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John Horne/Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit.

Nationalistisch aufgeheizt und mit klaren Feindbildern ausgestattet waren auch die deutschen Soldaten, die 1914 gen Westen zogen und in Belgien und Nordfrankreich Tausende von unbewaffneten Zivilisten massakrierten. Die Berichte von diesen Kriegsverbrechen wurden von der deutschen Generalität zunächst als alliierte Propaganda abgetan. Später versuchte man sie mit der Rede von einem illegalen "Volkskrieg" zu relativieren, bei dem Priester, Frauen und sogar Kinder die deutschen Truppen heimtückisch angegriffen hätten.

Von Gerhard Hirschfeld |
    "Deutsche Kriegsgreuel 1914, Die umstrittene Wahrheit" ist eine von den irischen Historikern John Horne und Alan Kramer verfasste Studie überschrieben, die jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist. Gerhard Hirschfeld hat die nun folgende Rezension geschrieben.

    Am 23. August 1914, etwa drei Wochen nach Beginn des deutschen Einmarsches in Belgien, erreichten Einheiten der 3. deutschen Armee Dinant in der südbelgischen Provinz Namur. Die Einnahme der an der Maas gelegenen Kleinstadt gestaltete sich erheblich schwieriger als die sächsischen Truppen unter dem Kommando des Generalobersten Max von Hausen dies erwartet hatten. Heftiges Artillerie- und Gewehrfeuer eines am westlichen Maasufer eingegrabenen französischen Infanterieregiments machten den Soldaten ebenso zu schaffen wie ihre physische und psychische Erschöpfung nach tagelangen Gewaltmärschen. Die nervenzerrende Anspannung entlud sich in zahlreichen Gewalttaten und Massakern an belgischen Zivilisten, unter ihnen auch zahlreiche Frauen und Kinder.
    Der Soldat Paul Reime, Angehöriger des sächsischen Grenadierregiments 101, schilderte dreizehn Jahre später, wie sich das Massaker in dem Dorf Les Rivages, drei Kilometer südlich von Dinant, ereignet hatte. Seine Einheit war am rechten felsigen Steilufer der Maas zuvor auf eine Gruppe belgischer Zivilisten gestoßen:

    Zitternd ergeben sie sich in ihr Schicksal und erwarten anscheinend den Tod von unseren Bajonetten. Aber wir geben uns Mühe, sie zu beruhigen. Das folgende vollzieht sich im Tempo und mit der Unerbittlichkeit einer Katastrophe: Die Leute sind zur Straße hinaufgebracht worden. Neue Angst befällt sie beim Anblick der dort haltenden Kompanien. Man visitiert sie, ohne etwas Verdächtiges zu finden; sie sollen hinter die Linie gebracht werden. Aber – die Ärmsten! – es kommt nicht dazu. Ein Maschinengewehr, vom jenseitigen Ufer feuernd, erzeugt einen in seinen Folgen entsetzlichen Wirrwarr. Die Felswand wirft den Knall der Schüsse hundertfach zurück. Wer das erste >Taktak< von drüben nicht gehört, glaubt, es würde aus dem Hinterhalt geschossen. >Franktireure!< gellen plötzlich wilde Rufe. Man zeigt zu den Felsen hinauf und greift zu den Gewehren. Es entwickelt sich eine sinnlose Schiesserei, der das Kommando >Stopfen< nur allmählich ein Ende bereitet.

    Der kommandierende Offizier, ein Major Schlick, ordnet daraufhin die sofortige Erschießung der belgischen Zivilisten an – trotz des Protestes eines französisch sprechenden Hauptmannes, der den Belgiern zuvor versichert hatte, dass ihnen kein Leid angetan würde. Der Soldat Paul Reime wird zum Augenzeugen der Hinrichtung:

    Ich blicke mich um: entsetzlicher Anblick! Ein Menschenklumpen ballt sich, stürzt und zuckt… Schreie von Kindern und Frauen … die zweite Salve … ein wilder Knäuel wälzt sich am Boden. Ich sehe die noch Lebenden sich hinter Sterbenden verkriechen und wende mich ab.


    Zwischen dem 23. und 25. August wurden in Dinant 674 Zivilisten standrechtlich erschossen, weitere 400 Menschen wurden verschleppt, sämtliche öffentlichen Gebäude des Ortes zerstört: die 3. Armee hinterließ eine breite Spur der Verwüstung, als sie von Dinant aus weiter in Richtung der belgisch-französischen Grenze vorrückte.

    Aus keinem Verstoß gegen das internationale Kriegsrecht während des Ersten Weltkriegs hat die alliierte Propaganda größeren Gewinn gezogen als aus dem brutalen Vorgehen der deutschen Armeen in Belgien und Nordfrankreich 1914. Die "deutschen Gräueltaten" und die schlimmen Zerstörungen von Kulturdenkmälern, deren bekannteste der Brand der Bibliothek von Löwen war, avancierten rasch zu einem ständigen Memento der alliierten Kriegführung; sie wurden noch 1919 zur Verschärfung der Schuld- und Strafbestimmungen des Versailler Vertrags herangezogen. Die deutsche Seite hat die standrechtlichen Erschießungen belgischer und französischer Zivilisten keineswegs bestritten, sie bezeichnete diese jedoch als im Einklang mit dem Kriegsrecht stehend und als angemessene Reaktion auf die Angriffe von Freischärlern.

    Die Dubliner Historiker John Horne und Alan Kramer haben jetzt in einer umfassenden Darstellung dieser Ereignisse nachgewiesen, dass es sich bei der Mehrzahl der summarisch vollstreckten Hinrichtungen der etwa 5.500 belgischen und 1000 französischen Zivilisten (darunter auch zahlreiche Frauen und Kinder) eindeutig um Verstöße gegen das Kriegsrecht, mithin um Kriegsverbrechen, handelte. Und sie legen überzeugend dar, wie es zu der deutschen Politik der massiven Repressalien und des zielgerichteten Terrors gegen die Zivilbevölkerung kommen konnte.
    Die Invasion Belgiens im August 1914 war kein Meisterstück deutscher Feldherrenkunst gewesen – in politischer Hinsicht hatte sich die von der Reichsleitung durchaus kalkulierte Verletzung der belgischen Neutralität ohnehin als ein Desaster herausgestellt. Der auf dem großen Kriegsplan, einer modifizierten Version des Schlieffenplanes von 1912, basierende Vormarsch der deutschen Armeen stieß bereits in den ersten Tagen der Invasion auf den erbitterten Widerstand der belgischen Armee. Die Eroberung der stark gesicherten Festungen von Lüttich, Namur und Antwerpen gestaltete sich schwieriger als erwartet. Zwar zogen bereits am 20. August deutsche Verbände in die Hauptstadt Brüssel ein, doch im Süden und Westen des Landes, vor allem entlang der Flüsse Maas und Yser, dauerten die Kämpfe fort. Für die auf einen raschen und verlustarmen Sieg eingestimmten deutschen Soldaten entpuppte sich der heftige belgische Widerstand als eine veritable Überraschung. Man erinnerte sich an den deutsch - französischen Krieg von 1870/71 und das Wort von einem neuen "Franktireurskrieg" machte rasch die Runde - in Wahrheit handelte es sich eher um eine "Franktireurspsychose".

    Den vermeintlichen Attentaten belgischer "Heckenschützen" auf deutsche Soldaten lag – wie beim Massaker von Les Rivages - oftmals eine fehlerhafte Beurteilung der Sicherheitslage zugrunde. Nicht immer waren es reguläre belgische Einheiten oder die inzwischen nach Belgien eingerückten französischen Truppen, die den deutschen Vormarsch ins Stocken brachten. Häufig genug gerieten deutsche Soldaten durch den ihnen vom kaiserlichen Generalstab auferlegten eiligen Vormarsch unter den Beschuss eigener Einheiten, und immer wieder durchbrachen angetrunkene deutsche Soldaten die Ruhe der verhängten nächtlichen Ausgangssperre mit wilden Schießereien und unkalkulierbaren Folgen. Nur in wenigen dokumentierten Fällen hatten Angehörige der lediglich durch Armbinden uniformierten belgischen "Gardes Civique" – die nach eigenem, nicht aber nach deutschem Verständnis als Militär gekennzeichnet waren – das Feuer auf vorrückende deutsche Soldaten eröffnet.
    Das Ergebnis war eine Kriegslage, welche die militärischen Führer vor Ort oftmals schlicht überforderte und die sie nun mit brachialen Mitteln zu bewältigen suchten. Bestärkt wurden sie in ihrem "Hau drauf"-Verhalten von höchster Stelle: selbst der Kaiser äußerte Verständnis für das brutale Vorgehen seiner Truppen.

    Mit dem Erstarren der Front zum "Stellungskrieg" nahm die deutsche Politik der Vergeltungen und Repressalien ab, nicht jedoch der inzwischen voll entflammte Propagandakrieg mit heftigen Anschuldigungen und Gegenbehauptungen. Hier liegt ein weiteres Verdienst dieser bedeutenden Studie, die den "deutschen Greueltaten" von 1914 ihren Platz im sog. "Krieg der Kulturen" zuweist. Auffallend ist, dass die keineswegs subtile Instrumentalisierung der Ereignisse in Belgien und Nordfrankreich zunächst weniger von den alliierten Regierungen als von den "feindlichen" Intellektuellen und Künstlern betrieben wurde. Bereits 1915 hatte Deutschland diesen Propagandakrieg verloren, die internationale Isolierung der Deutschen nach Kriegsende findet hier eine weitere Begründung.

    Inzwischen allerdings hatte Deutschland seine "Gegenrechnungen" aufgemacht, etwa im so genannten Weißbuch von 1915 mit tatsächlichen oder behaupteten Verstößen der Alliierten gegen das Kriegsvölkerrecht. Hieraus und aus dem kollektiven Gefühl, stets selbst nur ein Opfer des Krieges gewesen zu sein (mit Millionen gefallener und versehrter Soldaten), resultierte die Weigerung der meisten Deutschen, auch noch nach dem Kriege, sich jemals ernsthaft mit diesem düsteren Kapitel deutscher Kriegführung auseinander zu setzen. Von der Mehrheit der Historiker wurde es nahezu ausschließlich als ein Thema der Propaganda und der mythischen Legendenbildung im Weltkrieg erörtert.

    Doch die Erinnerung an den vermeintlichen "Franktireurskrieg" wirkte fort. Nicht nur Hitler behielt den "Präzedenzfall" von 1914 fest im Blick. Welche geschichtsmächtigen Bilder und tiefsitzenden Vorurteile hierbei virulent waren und jederzeit abgerufen werden konnten, zeigt das Verständnis, das viele deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg für so genannte "Sühnemaßnahmen" und "präventive Repressalien" der Wehrmacht gegenüber der gegnerischen Zivilbevölkerung empfanden – auch wenn diese klar gegen geltendes Kriegs- und Völkerrecht verstießen.

    John Horne und Alan Kramer haben ein brillantes Buch geschrieben, das zu den besten Darstellungen einer modernen Kulturgeschichte des Krieges zählt. Angesichts der aktuellen Debatten um die Anwendung des Kriegsvölkerrechts und die internationale Ahndung von Kriegs- und Menschheitsverbrechen ist das Thema - leider - nicht nur von historischer Bedeutung.

    Eine Rezension von Gerhard Hirschfeld. John Horne und Alan Kramer sind die en von "Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit." Der Band umfasst 741 Seiten, kostet Euro 40,-- und ist erschienen in der Hamburger Edition.