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Johannes Willms: Napoleon – Eine Biographie

Über keine Gestalt der europäischen Geschichte, Hitler ausgenommen, ist so viel geschrieben worden wie über Napoleon Bonaparte – den kleinen Artillerieoffizier, der, gleichsam aus dem Nichts kommend, sich innerhalb weniger Jahre zum Herrscher Frankreichs und Herrn über Europa aufschwang, um dann ebenso rasch wieder seine Macht zu verspielen und ins Nichts zu versinken. Diese ganz und gar ungewöhnliche Karriere, die in der Verbannung auf der Atlantikinsel St. Helena ihr trauriges Ende fand, hat die Phantasien stets gereizt und die Historiker zu immer neuer Beschäftigung verlockt – und dies nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, auf dessen nationale Entwicklung im 19. Jahrhundert der französische Eroberer einen nicht unbeträchtlichen Einfluss ausgeübt hatte. Nicht zufällig hat Thomas Nipperdey seine dreibändige Deutsche Geschichte von 1800 bis 1918 mit dem Satz eröffnet: "Am Anfang war Napoleon."

Von Volker Ullrich | 18.04.2005
    Freilich, den ungeheuren Stoff, der in diesem außergewöhnlichen Leben verborgen liegt, in Form einer großen Biographie zu erzählen, das hat sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kein deutscher Historiker mehr zugetraut – sieht man einmal von dem populär gehaltenen Porträt des Erfolgsautors Emil Ludwig aus dem Jahre 1925 ab. An dieses Wagnis hat sich nun Johannes Willms gemacht, der frühere Feuilleton-Chef der "Süddeutschen Zeitung", der jetzt als deren Kulturkorrespondent in Paris lebt. Kaum jemand bringt für diese schwierige Aufgabe so gute Voraussetzungen mit wie Willms: Er hat vielbeachtete Bücher über das Leben in Paris zwischen 1789 und 1914 und über das Nachleben der Napoleon-Legende geschrieben. Doch Willms ist nicht nur ein hervorragender Kenner der französischen Geschichte, er ist auch in der französischen Sprache zu Hause. Sein neues Buch besticht, wie die beiden vorangegangenen, durch eine umfassende Auswertung der Primärquellen – darunter die vielbändigen Korrespondenzen und Erinnerungen Napoleons ebenso wie die schier unerschöpfliche Zahl von Memoiren seiner Zeitgenossen. Gerade die letzteren hat Willms einer kritischen Lektüre unterzogen und dabei manche Legenden und Mythen korrigiert, die in der Napoleon-Literatur ein zähes Dasein fristen.

    Schade allerdings, dass der Autor auf ein Vorwort verzichtet hat, in dem er uns Auskunft gibt über den aktuellen Forschungsstand und darüber, inwieweit seine Interpretation Napoleons von denen der großen französischen Biografen – sei es Georges Lefebvre oder Jean Tulard – abweicht beziehungsweise ihnen folgt. Stattdessen stellt Willms seinem Buch die berühmten Sätze aus Jacob Burckhardts "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" voran:

    "Die Geschichte liebt es bisweilen, sich auf einmal in einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht. Diese großen Individuen sind die Koninzidenz des Allgemeinen und des Besonderen, des Verharrenden und der Bewegung in einer Persönlichkeit."

    Nimmt man dieses Motto als Programm, so lässt sich feststellen, dass der Autor den Akzent auf das Besondere gelegt hat – das heißt auf die spezifischen Charaktermerkmale und Eigentümlichkeiten Napoleons. Das Allgemeine – Wirtschaft, Gesellschaft, Verfassung seiner Zeit – tritt demgegenüber in den Hintergrund. Willms verfolgt also genau den umgekehrten Ansatz wie Georges Lefebvre, der die Strukturen der napoleonischen Ära in den Mittelpunkt gerückt, der Persönlichkeit des Mannes hingegen überraschend wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat.

    Diese Akzentsetzung bedeutet für den Leser zunächst einmal einen nicht zu unterschätzenden Gewinn: nämlich ein hohes Maß an lebendiger Anschauung. Willms versteht es, fesselnd zu erzählen. Wir lernen Napoleon Bonaparte kennen mit all seinen Vorzügen und seinen Schwächen, mit seinen Begabungen, Marotten und schlechten Angewohnheiten, seinen grandiosen ebenso wie seinen grotesken Seiten, und auch seine leidenschaftliche Liebesbeziehung zu Joséphine Beauharnais kommt nicht zu kurz. Dieser Gewinn wird allerdings erkauft durch eine weitgehende Vernachlässigung der sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge oder, wie man heute etwas modisch sagt, durch den Verzicht auf "Kontextualisierung". So plastisch das persönliche Profil Napoleons hervortritt, so schemenhaft bleiben die Bedingungen des Zeitalters, dem er den Namen gab.

    Persönlichkeit und Wirken des berühmten Mannes aus Korsika spalten sich – das ist der Kern der Deutung von Johannes Willms – in zwei Hälften: in Bonaparte und in Napoleon. Bonaparte – das ist der junge Mann, der sich in frühen Jahren fern seiner korsischen Heimat auf den Militärschulen von Brienne und Paris durchbeißen muss; der die Chance, welche die Revolution von 1789 ihm bietet, entschlossen nutzt, um binnen kurzem zum General aufzusteigen; der sich nach dem Ende der Jakobinerherrschaft 1794 wendig den neuen Herren im Direktorium andient und als Befehlshaber der italienischen Armee 1796/97 in Oberitalien jene militärischen Siege erringt, die seinen Ruhm als Feldherr begründen.

    Willms bescheinigt Bonaparte auf seiner ureigensten Domäne, der Kriegführung, "strategisches Genie"; gleichzeitig attestiert er ihm aber auch "machiavellistische Gerissenheit", was die politische Ausnutzung der militärischen Erfolge angeht. Dass der Feldzug in Italien "nur eine Etappe war auf dem Weg zur Macht in Frankreich", daran lässt der Autor keinen Zweifel, und mit großer Intensität schildert er die dramatischen Ereignisse des 18. und 19. Brumaire 1799, als Bonaparte mit tatkräftiger Unterstützung seines Familienclans den Staatsstreich wagte. "Eines der lebendigsten und spannendsten Lehrstücke der Machtpolitik" nennt Willms diesen Coup, der zuletzt beinahe noch an der nervösen Ungeduld des Generals gescheitert wäre.

    Während der Autor den Aufstieg Bonapartes mit unverkennbaren Sympathien begleitet, betrachtet er sein Wirken an der Spitze des Staates mit zunehmend kritischer Distanz, ja bald auch mit unverhohlenem Abscheu. Die vier Jahre des Konsulats zwischen 1800 und 1804 markieren in seiner Sicht eine Zwischenphase, in der sich Bonaparte als Napoleon neu erfand. Auf der einen Seite würdigt Willms die bedeutenden Reformen, die der Erste Konsul in dieser Phase auf den Weg brachte – darunter unter anderem den berühmten Code Civil von 1804, das bürgerliche Gesetzbuch, das wesentliche Errungenschaften der Französischen Revolution festschrieb. Auf der anderen Seite macht er deutlich, dass Napoleon in diesen so erfolgreichen Jahren seiner Herrschaft die Grundlagen seiner Diktatur legte, die nach der Wiedereinführung der erblichen Monarchie in Frankreich und der Selbstkrönung Napoleons zum Kaiser am 2. Dezember 1804 zunehmend despotische Züge annahm.

    Willms sieht Napoleon wie von einem Dämon getrieben; in seinem unstillbaren Machthunger habe er bald keine Grenzen mehr gekannt – weder nach innen noch nach außen. Vollends nach dem Sieg über Österreich und Russland in der Schlacht von Austerlitz am 2. Dezember 1805 habe Napoleon alle Hemmungen abgelegt. "Die Maske fällt", lautet bezeichnenderweise eine Kapitelüberschrift. Nun sei der "machtversessene Eroberer" in ihm zum Durchbruch gekommen, dem es nur noch um die Ausplünderung der eroberten Gebiete gegangen sei, nicht aber mehr darum, die Errungenschaften der Französischen Revolution zu exportieren. Napoleons "Machtwahn" habe notwendigerweise zur Überdehnung seines Imperialismus führen müssen. Den Friedensschluss von Tilsit vom Juli 1807 – dieses äußerlich so glanzvolle Ereignis – bezeichnet Willms als "Scheitelpunkt der napoleonischen Herrschaft in und über Europa". Danach ging es in der Tat nur noch abwärts – angefangen von dem spanischen Abenteuer 1808, das sich als "Fass ohne Boden" erwies, bis hin zur Katastrophe der Großen Armee in Russland 1812, die den Anfang vom Ende Napoleons bedeutete. "Der Kaiser war nackt", kommentiert Willms trocken. Doch in geradezu wahnhafter Verblendung habe der Empereur immer noch geglaubt, seine angeschlagene Position wieder festigen zu können, bis ihm die weit überlegene Koalition seiner Gegner schließlich seine Grenzen aufzeigte.

    Gewiss: Das sind alles Gesichtspunkte, die jede Napoleon-Biographie behandeln muss, und Willms hat zweifellos Recht, wenn er wiederholt darauf hinweist, dass eine europäische Friedensordnung, die die Interessen der anderen Mächte, einschließlich des Hauptgegners England, berücksichtigte, außerhalb der Vorstellungswelt Napoleons lag. "Er musste sich wohl oder übel zu Tode siegen", heißt es an einer Stelle. Doch bleibt die Frage weitgehend unbeantwortet, warum das so war, warum es für Napoleon keinen Halt, keine Grenze geben konnte. Hier wirkt die Fixierung auf die Psychologie des Autokraten eher als Erkenntnisschranke. Denn ganz offensichtlich hatte die Grenzenlosigkeit seines Expansionismus nicht nur etwas zu tun mit Omnipotenzwahn und Realitätsverweigerung, sondern war auch begründet in der Struktur der napoleonischen Herrschaft. Der Parvenü bedürfe des Außerordentlichen, um sich an der Macht zu halten. Ruhige Zeiten, gelassenes Abwarten könne er nicht ertragen, hat Jacob Burckhardt einmal über Napoleon geurteilt und damit ein Grundproblem seiner politischen Existenz beschrieben: Als Emporkömmling, dem der selbstverständliche Rückhalt monarchischer Legitimität fehlte, war Napoleon nicht nur zum Erfolg verdammt – er musste seine Siege ständig überbieten und dabei immer höhere Risiken eingehen, um seine Stärke zu demonstrieren und einem Verschleiß seines Prestiges entgegenzuwirken. Insofern war er wohl weniger ein Hasardeur, als den Willms ihn sieht, als ein Getriebener, der den Zwängen des von ihm geschaffenen Systems nicht entrinnen konnte.

    Dennoch: Diese erste große Napoleon-Biographie eines deutschen Autors nach über hundert Jahren ist eine imponierende Leistung. Man liest die pointenreiche, mit vielen Anekdoten gewürzte Geschichte vom Aufstieg und Fall des großen Franzosen mit angehaltenem Atem und fühlt sich in gleicher Weise unterhalten und belehrt. Lässt sich etwas Besseres über ein solches Werk sagen?


    Volker Ullrich über Johannes Willms: Napoleon - Eine Biographie. Der Band ist bei C.H. Beck in München erschienen, 839 Seiten für 34,90 Euro.