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Joseph E. Stiglitz

Dazu: Paul R. Krugman

von Alexander Bittmann | 29.03.2004
    Der große Ausverkauf – Wie die Bush–Regierung Amerika ruiniert
    Campus Verlag, 260 S., EUR 21,90

    Rechtzeitig zu Beginn des amerikanischen Präsidenten-Wahlkampfes ziehen Joseph Stiglitz und Paul Krugman in ihren neusten Publikationen eine kritische Bilanz der amerikanischen Wirtschafts- und Finanzpolitik. So kritisiert Krugman in seinem jetzt auch in deutscher Sprache erschienenen Buch "Der große Ausverkauf":

    Der amerikanische Kapitalismus selbst steckt in der Krise, nur fiel das während der Börseneuphorie kaum jemandem auf. Das Börsenfieber hat in Politik wie Wirtschaft zu völlig falschen Weichenstellungen geführt. Mit den Konsequenzen werden wir noch viele Jahre leben müssen.

    Der Mythos vom "American Dream" hat tiefe Kratzer bekommen. Der irrationale Überschwang an der Börse war nicht unvermeidlich. Hohe Wachstumsraten und die Produktivitätsfortschritte waren kein Phantomgebilde. Angeheizt wurde die Börsenblase von den Steuersenkungen. Insbesondere die Absenkung der Kapitalgewinnsteuer auf Spekulationsgewinne aus Wertpapieren und Immobilien sorgte für neuen Auftrieb an der Börse. Die Absenkung des Spitzensteuersatzes für das obere Einkommensfünftel sowie die Abschaffung der Erbschaftssteuer taten das ihre. In einem offenen Brief an die Bush-Regierung warnten 450 Ökonomen, darunter zehn Nobelpreisträger, dass die Steuerreform ein beschäftigungspolitisch falscher Ansatz sei. Entschieden greift auch Paul Krugman den wirtschaftspolitischen Kurs der Bush–Administration an:

    Es ist daher ganz aufschlussreich, wenn der Kongress den Luftfahrtgesellschaften mit 15 Milliarden Dollar unter die Arme greift, entlassene Flughafenangestellte jedoch leer ausgehen. Noch aufschlussreicher ist, dass im Repräsentantenhaus ein Konjunkturförderungsgesetz verabschiedet wird, das Arbeitslose außen vor lässt, dafür aber rückwirkend die Körperschaftssteuer senkt. Das summiert sich zu einem Pauschalbetrag von 25 Milliarden Dollar für ausgesprochen profitable Unternehmen.

    Vor allem hofiert die Bush-Administration die Finanz- und Energiekonzerne mit Steuergeschenken in Milliardenhöhe. Steuergelder werden von unten nach oben umverteilt - auch zu Lasten der Arbeitslosenversicherung: Im Krisenjahr 2002 weigerten sich die Republikaner, den Bezug von Arbeitslosengeld auf 800.000 Menschen auszudehnen.
    Bush übernahm von seinem Vorgänger Clinten noch einen Haushaltsüberschuss von 237 Milliarden Dollar. Daraus wurde in gerade einmal zweieinhalb Jahren ein Minus von 455 Milliarden Dollar. Das Finanzloch hat katastrophale Ausmaße angenommen, schreibt Krugman:

    Die wahre Dimension von Bush's Fiskalpolitik im Stil einer Bananenrepublik ist bisher den wenigsten klar. Man vergegenwärtige sich nur, dass die Steuersenkungen im Volumen von 674 Milliarden Dollar, die derzeit die Schlagzeilen beherrscht, längst nicht alles ist, ja nicht einmal die Hälfte! Nach eigenen Aussagen strebt die Regierung über die nächsten zehn Jahre Steuerkürzungen im Volumen von 1,5 Billionen Dollar an.

    Beunruhigend ist zudem das chronische Handelsbilanzdefizit der USA. Amerika ist der größte Kapitalimporteur der Welt. Ausländische Investoren haben über zweitausend Milliarden Dollar in den Staaten angelegt. Das Leistungsbilanzdefizit erreicht unter der Regierung Bush mit über 500 Milliarden US-Dollar einen Rekordwert. Als sicher gilt vielen Experten, dass das exportorientierte Wachstum irgendwann zuende geht. Die USA können sich nicht unbegrenzt Geld im Ausland leihen. Denkbar ist also, dass sich das Handelsbilanzdefizit durch eine panikartige Flucht aus dem Dollar auflöst. Die Folgen für die exportorientierten japanischen und europäischen Unternehmen sowie für viele Schwellenländer wären fatal.

    Statt den Konsum zu drosseln, um den Boom zu finanzieren, nahmen die USA im Schnitt eine Milliarde Dollar pro Tag im Ausland auf. Wir wollten damit die Lücke zwischen unseren Ersparnissen und unseren Investitionen schließen...

    ... analysiert der Nobelpreisträger für Wirtschaft und ehemalige Berater der Clinton-Regierung, Joseph Stiglitz, in seinem Buch "Die Roaring Nineties – Der Entzauberte Boom".

    Die hohen Kapitalzuflüsse sind allerdings Ausdruck eines hervorragenden Investitionsklimas in den USA. Die Kapitalimporte aus Asien und Europa waren zudem eine starke Triebfeder für den Aufschwung an den US-Finanzmärkten: Sie lösten einen beispiellosen Innovationsschub aus. Die "Roaring Nineties" hatten den positiven Effekt, dass sich junge Unternehmer für ihre Geschäftsideen das notwendige Risikokapital über die Börse holen konnten. Trotz Firmenpleiten und drastischem Abbau von Überkapazitäten verbleiben in der Informationswirtschaft per Saldo über zwei Millionen neue Jobs. Stiglitz ist denn auch der Ansicht, dass die New Economy zweifellos real ist, auch wenn ihre Bedeutung stark übertrieben wurde.

    Das Internet ist real. Die Innovationen, die Fortschritte in der Kommunikationstechnik und die daraus erwachsenen Geschäftsmodelle waren real. So wie das achtzehnte Jahrhundert durch den Übergang von der Agrar– zur Industriegesellschaft und die ersten drei Quartale des zwanzigsten Jahrhunderts durch den Wechsel von der Industrie– zur Dienstleistungsgesellschaft gekennzeichnet waren, hat der Übergang zur Wissensgesellschaft dem ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt.

    Eine globale Informationsgesellschaft ist jedoch eine ferne Vision. Die digitale Kluft zwischen armen und reichen Ländern könnte sogar noch weiter zunehmen. Sollten die Schwellenländer technologisch aufholen, würden die Wohlstandsländer weitere Produktivitätsvorteile verlieren. Der sich bereits heute abzeichnenden Verlagerung hochqualifizierter Arbeitsplätze in Niedriglohnländer würde nichts mehr im Wege stehen. Die USA haben die Vorreiterrolle im Gestaltungsprozess der Globalisierung übernommen. Fast die Hälfte der US-Exporte stammen aus den ausländischen Produktionsstandorten amerikanischer Konzerne. Im Telekommunikationssektor sind es sogar 70 Prozent. Doch gleichzeitig schützen die USA ihre Agrarprodukte und Stahlproduktionen durch hohe Einfuhrzölle. Der freie Welthandel ist denn auch bisher einer der Mythen der Globalisierung. Ein Land wie Brasilien muss heute auf seine 15 wichtigsten Exportgüter in den USA einen durchschnittlichen Zoll von 30 Prozent zahlen, während die USA umgekehrt auf ihre 15 wichtigsten Exporte nur 14 Prozent Zoll entrichten müssen. Stiglitz ist denn auch der Meinung, dass die USA mit ihrer "undifferenzierten Deregulierungspolitik" nicht nur anderen Ländern, sondern auch sich selbst schaden.

    Während wir Lippenbekenntnisse zur Demokratie ablegten, taten wir alles in unserer Macht Stehende, um unseren beherrschenden Einfluss auf das Weltwirtschaftssystem zu festigen, und dafür zu sorgen, dass es den Finanz- und Unternehmensinteressen diente.

    Ein gravierendes Beispiel für die deregulierte Finanzspekulation war der Energiekonzern Enron. Weder Anleger noch Banken konnten sich ein wahrheitsgetreues Bild von dem Strom– und Gashändler machen. Enron war ein Hedge-Fund, der sich hochkomplexer Finanzinnovationen bediente, um Marktpreise zu manipulieren und Verluste in die Zukunft zu verschieben. Hinzu kam, dass Enron überhöhte Stromabnahmepreise in Schwellenländern, wie beispielsweise Indien, durchsetzte. Stiglitz schreibt:

    Der Niedergang Enrons hat die Kritik an der Globalisierung noch genährt. Die Unregelmäßigkeiten bei Enron waren in gewisser Hinsicht für die gesamte Wirtschaft repräsentativ.

    In den USA wurden Regulierungen durch die Marktmanipulationen mächtiger Akteure ersetzt. Sie setzten die Prinzipien des fairen Wettbewerbs außer Kraft. Der "Golden Age"–Kapitalismus war denn auch das Jahrzehnt der Selbstbereicherung in den Vorstandsetagen, der Bilanzmanipulationen und der entfesselten Währung– und Aktienspekulation. Dass sich die meisten Skandale im Finanz–, Energie-, und Telekommunikationssektor ereigneten, ist Stiglitz zufolge kein Wunder:

    Die Firmen, die Ende der neunziger Jahre in den USA am meisten Geld für Lobbyarbeit ausgaben, wollten die Deregulierung des Telekommunikations– und Bankensektors vorantreiben, und Umweltschutzauflagen und Energiesparmaßnahmen verhindern.

    Die kompromisslose Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen wurden von den USA zur Außenwirtschaftspolitik erhoben. Auf der Strecke blieben dabei soziale Gerechtigkeit und die nachhaltige Gestaltung der Globalisierung. Ein Versäumnis das sich bereits in der zweiten Clinton-Amtszeit abzeichnete. Die Folgen der "Roaring Nineties" haben den Mythos vom "Laisser faire"-Kapitalismus und der Allwissenheit der Märkte entzaubert. Globalisierung ist zudem mehr als der liberalisierte Austausch von Waren, Kapital und Dienstleistungen. Als Gegenentwurf zu der "neuen Weltwirtschaftsordnung" unter der Ägide der USA, plädiert Stiglitz für die Vision eines "demokratischen Idealismus". Statt seine Verantwortungsrolle an die Märkte abzugeben, müsse der Staat soziale Gerechtigkeit auf lokaler und globaler Ebene umsetzen.