Nicht von ungefähr ist die fortschrittlichste aller republikanischen Verfassungen nie in Kraft getreten; bis heute bleibt die Jakobinische Verfassung von 1793, deren Artikel 35 hier zitiert wurde, Vorbild für eine an sozialen Regulativen orientierte Gesellschaft. An dieses nicht eingelöste Versprechen erinnern José Bové und Gilles Luneau also zu Recht, wenn sie ihr Plädoyer für zivilen Ungehorsam angesichts der fortschreitenden Einschränkungen der Parlamentarischen Demokratie durch privatwirtschaftliche Interessen argumentativ zu begründen suchen. Neben dem Recht auf Arbeit, auf Ausbildung und auf Subsistenz in Notlagen anerkannte die Verfassung von 1793 eben auch das Recht auf Widerstand. Ziel und Zweck der Gesellschaft ist allein le bonheur commun, das Wohlergehen Aller. Es ist diese französische Tradition des Republikanismus, die sich über Volkssouveränität und Sozialrechte definiert und nicht über Nation und privatwirtschaftlich gebundene Staatsräson, die die Autoren in Erinnerung rufen wollen; denn auch in Frankreich gehen die Uhren heute anders:
Wir befinden uns in Frankreich am Anfang einer schrecklichen Regression. Wir sind auf dem Weg in eine andere Gesellschaftsform, in welcher die Grundlage der Demokratie, die Trennung von politischer und judikativer Gewalt abgeschafft sein wird; am Anfang einer Gesellschaft, in der wie in den Vereinigten Staaten eine große Anzahl von Menschen vom allgemeinen Wahlrecht ausgeschlossen sein wird; es ist die Rückkehr zu einer Zensusgesellschaft. Wir erleben den schleichenden Übergang in eine Gesellschaft, die nach einer 'fabrikmäßig’ serialisierten Ideologie funktioniert: ein technisches Modell, Normen, Produktivität, Rentabilität, Sicherheit und Ausmerzung jedweden 'Abfalls’.
So die nicht eben optimistische Einschätzung. Die beste Möglichkeit, "Abfall" im weitesten Sinne erst gar nicht entstehen zu lassen, so scheint es, bietet die klinisch sauber operierende Gentechnik, die als Wundermittel gegen alle Übel des organischen Lebens gepriesen wird. Nachdem die industrialisierte Landwirtschaft mit ihrer Monokultur dafür gesorgt hat, dass die Böden ausgelaugt und nicht nur wilde Tier- und Pflanzenarten, sondern auch heimische Arten dramatisch geschwunden sind, soll nun die Gentechnik der Biodiversität vollends den Garaus machen und den Monopolen die Profite sichern. Gegen gentechnisch veränderte Organismen auf dem Feld, die nach offiziellen Statistiken von rund siebzig Prozent der Bevölkerung abgelehnt werden, engagieren sich die Autoren und entwickeln Kriterien für den zivilen Ungehorsam, die sie im Begriff désobéissance civique zusammenfassen:
Es erscheint uns eindeutiger, von zivilgesellschaftlichem Ungehorsam zu sprechen, wenn es sich um kollektive Mobilisierungen handelt im Sinne allgemeiner gesellschaftlicher Ziele. Überlassen wir den zivilen Ungehorsam dem Individuum, das sich im Namen seines individuellen Gewissens und individueller Prinzipien gegen ein Gesetz auflehnt. Interessieren wir uns für den citoyen, der sich der Staatsgewalt mittels des zivilgesellschaftlichen Ungehorsams entgegenstellt, im Namen des kollektiven Gewissens und im Namen gemeinschaftlicher Prinzipien, für deren Wertschätzung und Beachtung er streitet.
Nun ist das Buch keine ausschließlich politiktheoretische Abhandlung, sondern ein engagiert geschriebener Praxisbericht und ein Handbuch, versehen mit ausführlichen Exkursionen zur Geschichte von Theorie und Praxis des gewaltlosen Widerstandes. José Bové ist als Bauer und Schafzüchter seit dreißig Jahren auf dem Larzac im Kollektiv tätig; der bekannte Umweltaktivist und Globalisierungskritiker ist ein Sprecher der internationalen Kleinbauerngewerkschaft Via Campesina. Gilles Luneau hat sich als Journalist und Autor einen Namen gemacht mit kritischen Arbeiten über das moderne Agrobusiness. Dass sich ein solches Engagement nicht in spektakulären Aktionen erschöpft, sondern eine grundsätzliche Entscheidung voraussetzt, wird in der auf Unterhaltung ausgerichteten Mediengesellschaft meist ausgeblendet. Gemeint ist die Entscheidung, sich nicht zu einer Sache machen zu lassen, sondern Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen und Alternativen zu entwickeln:
Zivilgesellschaftlicher Ungehorsam schafft weniger Unordnung innerhalb der Ordnung etablierter Machtverhältnisse, vielmehr bringt er die Unordnung der Ungerechtigkeit, die von der herrschenden Macht aufrechterhalten wird, ans Licht. Zivilgesellschaftlicher Ungehorsam treibt die Übereinkunft hervor, die gegenseitige Zustimmung. Einen endgültigen Sieg über den Anderen gibt es nicht. Niemand entkommt der Herausforderung und der schmerzhaften Anstrengung in Gemeinschaft zu leben. Der zivilgesellschaftliche Ungehorsam erhebt das Verhalten des citoyen auf eine höhere Ebene der Verantwortung. Das Mittel ist der Zweck an sich.
So verstanden geht es um eine kollektive Lebenspraxis, die eine permanente Gegenkraft hervorbringt. Auf dem Bucheinband zu sehen sind Aktivisten, von denen jeder eine ausgerissene Maispflanze hochhält: "Freiwilliger Schnitter von OGM", gentechnisch veränderten Organismen, steht auf ihren T-Shirts. Dokumentiert ist die bisher größte Aktion vom Juli 2004, an der sich über tausend Menschen, darunter Bürgermeister und Abgeordnete wie der Grünen-Vorsitzende Noël Mamère beteiligten. Mamère ließ einen Journalisten wissen, er verzichte eher auf seine Immunität als Abgeordneter, als auf diese Form des zwar illegalen, aber doch legitimen Widerstands. Der Justiz bereiten die detailliert geplanten, absolut gewaltlosen Aktionen erheblichen Aufwand: Jeder Aktivist wird erkennungsdienstlich behandelt und gerichtlich belangt. Und da jeder nur eine einzige Pflanze ausreißt, dauert das entsprechend. Eine kleine Geschichte des Kampfes gegen Gentechnik informiert über den 1996 von Frankreich ausgegangenen und inzwischen weltweit organisierten Kampf, der beispielhaft die Demokratiedefizite supranationaler Institutionen vorführt:
Befindet man sich noch in einer Demokratie, wenn Entscheidungen solchen Ausmaßes nur noch im Blick auf den Gewinn, den sie privatwirtschaftlich operierenden Unternehmen bringen und nicht im Sinne der Interessen der Allgemeinheit getroffen werden? Ist man noch in einer Demokratie, wenn die politische Führung meint, die Meinung der Mehrheit der Gesellschaft übergehen zu können? Was ist aus der politischen Verantwortung geworden, die sich über die von der Mehrheit geäußerte Ablehnung gentechnisch veränderter Lebensmittel hinwegsetzt, um über die EU-Kommissare den Weg freizumachen zur Bewilligung gentechnisch veränderter Anpflanzungen?
Die Vorgehensweise der großen Agro-Unternehmen, die sich unter Umgehung aller Verbraucher- und Bürgerinteressen den lukrativen Saatgut- und Pflanzenschutzmittelmarkt aufgeteilt haben, eignet sich in der Tat als Lehrstück in Sachen ökonomischer Totalitarismus. Eine Stärke des Buches liegt darin, dass es gegen die Resignation angeschrieben ist und dabei ohne plakative Weltverbesserungsrhetorik auskommt. Über drei informative Ebenen vermittelt sich seine Qualität: die Information über den begründeten Kampf gegen gentechnisch veränderte Organismen; über das eine politische Theorie erfordernde Konzept des eingreifenden Handelns, das mit jedweder Autoritätshörigkeit bricht; über den Versuch, dem zivilgesellschaftlichen Ungehorsam als Teil kollektiver Widerständigkeit eine Geschichte zu geben. Dass die Beispiele nicht immer historisch überzeugend präsentiert werden, ist eine Schwäche. Dennoch ist das Buch als Erinnerung an die Notwendigkeit, Nein zu sagen unbedingt lesenswert; es fordert dazu heraus, machtpolitische und parteiengebundene Gesellschaftsentwürfe sowie bürgerliche Politikformen kritisch zu überdenken:
Mit Sicherheit ist zivilgesellschaftlicher Ungehorsamkeit ein illegaler Akt. Wenn sich aber die citoyens einer Situation ausgesetzt sehen, die für einen Teil des Kollektivs ein Problem darstellt, worauf sie ihre gewählten Abgeordneten und politischen Instanzen ansprechen, und wenn die Politik ihnen nicht antwortet oder ihre Machtlosigkeit eingesteht und auch das herrschende Recht keine Antwort zu geben in der Lage ist, was bleibt ihnen dann anderes, als in Aktion zu treten. Um neue Freiheiten zu erlangen, waren immer Menschen gefragt, die bereit waren sich in die Illegalität zu begeben.
Ruth Jung besprach: "Pour la Désobéissance Civique" von José Bové und Gilles Luneau, erschienen bei La Découverte in Paris. Es hat 260 Seiten und kostet
17.50 Euro.