Freitag, 19. April 2024

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Jonathan Coe - ein Radioporträt

Jonathan Coe ist ein Autor, der Politik und Literatur keineswegs als Widerspruch empfindet, sich in seinen Arbeiten schon immer engagierte und bewusst Stellung bezog. Sein 1995 erschienener dritter Roman Allein mit Shirley, das Porträt eines adligen Familienclans, der sich mit skrupelloser Raffgier während der Thatcher-Ära bereichert, gilt als die bissigste und amüsanteste Satire üben die konservative Sozial- und Wirtschaftspolitik. Und auch sein jüngstes Werk Rotters Club, noch nicht auf deutsch erschienen, versteht sich wieder als politisches Buch, obwohl es eindeutig und unmissverständlich Coe's privatestes Werk ist. Der Roman ist durch und durch autobiographisch getränkt, denn in ihm erzählt der Autor von einer Jugend in den 7oer Jahren in Birmingham, also jenen Jahren, in denen er selbst dort aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Es ist die Geschichte zweier Heranwachsender, zweier Schulfreunde aus unterschiedlichen sozialen Milieus:

Johannes Kaiser | 14.09.2002
    Es war sehr aufregend und hat viel Spaß gemacht. Diesen Roman zu schreiben, war die vergnüglichste Erfahrung, die ich als Schriftsteller bislang gemacht habe. Ich hatte zudem viel Glück, weil ich als Schüler Tagebuch gerührt hatte, zwar nur zwei, drei Jahre lang, aber so hatte ich wenigstens genaue Aufzeichnungen darüber, was für ein Junge ich mit 16 war. Ich brauchte es mir nicht auszudenken, auch wenn ich es ändern musste, denn die Wahrheit über mich war zu schrecklich, um sie auf Papier zu bringen. Meine Figur Benjamin wäre nicht sympathisch gewesen, wenn sie auf mir basiert hätte. Ich machte ihn also liebeswerter, als ich es war. Dennoch machte es Spaß, denn die Tagebücher brachten mich in diese Welt zurück. Eine Zeitlang während meiner Arbeitsstunden wurde ich wieder zum Heranwachsenden, wenn auch ohne die schrecklichen Ängste, die man als Jugendlicher durchmacht. Ich konnte einfach die besten Teile genießen.

    Rotter's Club soll übrigens eine Fortsetzung finden. Im zweiten Teil will der Autor erzählen, was aus seinen Figuren vierzig Jahre später geworden ist. Obwohl das Buch sich intensiv mit den Konflikten Heranwachsender auseinandersetzt, starke autobiographische Züge aufweist, ist es doch auch ein politischer Roman, denn er behandelt sowohl die gewerkschaftlichen Kämpfe, die Großbritannien während dieser Jahre lahmten, als auch die IRA-Bombenanschläge, die die englische Gesellschaft in Angst und Schrecken versetzten. Man würde Jonathan Coe dennoch unrecht tun, wollte man ihn als politischen Autor bezeichnen, nur weil er ein politisch aufmerksamer Beobachter seiner Zeit ist und dies auch in seine Bücher mit einfließen läßt. Bei allem Interesse: Politik ist für ihn nur eines von drei großen Themen, die ihn immer wieder beschäftigen. Coe:

    Es gibt die Ebene des politischen Engagements, eine Art sozialkritischer Ader, die sich durch die letzten drei Bücher zieht. Dann gibt es das Thema des Mannes, der passiv ist, der die Gelegenheiten, die sich ihm bieten, insbesondere in der Liebe oder auch im Sexuellen, nie ergreift, eine Art Archetyp des schüchternen, verlegenen Engländers und schließlich halte ich für mein wichtigstes Thema das Vergehen der Zeit und wie jugendlicher Idealismus zu Pragmatismus verkümmert und in jenen Kompromissen verschwindet, wie wir sie in unserem Erwachsenenleben eingehen, das Gefühl des Potentials, das man als junger Mensch noch hat und wie diese unendlichen Wahlmöglichkeiten sich zu dem Weg verengen, den zu gehen einen die Verhältnisse zwingen.

    Einer, der mit großen Ambitionen in seiner Jugend gestartet ist, ist Terry in Jonathan Coes letztem übersetzen Roman 'Das Haus des Schlafes', einer Geschichte um einen durchgedrehten Wissenschaftler, der mit perversen Methoden versucht, Schlafstörungen zu kurieren - eine böse Satire auf den kommerziellen Wissenschaftsbetrieb und seine Menschenexperimente. Terry, der schon seit Jahren nicht mehr schläft, ist eines der Opfer. Das hängt auch damit zusammen, dass er immer davon träumte, einen richtig guten Film zu drehen, aber als Filmjournalist endete. Als er glaubt, endlich eine Chance zu bekommen, einem Produzenten für seine Idee zu gewinnen, erlebt er eine herbe Enttäuschung:

    Gott, Leute wie Sie haben ich wirklich gefressen, Terry. Ihr hättet hier noch eine anständige Filmindustrie, wenn es nicht Leute wie Sie gäbe. Als ihr auf der Bildfläche aufgetaucht seid- so gegen Ende der 50iger Jahre, habe ich recht? -, war das der Anfang vom Ende. Intellektuelle, "zornige junge Männer": John Osbome, Woodfall Firnis, bürgerliche Linke. Mit einem Mal sollten wir alle die Heilsbotschaft verkünden, dass Film eine Kunstform ist - als hätte das vorher niemand geglaubt -, und jeder zweite Film stammte von irgendeinem Romantiker, der auf einer teuren Privatschule gewesen war und uns seine Vorstellung vom Leben der Arbeiterklasse vermittelte. Und seit dem hat sich nichts geändert. Herrgott, ich habe es noch in keinem anderen Land erlebt, dass man sich wie hier vor Leuten verbeugt, nur weil sie behaupten, Künstler zu sein! Und Schriftsteller! Gott, was betet ihr doch die Schriftsteller an! Kein Wunder, dass jemand wie Sie eine so erstaunlich hohe Meinung von sich hat - obwohl anscheinend das einzige, was sie bislang zu Papier gebracht haben, auf die Rückseite eines Briefumschlags passt, und dann hätte man immer noch Platz für die halbe Unabhängigkeitserklärung!"...

    "Wenn alle Produzenten so wären wie er ", sagte Terry, jetzt an Kingsley gewandt, während er mit dem Finger anklagend in Logans Richtung zeigte, "nicht auszudenken wäre das! Dann hätte es weder Eisenstein gegeben noch Fellini..." Kannst Du Dir die Geschichte des Kinos ohne Fellini vorstellen?" "Ja, eigentlich schon", sagte Kingsley aufrichtig. "Ich meine, es genügt doch, wenn im Kino Cola und Popkom verkauft wird. Um sich solche Themen des Scheitems, der verpassten Gelegenheiten zu wählen, muss man die 30 weiter hinter sich gelassen haben oder Familienvater geworden sein, das Single-Dasein verlassen haben. All dies trifft aufJonathan Coe zu und unterscheidet ihn deutlich von den Debütanten der Londoner Szene, den zwanzig- bis dreißigjährigen, die noch hungrig sind auf Erfahrungen, gierig auf Abwechslung, die noch den Kick des Ungewöhnten, Fremden suchen, nach kulturellen und persönlichen Abenteuern Ausschau halten. Auch Jonathan Coe war das mal wichtig, war London eine aufregende, inspirierende Erfahrung. Doch jetzt zieht es ihn eher aufs Land. Für seine Frau eine furchtbare Vorstellung -folglich bleibt man in der Stadt.

    Jeder, der jung ist, möchte in großen Städten leben, denn man steckt voller Energie, einer Energie, die es einem erlaubt, mit der großen Stadt Schritt zu halten. Es macht einem nichts aus, in Armut zu leben, man kommt damit klar, weil man das bislang gewohnt ist und man kann damit noch ein paar Jahre leben. Was mich anbetrifft, so sind meine Romane sind länger, komplizierter und gelassener geworden und jedes Mal, wenn man in dieser Richtung weiter vorankommt, muß man vom Lebenstempo einer Stadt wie London ein wenig zurückweichen, denn der Streß, unter dem man hier lebt, läßt einem nicht jene Muße und Ruhe, die man braucht, um so was zu schreiben. Mein Ideal wird immer stärker, in einem Haus in einem weit abgelegenen Teil des Landes zu leben. Mein Zugang zur Welt ist das Internet. Ich bin von Büchern und Zeitschriften umgeben und ich kann in Frieden und nach meine eigenen Tempo schreiben.

    Auch wenn Jonathan Coe mit zwei kleinen Kindern derzeit lieber ländliche Ruhe genösse, er hat die Großstadt keineswegs für immer und ewig abgeschrieben:

    Ich klammere mich an die Vorstellung, dass ich eines Tages nach London zurückkehren kann, weil ich glaube, dass London ist für einen alten Menschen interessant sein könnte, denn alte Menschen können gewissermaßen wieder so ein Leben wie junge führen, nur halb so schnell, aber das ist nicht wichtig, weil man mehr Zeit hat. Mir gefällt diese Idee, in 30 Jahren wieder ins Kino, ins Konzert zu gehen und zwar in meinem eigenen Tempo angemessen, mit meinen Seniorenbusfahrausweis. Eine sehr attraktive Aussicht.