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Jon Fosses "Todesvariationen"

Das Meer muss jetzt ruhig sein: Sanft schaukelt der Bootsmast in der Dunkelheit hin und her. Doch etwas ungeheuerliches ist passiert. Ein Mädchen ging ins Wasser, man hat sie am Kai gefunden, die Mutter hat sie identifiziert und nun dem Vater, der längst nicht mehr ihr Mann ist, die Nachricht überbracht. Ungeheuerlich ist auch, dass Jon Fosse diese Geschichte erzählt, der Dramatiker und Romancier, der sonst stets jeden Grund verweigert für das Gebahren seiner Figuren, für Trauer, Ängste oder Beklemmung. Es sind Leute an den Fjorden Norwegens, die sich, quasi einem inneren Zwang folgend, mit wenigen und immer denselben Vokabeln in tiefste Verzweiflung schrauben. Dabei sind ihre Probleme – zumindest für einen mitteleuropäischen Stadtneurotiker – die normalsten der Welt. Doch der Selbstmord der einzigen Tochter ist wohl echter Dramenstoff, und die Ratlosigkeit derer, die das aushalten müssen, nur zu verständlich.

Von Hildegard Wenner |
    Fosse bleibt auch in den "Todesvariationen" seinem Stil treu. Ein Meister der Redundanz und Reduktion, in der das Wichtige stets zwischen den Worten liegt, baut er auf Sprachrhythmus bedachte Gerüste ohne Komma, Punkt und Fragezeichen, oft abgebrochene Sätze, Petitessen, in denen fast nichts gesagt wird – "es ist ... es ist nicht" – das dann allerdings in unerbittlichen Endlosschleifen. Die beiden Alten schickt er – Rückblenden gleich - in die eigene Vergangenheit. Als junger Mann und junge Frau – bei Fosse gibt es wieder keine Namen – treten sie zunächst auf kurz vor der Geburt ihrer Tochter, sie haben kein Geld aber immerhin eine Wohnung, alles soll gut werden, versichert man sich zaghaft und unbeholfen – aber natürlich wird nichts gut. Bald verlässt der Mann die Familie wegen einer anderen Frau, die Tochter ist immer noch lieb, hat sich aber längst in eine andere Welt verkrochen, in eine Beziehung, die verlässlich und von Dauer sein möge. Ein "Freund" umkreist sie früh - es ist Freund Hein. "Der Tod und das Mädchen" locken und stossen sich ab und hier obduziert der Dramatiker nicht mehr kalt, flicht vielmehr alle Zutaten aus dem Handbuch der Psychologie in sein Stück.

    Matthias Hartmann hätte nun Franz Schuberts Streichquartett in d-moll – Der Tod und das Mädchen - intonieren lassen können, doch er enthält sich als Regisseur der deutschsprachigen Erstaufführung dieser "Todesvariationen" aller Fosse-"Stimmung". Die Vorlage hat durchaus noch den Blues, doch Hartmann stellt den Plattenspieler ab, schafft eine Atmosphäre nach der Sperrstunde. In einem weißen, sich leicht nach hinten verengenden Kasten gibt es außer einem weißen Hocker, der hauptsächlich gebraucht wird, um dem Autor beim Schlussapplaus auf die Bühne zu helfen, nichts zum Festhalten für die sechs Schauspieler. Dennoch haben ihre Hände Hochkonjunktur, die aus Fleisch und Blut, ineinander verkrallt oder ins Leere greifend - und ihre Schatten. Denn der Bühnenbildner Karl-Ernst Hermann lässt eine Kamera wie einen Suchscheinwerfer beständig an der Rampe entlangfahren, sie schafft Parallelgesellschaften zu den agierenden Paaren, die wie auf einem Laufband über die Hinterwand gleiten und ihre Befindlichkeit und die Beziehungen zueinander kenntlich machen. Je nach Standort und Licht werden sie größer oder kleiner – so genial einfach hat selten einer alles illustrierende Videowerk ad absurdum geführt.

    So formbewusst, beinahe geometrisch diese Studie der verpassten Gelegenheiten und immerwährenden Abschiede angelegt ist – so konsequent vermeidet die Regie den "hohen Ton". Hans-Michael Rehberg, der sich als "älterer Mann" kaum vom Fleck bewegt, höchstens mal die Hacken hebt, grummelt oder verschluckt seine Jas und Neins. "Ich kann dein Gesicht nicht mehr sehen" sagt er mehrmals zu seiner Ex-Frau und man weiß nicht, ob sie ihn an seine tote Tochter erinnert oder einfach verschwinden soll, weil die neue junge Freundin wartet. Barbara Nüsses "ältere Frau" ist ganz irdisch verzagt und verhärmt, sogar Freund Tod eher von dieser Welt. Als netter harmloser Gymnasiast erfüllt Johannes Zirner die schwarze Mission an seiner Teenager-Freundin. Cathérine Seifert geht mit großen naiven Augen und eine Spur zu kokett durchs junge Leben und dann ins Wasser. Den letzten Schritt möchte sie am Ende wieder rückgängig machen – er ist nur eine Todesvariation, denn tot sein kann man auch im Leben.