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John C.G. Röhl: Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen Monarchie

In unser heutigen Revue politischer Literatur spannen wir einen Bogen, der von einer Biographie Wilhelms II. bis zur aktuellen Instrumentalisierung von Auschwitz für den neuen militärischen Interventionismus reicht. Wir informieren Sie über eine Neuerscheinung zur Arisierungspolitik, stellen eine Studie über die Romanistik im Dritten Reich vor und am Ende der Sendung machen wir Sie mit einem Lexikon der DEFA Filme bekannt. Am Mikrophon ist Hermann Theißen. Guten Abend.

Holger Afflerbach | 17.12.2001
    In unser heutigen Revue politischer Literatur spannen wir einen Bogen, der von einer Biographie Wilhelms II. bis zur aktuellen Instrumentalisierung von Auschwitz für den neuen militärischen Interventionismus reicht. Wir informieren Sie über eine Neuerscheinung zur Arisierungspolitik, stellen eine Studie über die Romanistik im Dritten Reich vor und am Ende der Sendung machen wir Sie mit einem Lexikon der DEFA Filme bekannt. Am Mikrophon ist Hermann Theißen. Guten Abend.

    Dass seit 1871 an der Stelle, wo vorher die kleinste der europäischen Mächte, Preußen, gestanden hatte, plötzlich die größte und stärkste, das Deutsche Reich, stand, war eine gewaltige Erschütterung des gewohnten europäischen Gleichgewichts. Die Veränderung ohne allgemeinen Krieg herbeizuführen, war ein schwieriges Kunststück gewesen. Europa an das neue Kräfteverhältnis zu gewöhnen, war noch schwieriger. Bismarck wusste noch, wie schwierig es war, und schaffte es durch eine überaus umsichtige, weise Politik, die Deutschlands Interessen begrenzte und überschaubar machte und sorgfältig vermied, einer anderen Großmacht auf die Füße zu treten. Er schuf Vertrauen für das neue Deutsche Reich. Seine Nachfolger schufen allgemeines Misstrauen.

    Der Publizist Sebastian Haffner schrieb das in seiner Analyse "Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg". Dieser brillante Essay erschien erstmals 1964. Der Gustav Lübbe Verlag hat ihn jetzt dankenswerterweise neu aufgelegt. Auch Bismarcks Nachfolger, das räumt Haffner ein, hätten den Krieg nicht um des Krieges willen gewollt,

    aber anders als Bismarck wollten sie jetzt Dinge, die ohne Krieg nicht zu haben waren.

    Vor allem wollte das neue Deutschland nicht mehr das alte europäische Gleichgewicht akzeptieren, und auch außerhalb von Europa sollte England als Hegemonialmacht abgelöst werden. Das wilhelminische Deutschland, so Haffner, zielte auf Führungs- und Ordnungsfunktionen.

    Ehe die deutsche Politik sich änderte, änderte sich das deutsche Denken. Man fühlte sich nicht mehr als saturierter Staat. Man fühlte sich unbefriedigt, zu kurz gekommen, zugleich spürte man seine wachsende Kraft. Der Gedanke des "Durchbruchs", der "Weltpolitik" und einer "deutschen Sendung" erfasste Deutschland: eine Stimmung des Aufbruchs und Ausbruchs. Das drückte sich zuerst in Büchern und Zeitungsartikeln, Universitätsvorlesungen, Manifesten und Vereinsgründungen aus, dann auch in politischen Entschlüssen und diplomatischen Aktionen. Etwa seit dem letzten Jahrfünft des 19. Jahrhunderts spielte das ganze deutsche Orchester plötzlich ein neues Stück.

    Und der Impressario, vielleicht auch der Dirigent dieses Orchesters, war Wilhelm II. Bereits 1993 hat der britische Historiker John C.G. Röhl den ersten Band seiner großangelegten Biographie Wilhelms II. vorgelegt. Nun ist der zweite Band erschienen. Er trägt den Titel "Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen Monarchie". Das voluminöse Werk beginnt mit der Thronbesteigung im Jahre 1888 und endet 1900 mit dem Übergang zur Weltpolitik. Unser Rezensent ist Holger Afflerbach.

    John Röhl, Professor an der University of Sussex und weltweit führender Wilhelm II-Spezialist, will den quellenmäßigen Nachweis erbringen, dass Kaiser Wilhelm II. im Zentrum des wilhelminischen Deutschland stand und das politische Geschehen dominierte. Und nicht etwa nur ein vielleicht unsympathischer, uniformverliebter, ansonsten eher harmloser Clown war. Mit einem Wort von Nicolaus Sombart hat John Röhl seinen Kollegen, allen voran dem Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler, vorgeworfen, die "Geschichte des Kaiserreichs ohne Kaiser, die des Wilhelminismus ohne Wilhelm" schreiben zu wollen.

    John Röhl beschäftigt sich seit nunmehr fast 40 Jahren mit Wilhelm II. Im Vorwort dieses Buches sagt er, "dass er die Geschichte dieser Zeit besser kennt als seine eigene". Das darf man wörtlich nehmen. Er will hier ein für alle Mal nachweisen, dass sein eigenes Urteil über den letzten deutschen Kaiser das einzig berechtigte sein kann, wenn man die Quellen kennt. Die Länge dieser Biographie ist auch darauf zurückzuführen, dass Röhl die Quellen selbst sprechen lassen will, um dem Verdacht zu entgehen, er lasse hier ein persönliches Urteil oder gar eine persönliche Animosität sprechen. In der Vergangenheit wurde ihm oft vorgeworfen, dass sein Bild Wilhelms II. zu einseitig und zu negativ sei. Tatsächlich breitet er hier ein tiefschwarzes Bild des letzten deutschen Kaisers vor dem Leser aus: Wilhelm II. war, so belegt er mit Hunderten von Beispielen, eine fatale Figur, von narzistischer Ichbezogenheit, überheblich, inkonsequent, oberflächlich, popularitätssüchtig, empfänglich für Schmeicheleien, hingegen keine Kritik duldend, dilettantisch in allem und trotzdem durchsetzungsstark. Er war nicht zu bremsen in seinem Einmischungsdrang. Röhl schreibt:

    "Um die Jahrhundertwende gab es kaum eine personal-, innen-, außen- oder militärpolitische Angelegenheit, die der Kaiser nicht selbst entschied, kaum einen öffentlichen Anlass, den er ohne persönliche Ansprache vorüberziehen ließ, kaum ein Feld, auf dem er sich nicht berufen fühlte, mit seiner sehr ausgeprägten Meinung hervorzutreten, kaum einen "Kollegen” unter den Monarchen Europas, den er nicht mit Korrespondenzen und Besuchen bedrängte und mit burschikosen Rippenstößen kränkte, kaum einen diplomatischen Bericht, den er nicht mit drastischen Randbemerkungen versah.”

    Die Kritik Röhls am Kaiser ist keine radikalrepublikanische, antimonarchistische, sondern ähnelt eher der, die auch die Mutter des Kaisers oft über ihren missratenen Sohn äußerte: dass er hätte erkennen müssen, dass das Zeitalter des Absolutismus vorbei war und dem Liberalismus und der parlamentarischen Monarchie die Zukunft gehörte. Doch Wilhelm II. sah dies, auch unter dem Einfluss seiner preußisch-reaktionären Umgebung und des Potsdamer Kasinomilieu, anders. Er wollte selbst herrschen, er lehnte den Parlamentarismus ab, schrieb in das Buch der Stadt München "regis voluntas suprema lex" – Der Wille des Königs ist das oberste Gesetz – oder "Sic volo, sic jubeo – "So will ich, so befehle ich". Der Reichstag war für ihn das "Reichsaffenhaus", und für die Parlamentarier, ganz besonders die Sozialdemokraten, hatte er nur Verachtung. Das Hauptinstrument seiner Macht war die Personalpolitik: Wer ihm nicht passte und wer ihn gar kritisierte, wurde rücksichtslos abgelöst. Diese Biographie behandelt den Machtkampf zwischen dem Kaiser und den obersten Staatsmännern – einen Kampf, den der Kaiser am Ende dieses Bandes vollständig gewann. Sie lebt vor allem davon zu zeigen, wie all jene, die sich des Prinzen vor seiner Thronbesteigung im politischen Machtkampf zu bedienen versucht hatten, in Ungnade fielen und abgelöst wurden. Besonders spektakulär war natürlich die Entlassung Reichskanzler Bismarcks 1890, dann die des Generalstabschefs Waldersee 1891 sowie 1894 die von Bismarcks Nachfolger, dem General v. Caprivi. Dessen Nachfolger wurde dann der schon 75-jährige altersschwache Diplomat v. Hohenlohe-Schillingsfürst. Vom Kaiser wegen einer weitläufigen Verwandtschaft "Onkel Chlodwig" gerufen und einseitig geduzt, war er eine bizarr ohnmächtige Figur. Er klammerte sich, auch aus finanziellen Gründen, an seinen Posten und ließ Wilhelm II. fast unumschränkt in der Sphäre des Politischen gewähren. Diese Jahre von 1894-1900 stellten dann auch den Höhepunkt der Macht Wilhelms II. dar. Wer in Deutschland etwas werden wollte, musste sich um die Gunst des Kaisers bemühen; das galt auch, wie hier minutiös nachgewiesen wird, in der bildenden Kunst. Eine Ausnahme bildete hier der Reichstagsarchitekt Wallot, der sich die kaiserlichen Interventionen entschlossen verbat – "Majestät, das geht nicht!" – und damit, wenn auch um den Preis kaiserlicher Ungnade, durchkam.

    Schließlich trugen in der Politik der Kaisergünstling Eulenburg und der von ihm protegierte Bülow den Sieg davon. Ihr Konzept war es, sich durch geschickte Behandlung des Kaisers dessen Gunst zu sichern und, auf diese gestützt, Deutschland zu regieren. Doch die 1900 beginnende Reichskanzlerschaft Bülows ist ein Gegenstand, der im noch zu schreibenden dritten Band auf uns wartet.

    Die Biographie ist abgefasst, als sei sie aus der Perspektive eines Insiders geschrieben: Vor uns wird ein Gespinst von Intrigen und Verwirrungen bei Hofe und in der Regierung, das Buhlen um die kaiserliche Gunst, die Stimmen und Gegenstimmen aus der kaiserlichen Umgebung ausgebreitet. Diese aus unterschiedlichen politischen Richtungen kommenden Stimmen sind in der Konzeption dieses Buches wie ein Chor, dessen Warnungen sich schließlich vereinen und immer eindringlicher vor dem schlechten Ausgang dieser Regierung warnen. Und diese Konsequenzen zeichnen sich gegen Ende des Buches schon deutlich ab: Die diplomatische Isolierung Deutschlands, die außenpolitisch fatalen Eingriffe des Kaisers, der Flottenbau, der die Beziehungen zu Großbritannien in der Folge zu belasten drohte und der unmittelbar auf den Marinewahn Wilhelms II. zurückging, sowie die Folgen der deutschen "Weltpolitik".

    Abschließend stellt John Röhl eine Frage, die sich als Quintessenz der Darstellung dem Leser schon die ganze Zeit aufdrängte: Was fehlte Wilhelm II.? Denn die Aktionen des Kaisers machen tatsächlich den Eindruck, er sei geistig nicht ganz normal gewesen. Im ersten Band hatte uns John Röhl mit der These konfrontiert, Wilhelm II. habe, infolge einer Sauerstoffunterversorgung während seiner extrem schwierigen und langwierigen Geburt, unter einem leichten Hirnschaden gelitten. Dieser führt typischerweise zu späterer Überaktivität und Rastlosigkeit – Eigenschaften, die sich bei "Wilhelm dem Plötzlichen" gut beobachten lassen. Doch hier, im zweiten Band, lässt Röhl durchblicken, dass dies möglicherweise noch nicht alles war. Im abschließenden Kapitel des Buches präsentiert er nochmals eine erdrückende Zahl von Stimmen verschiedenster politischer Richtungen, die sämtlich an der geistigen Gesundheit des Kaisers zweifeln. John Röhl äußert den Verdacht, dass Wilhelm II. von seiner Mutter die im britischen Königshaus verbreitete Genkrankheit der Porphyrie geerbt haben könnte. Diese Erkrankung, an der auch der "mad King" George III. gelitten hatte, führt unter anderem zu zeitweiser Unzurechnungsfähigkeit und extremer Launenhaftigkeit. Eine seiner Schwestern und einer seiner Söhne litten nachweislich an dieser – sich dominant vererbenden – Krankheit. War also Wilhelm II. über das bisher vermutete Maß hinaus verrückt? Hier könnte ein Gentest Gewissheit bringen. Wenn das stimmen sollte, wäre der Befund für Wilhelm II. weniger schlimm als für das Land, das er regiert hatte. Denn er, als Kranker, wäre teilweise exkulpiert, während sich die Frage erheben würde, warum sich das Deutsche Reich von 1888-1918 von einem zeitweise unzurechnungsfähigen Monarchen hatte regieren lassen.

    Röhl spricht viele wichtige Fragen an und liefert der weiteren historischen Forschung sehr viel Material. Schwachpunkte sind die unmäßige Länge des Buches, die Detailverliebtheit und Zitierfreudigkeit des Autors. Das wäre sicher auch knapper gegangen, und vielleicht wären die Thesen John Röhls bei stringenterer Erzählweise sogar noch prägnanter herausgetreten. Denn diese sind vielfach überzeugend. Diejenigen, die den Kaiser für eine weniger zentrale Figur der deutschen Geschichte halten als Röhl, müssen sich mit diesem Buch auseinandersetzen und ihre Ansicht begründen. Es handelt sich um ein Werk, das man mögen oder nicht mögen darf, das aber aus der Forschung zum Kaiserreich nicht mehr wegzudenken sein wird.

    Eine Rezension von Holger Afflerbach. Der Band "Wilhelm II. - Der Aufbau der persönlichen Monarchie" von John Röhl ist im C.H. Beck Verlag in München erschienen. Das Werk umfasst 1437 Seiten und kostet DM 88,--. Ebenfalls im Beck Verlag ist bereits 1993 der erste Band dieser Biographie erschienen. In diesem Jahr hat Beck eine überarbeitete Neuauflage vorgelegt. Sie trägt den Titel "Wilhelm II. - Die Jugend des Kaisers 1859 - 1888", umfasst 980 Seiten und kostet 78 DM.