Samstag, 20. April 2024

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Joseph Haydn - Sinfonien

Heute geht es an dieser Stelle um Orchestermusik von Joseph Haydn. * Musikbeispiel: Joseph Haydn - 1. Satz (Ende) aus: Sinfonie Nr. 92 G-Dur In Zeiten knapper Mittel werden auf dem Schallplatten-Markt zumindest in Deutschland die Rundfunkanstalten offenbar immer wichtiger. Da haben sich in den letzten Jahren die unterschiedlichsten Kooperationen und Veröffentlichungsstrategien entwickelt. Manche Plattenfirmen versuchen, an die in den Radio-Archiven "schlummernden", nur selten gesendeten, aber dennoch hochkarätigen Produktionen vergangener Tage heranzukommen und sie einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Dass es sich hierbei dann in der Regel um "historische" Aufnahmen handelt, stört zumindest in technischer Hinsicht kaum, denn die Aufnahmetechnik war auch in den 60er oder 70er Jahren schon ganz ordentlich, und neue digitale Verfahren ermöglichen heute eine verblüffend wirksame Frischzellenkur für die alten Bänder. Auch was die Künstler angeht, ist dieses Verfahren fast ohne Risiko, denn in der Rückschau lässt sich natürlich leichter beurteilen, was wirklich eine legendäre Aufnahme eines berühmten Musikers und was nur Durchschnitt eines dann in der Folge unbekannt gebliebenen Künstlers war. Außerdem scheint ein großer Teil des Klassik-Publikums auch in höheren Altersgruppen zu finden zu sein: Diesem sind die Namen von damals vielleicht manchmal geläufiger als die der Künstler von heute. Dass diese bei einer solchen Vorgehensweise auf der Strecke bleiben, liegt auf der Hand. Doch zum Glück gibt es auch andere Strategien: Neue CDs entstehen heute häufig als Koproduktionen zwischen Rundfunk und Schallplattenfirma, das verteilt die Kosten auf mehrere Schultern und verschafft unter Umständen mehr mediale Aufmerksamkeit. Noch einen anderen Weg geht seit einiger Zeit der Hessische Rundfunk. Er hat ein eigenes Schallplatten-Label " " gegründet und vertreibt seine Aufnahmen über den Handel und übers Internet. Und eins der wichtigsten Pfunde, mit dem er wuchern kann, ist das eigene Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt. * Musikbeispiel: Joseph Haydn - 3. Satz (Ausschnitt) aus: Sinfonie Nr. 92 G-Dur "Oxford" Seit 1997 ist Hugh Wolff Chefdirigent dieses Radio-Sinfonie-Orchesters Frankfurt. Nach nur einem Gastdirigat waren die Musiker des Orchesters und die Musikabteilung des Hessischen Rundfunks vom Können des jungen Amerikaners so überzeugt, dass er einen zunächst auf drei Jahre befristeten, inzwischen verlängerten Vertrag bekam. Man erwartete von ihm, sich der sturen Pflege des immer gleichen Kernrepertoires zu widersetzen und zu Neuentdeckungen in verschiedene Richtungen aufzubrechen. Dazu gehörte vor allem, ein Repertoire zurückzuholen, das die Radio-Orchester in den 80er und 90er Jahren an spezialisierte Orchester mit historischen Instrumenten und entsprechender Spielpraxis verloren hatten: die Werke der Wiener Klassik. Für Wolff sprach in diesem Zusammenhang, dass er vorher jahrelang als Chefdirigent des St. Paul Chamber Orchestra die Werke von Haydn, Mozart, Beethoven, auch von Bach und Händel mit einem Kammerorchester gespielt hatte. Zwar mit modernen Instrumenten, aber dem Stil alter Instrumente nachempfunden. Mit mehr Transparenz, veränderten Tempi und unter Nutzung der wichtigen Erfahrungen, die diese spezialisierten Ensembles gemacht hatten. So etwas wollte er auch in Frankfurt machen - und neben den vielen Konzertprogrammen, in die inzwischen Werke der Wiener Klassik Einzug hielten, liegen auch bereits einige Sinfonien auf CD vor: jüngstes Beispiel eine Aufnahme der Sinfonien 92, 96 und 97 von Joseph Haydn, herausgebracht vom erwähnten eigenen Label des Hessischen Rundfunks. Auch hier gelingt es Wolff, innerhalb des Rahmens eines modernen Orchesters einen historisch orientierten Klang zu schaffen. Dazu verwendet er bei den Trompeten und Hörnern moderne Kopien von alten, ventillosen Instrumenten. Auch die Pauken sind Kopien von Pauken des 18. Jahrhunderts, die Flöten sind aus Holz. Außerdem kommt ein Cembalo zum Einsatz, dessen Spieler aus der Partitur improvisiert, wie es womöglich Haydn seinerzeit getan hat. Wiederholte Passagen und Fermaten werden alter Übung entsprechend verziert; beim Vibrato der Streicher ist man überaus zurückhaltend. * Musikbeispiel: Joseph Haydn - aus: Sinfonie Nr. 96 D-Dur "The Miracle", aus "Andante" Hugh Wolff und das Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt lenken den Blick bei ihrer neuen Einspielung dreier Haydn-Sinfonien auf das jeweils Überraschende, Unerhörte, durchaus Experimentelle der alten Partituren. Denn anders als es das immer wieder gerne übermittelte Bild vom "Papa Haydn" suggeriert, waren diesem Musiker Experimente äußerst wichtig. An seiner fast dreißigjährigen, etwas weltabgeschiedenen Kapellmeistertätigkeit für den Fürsten Esterházy gefiel ihm nach eigenen Worten besonders, dass er dort "als Chef des Orchesters Versuche machen" konnte, "beobachten, was den Eindruck hervorbringt und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen; ich war von der Welt abgesondert. Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so musste ich original werden". Und woanders sagt Haydn: "Die Kunst ist frei und soll durch keine Handwerksfesseln beschränkt werden. Das Ohr, versteht sich ein gebildetes, muss entscheiden, und ich halte mich für befugt wie irgendeiner, hierin Gesetze zu geben." Als er, fast 60jährig, noch einmal einen beruflichen Neuanfang in London wagt, ist er ein wahrer Meister im Spiel mit der musikalischen Form. Ständig denkt er über ihre Konventionen nach, stellt sie infrage, bemüht sich, Erwartungen bewusst erst später zu erfüllen, Symmetrien durch Asymmetrisches erst wirklich interessant zu machen. Er spielt mit den Erwartungen seiner Zuhörer, wiegt sie in der scheinbaren Sicherheit des Vorhersehbaren, um sie dann umso stärker zu überraschen, benutzt Floskeln, die er in der Folge kalkuliert als solche entlarvt, moduliert in weit entlegene Bereiche, verwendet mathematisch ausgeklügelte Perioden, lässt die Streicher mit dem Holz des Bogens oder ganz nahe am Steg spielen, um bestimmte Klangwirkungen zu erzielen. Die spektakulärsten dieser Überraschungen werden immer wieder gerne überliefert: Wie er vermutlich schläfrige Hörer mit einem unvermittelt einsetzenden Paukenschlag wachrüttelt oder wie er die Musiker gegen Ende einer Sinfonie nach und nach einzeln aufstehen und den Saal verlassen lässt - das hat beinahe einen Happening-Charakter, wie sie Kunstaktionen in Folge der 68er-Revolution zu eigen war. Doch auch die mehr im Innern der Musik stattfindenden Revolutionen, Haydns Negation des Bestehenden, seine Gegenentwürfe zum Regelkanon der Zeit verschaffen dem aufmerksamen Zuhörer auch heute noch viel Vergnügen. Dirigent Hugh Wolff weist im Begleitheft zur CD auf seine "Lieblingsstellen" in dieser Hinsicht hin - mit genauer Sekundenangabe - das ist eine gute Einstiegshilfe für eigene Entdeckungen dieser Art. * Musikbeispiel: Joseph Haydn - 4. Satz, Finale aus: Sinfonie Nr. 97 C-Dur, Die Neue Platte - heute mit Haydn-Sinfonien, neu eingespielt vom Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt unter der Leitung seines Chefdirigenten Hugh Wolff, herausgegeben vom Hessischen Rundfunk.

Ludwig Rink | 27.04.2003