"Männern mit blutigen Händen" überließ Europa bereits 1914 seine Zukunft. Die Politik dankte ab, die Zyniker der militärischen Eskalation übernahmen die Herrschaft. Davon handelt John Keegans jüngster Band "Der Erste Weltkrieg - Eine europäische Tragödie", der jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist. Unser Rezensent ist Sven Kramer.
Antike Historiker meinten, wir Menschen würden lebendige Erinnerungen an einschneidende kollektive Erlebnisse ein Säkulum – also drei Generationen lang – bewahren. Für den Ersten Weltkrieg läuft diese Frist langsam aus. Die mündlich überlieferten Familienberichte versiegen stetig, nur Gedenksteine und Soldatenfriedhöfe mahnen noch an die Kriegstoten. In Deutschland war zudem die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg schon bald durch jene an den Zweiten überlagert und verdrängt worden.
Wenn nun der renommierte britische Militärhistoriker John Keegan ein Buch über den Ersten Weltkrieg vorlegt, so greift er einerseits auf sein eigenes Generationen-Gedächtnis zurück, denn sein Vater war Soldat an der Westfront. Dessen traumatische Erfahrungen prägten auch den Sohn: durch das Erzählte wie durch das bedeutsam Verschwiegene. Andererseits wirft Keegan am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts einen um Distanz bemühten, resümierenden Blick auf den Großen Krieg. Er bietet eine wissenschaftlich fundierte, für ein größeres Publikum geeignete, kompakte Gesamtdarstellung, die von der diplomatischen Krise des Jahres 1914 bis zum Versailler Vertrag reicht. Kein wichtiger Aspekt fehlt. Neben den zermürbenden Gemetzeln an der Westfront geht er ausführlich auf die Ostfront ein und vergisst auch die süd- und außereuropäischen Kriegsschauplätze nicht. Abschnitte über den See- und den Luftkrieg komplettieren die Studie.
Mit seinem Buch "Die Kultur des Krieges" hat Keegan vor einigen Jahren neue Akzente in der Forschung gesetzt. Innovativ war seine Verknüpfung der traditionellen Militärgeschichte, die sich um die Rekonstruktion von Schlachten und Kriegsstrategien kümmerte, mit technik- und mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen. Diese Mischung bestimmt auch seine Untersuchung über den Ersten Weltkrieg. In groben Zügen skizziert er die Verläufe jener Schlachten, deren Namen noch heute ein Nimbus des Schreckens umgibt, etwa jener an der Marne, bei Ypern, bei Verdun, an der Somme, bei Cambrai, Gallipoli oder der Seeschlacht am Skaggerak. Dabei grenzt er sich von jeder Kriegsbegeisterung, auch in der Wissenschaft, ab:
"Die neue Generation junger Militärhistoriker hat begonnen, die Schlachten noch einmal zu schlagen. Dem Verfasser dieses Buches erscheint das als eine sinnlose Kraftverschwendung. Die schlichte Wahrheit des Stellungskrieges von 1914-18 ist: Die Konfrontation einer großen Anzahl von Soldaten, die nur durch Uniformen aus Tuch geschützt waren, mit einer großen Masse anderer Soldaten, die durch Grabensysteme und Stacheldraht geschützt und mit Schnellfeuerwaffen ausgerüstet waren, musste bei den Angreifern zu sehr hohen Verlusten führen. Die Bedingungen der Kriegführung zwischen 1914 und 1918 machten ein Gemetzel nahezu unvermeidlich, und nur eine völlig andere Technik, die freilich erst eine Generation später zur Verfügung stand, hätte ein solches Resultat vermeiden können."
So erschreckend wie bei Erich Maria Remarque, so hautnah wie bei Ernst Jünger erscheint der Krieg bei Keegan nicht. Die von ihm nachgezeichneten strategischen und taktischen Fragen, die den Standpunkt der Generalität widerspiegeln, rücken das Leid der Soldaten mitunter in den Hintergrund. Zum Ausgleich streut Keegan aber immer wieder erschütternde Berichte von Frontsoldaten ein. Andererseits setzt gerade sein scheinbar kalter Blick auf die militärischen Umstände ein Gefühl für jene maschinenartige Zwangsläufigkeit frei, mit der der Tod produziert wurde. Darin liegt ein Hauptcharakteristikum von Keegans Deutung des Ersten Weltkrieges: dass ein Selbstlauf der Zerstörungslogik in Gang gekommen sei, gegen den es zeitgenössisch keine tauglichen Instrumente gegeben habe.
So sieht er den wichtigsten Grund für den Ausbruch des Krieges in der Eigenlogik der militärischen Geheimpläne. Für das Deutsche Reich legte der nach General Schlieffen benannte Plan exakte Mobilisierungs- und Aufmarschzeiten fest. Er bestimmte, dass hauptsächlich nach Westen mobilisiert werden müsse, weil Frankreich von Norden aus durch das neutrale Belgien zu erobern sei, bevor Russland im Osten entscheidend zuschlagen könne. Mobilisierung bedeutete also Krieg.
"Ein Heer, das 1914 nicht losschlug, sobald die Zeit es erlaubte, konnte noch während der Mobilmachung zerschlagen werden. Wenn es nach Abschluss der Mobilmachung nicht angriff, deckte es seine Karten auf und verzichtete auf den Vorteil, auf den der Operationsplan so sorgfältig ausgerichtet war. Diese Problematik stellte sich für Deutschland ganz akut: Wenn es nicht zur Offensive überging, sobald die Soldaten an den Entladepunkten eintrafen, wurde die ungleiche Verteilung der Kräfte zwischen dem Westen und dem Osten sowie die Konzentration der Truppen gegen Belgien offen sichtbar. Das hätte bedeutet: Der Schlieffenplan wurde enthüllt."
Der logistische Zwang, Pläne für den Truppentransport per Eisenbahn bereitzuhalten, und die strategische Doktrin des schnellen Handelns schränkten die Möglichkeiten der Diplomatie ein. Einzelne Akteure können in Keegans Darstellung zwar die Tendenzen abmildern oder beschleunigen, sie können sie aber nicht aufhalten. So sucht er die Schuld für den Kriegsausbruch nicht bei einer Person, also etwa bei Wilhelm dem Zweiten. Auch gegenüber Fritz Fischers These, Deutschland komme eine Hauptschuld zu, bleibt Keegan zurückhaltend. Er erklärt den Kriegsausbruch weniger aus den Intentionen der Beteiligten als aus der Eigengesetzlichkeit überpersonaler Faktoren wie den Kriegsplänen. In diese Faktoren sei auch das Handeln der Generäle während des Krieges eingebunden gewesen. Zwar erkennt er besondere Stärken an und deckt individuelle Schwächen auf, doch insgesamt macht er sich von jener Militärgeschichtsschreibung frei, die den Genius des Feldherrn zum Bewegungsgesetz der Schlacht erhebt. Die obersten Befehlshaber erscheinen als Gefangene struktureller Beschränktheiten. So mussten sie zum Beispiel die Artillerie während der Schlacht unter den Bedingungen unausgereifter Kommunikationstechniken handhaben.
"Zwischen allen Kommandeuren und ihren Männern war der Eisene Vorhang des Krieges niedergegangen und hatte sie voneinander abgeschnitten. In einem früheren Krieg hätten die Kanoniere die Ziele mit dem bloßen Auge gesehen; in einem späteren hätten Artilleriebeobachter mit Funkgeräten das Feuer der Geschütze mündlich geleitet. Im Ersten Weltkrieg wurde der Frontverlauf kartographisch verzeichnet und fast täglich auf den neuesten Stand gebracht. Aber der Funkverkehr, durch den das Feuer der Geschütze zum richtigen Zeitpunkt hätte herbeigerufen werden können, existierte noch nicht. So waren die Generale in den eisernen Fesseln einer Technik gefangen, die sich für die Massenvernichtung von Menschenleben nur allzu gut eignete, ihnen aber die Kontrollmöglichkeiten vorenthielt, mit denen sie diese Vernichtung in erträglichen Grenzen hätten halten können."
Keegan vergegenwärtigt die verschiedenen Tötungstechnologien des Stellungskrieges: von den Geschütz- und Gewehrtypen über die Stacheldrahtverhaue bis zum Sperrfeuer und der gefürchteten Feuerwalze der schweren Artillerie. Und er schildert das Standhalten durch den optimierten Schützengrabenbau. Vor allem zeigt er, dass der Krieg als Beschleuniger für die Entwicklung neuer Tötungs- und Kampfverfahren wirkte. Wie die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Massentötung durch Zyklon B erfanden, so setzten sie 1915 als erste Giftgas ein. Die Gegenseite experimentierte mit Panzern. Deshalb tendierte der Erste Weltkrieg auch in der technologischen Dimension zum totalen Krieg. Das Leben der Soldaten wurde großzügig und planmäßig geopfert.
Doch nicht nur durch die erlittenen Verluste stellte der Große Krieg viele Weichen für das zwanzigste Jahrhundert. So war etwa die Februarrevolution in Russland auf das Engste mit der dortigen Kriegsmüdigkeit verbunden. Und der Sieg der Bolschewiki – und damit das Entstehen sozialistischer Staaten – wurde durch jenen plombierten Eisenbahnwaggon ermöglicht, in dem die Deutschen Lenin und seine Mitstreiter aus kriegsstrategischen Gründen an die russische Grenze beförderten. Die wichtigste Nachwirkung des Ersten Weltkrieges sieht Keegan jedoch im Entstehen des Zweiten, den er als die Fortsetzung des Ersten bezeichnet. Nicht nur, weil Hitler als Gefreiter im Stellungskrieg diente, sondern wegen des Versailler Vertrages, der Deutschland gedemütigt habe. Doch die Albträume des zwanzigsten Jahrhunderts gehören für Keegan zur Vergangenheit. Während sein Resümee über diese Vergangenheit düster ausfällt, beurteilt er die Gegenwart geradezu euphorisch – im Lichte der jüngsten Kriege, die ausgerechnet auf dem Balkan geführt wurden, wohl zu euphorisch:
Sven Kramer über John Keegan: "Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie". Der Band ist im Kindler Verlag in Reinbek bei Hamburg erschienen, umfasst 638 Seiten und kostet 68 DM.
Hinweis: John Keegan: Die Kultur des Krieges, Rowohlt Verlag, Berlin 1995