten mit Büchern machen die Kinder Abitur, in Haushalten ohne Bücher reicht es manchmal nicht einmal zu einem Hauptschulabschluss, bringt Rau das Dilemma auf den Punkt. Wer das ändern will, muss mehr tun als nur die Vormittagsschule zu verdoppeln oder die Ganztagesschule als Halbtagsschule mit betreuter Freizeit misszuverstehen. Die Schule, die Johannes Rau den Kindern wünscht, ist deshalb die Gesamtschule:

    Eine gute Schule lässt Verschiedenheit möglichst lange bestehen. Wenn in Finnland ein Kind die Ziele seiner Lerngruppe nicht erreicht hat, dann muss der Lehrer eine umfangreiche Begründung dafür liefern. Er, nicht das Kind, trägt die Verantwortung dafür. Was geschieht derzeit noch bei uns mit einem solchen Kind? Es wiederholt die Klasse und wird meist nicht besonders gefördert. Es erfährt Demütigung und Entmutigung. Es erfährt Langeweile.

    Johannes Rau plädiert für eine Schule, die Persönlichkeitsbildung vor Selektion setzt und die das Selbstbewusstsein stärkt, das nur entsteht, wenn Kinder sich an ihren Aufgaben bewähren können. Vielleicht würde ein solches Verständnis von Bildung und Wissen in den frühen Kinderjahren dann später auch den von allen gewünschten Ertrag bringen: Nämlich weniger entmutigte Studienabbrecher an den Universitäten,( in Mathematik sind das heute beispielsweise 70 Prozent!), mehr junge Menschen, die sich für ein Studium entscheiden und auch bis zum Abschluss durchhalten. Schon einmal gab es in Deutschland eine Bildungsoffensive – aus ähnlichen Gründen wie heute. Auch in den frühen 60er Jahren wurde gefürchtet, man würde den Anschluss an die hochentwickelten Industrieländer verlieren. Der Kanzler hieß damals Ludwig Erhard, und er forderte, Bildung und Forschung müssten den gleichen Rang bekommen wie die soziale Frage im 19. Jahrhundert. Vieles hat sich seither gebessert, die Zahl der Abiturienten hat sich verdoppelt, doch allzu vieles ist aus ideologischen Gründen steckengeblieben. Ganztagesschulen etwa und vor allem Gesamtschulen, das schien den Kirchen und den konservativen Politikern geradezu Teufelswerk zu sein, der Versuch, den Eltern die Kinder zu entreißen und sie einer sozialistischen Erziehung ohne Elternrechte auszusetzen. Darüber wird heute eher gelächelt, auch Konservative schätzen Montessori-Pädagogik oder schicken ihre Kinder auf die Gesamtschule. Heute verhindert nicht Ideologie einen neuen Kurs in der Bildungspolitik, sondern leere Kassen, demotivierte Lehrer, überalterte Kollegien und ein übersteigertes Nützlichkeitsdenken bei jenen, die für die politischen Vorgaben verantwortlich sind. PISA wird zwar unentwegt zitiert, aber anscheinend nicht gelesen und verstanden. Die erfolgreichen Länder geben nämlich viel Geld aus während der frühen Schuljahre und verhindern dadurch erfolgreich die Ausgrenzung jener Schüler, die ein anderes Tempo beim Lernen, vielleicht auch andere Begabungen haben als die Mehrheit in der Klasse. Johannes Rau fordert eine enge Verzahnung von Schulpraxis und Politik mit Entwicklungspsychologen, Lernforschern, Erziehungswissenschaftlern, die anderes im Blick haben als kurzatmige Nützlichkeit und Verwertbarkeit:

    Der aufrechte Gang ist nach meinen Erfahrungen die beste Voraussetzung dafür, dass Menschen ein Leben lang bereit sind, Neues zu lernen, sich auf veränderte Situationen einzustellen und immer wieder neue Wege auszuprobieren.

    Auf solche Sätze kann sich die Mehrheit im Land sicherlich verständigen. Die Gefahr ist nur, dass hektischer Aktionismus die notwendigen Veränderungen eher verhindern könnte. Der Präsident scheint dies jedenfalls zu fürchten, denn vor dem Deutschen Philologenverband zitierte er ein afrikanisches Sprichwort:

    Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.