Joseph Joachim Raff: Sinfonie Nr. 5 "Lenore"/ Suite Nr. 1 für Orchester op. 101
Kennen Sie einen Komponisten namens Raff? Joseph Joachim Raff? Immerhin hat er 214 gedruckte Werke hinterlassen und war in den 1870er Jahren einer der meistgespielten Komponisten nicht nur in Deutschland... Dennoch: Im Lexikon der Orchestermusik der Romantik von Wulf Konold z.B. fehlt sein Name völlig, und auch die großen Musiklexika widmen ihm nicht allzu viele Zeilen. Was hat Raff falsch gemacht, wie konnte jemand, der immerhin elf große Sinfonien hinterlassen hat und dem noch 1902, 20 Jahre nach seinem Tod, ein Denkmal errichtet wurde, so völlig in Vergessenheit geraten? Eine neue CD des Schweizer Labels Tudor gibt uns Gelegenheit, die fünfte Sinfonie Raffs und seine erste Orchestersuite wieder zu entdecken - zu einem ersten Klangeindruck aus dem Scherzo der Orchestersuite begrüßt Sie hier am Mikrofon Ludwig Rink. * Musikbeispiel: Joseph Joachim Raff - Scherzo aus: Suite Nr. 1 für Orchester op. 101 Joseph Joachim Raff wurde 1822 in Lachen am Züricher See geboren. Nach dem Abitur arbeitete er einige Jahre als Lehrer und bildete sich im Selbststudium musikpraktisch und kompositorisch aus. Seine ersten Kompositionen schickte er Mendelssohn, der sie seinem Verleger zum Druck empfahl. 1845 pilgerte Raff zu Fuß von Zürich nach Basel, um dort ein Konzert von Franz Liszt zu erleben. Liszt vermittelte ihm eine Stelle bei einer Kölner Musikalienhandlung, die Raff allerdings bald wieder aufgab. In Stuttgart lernte er Hans von Bülow kennen, der sein Schüler, lebenslanger Freund und begeisterter Förderer wurde. 1850 ging Raff nach Weimar und nahm das Angebot Franz Liszts an, ihm bei der "Ordnung der Manuskripte, Copien, Instrumentierungen und Dictéschreibereyen" zu helfen. Hier kam Raff nicht viel zu eigenem Schaffen, lernte aber die künstlerischen Gedanken der damaligen "Avantgarde" hautnah kennen. Sechs Jahre später verließ er Weimar, weil sich seine Anschauungen gewandelt hatten und er den "Druck, den Liszt freiwillig und unfreiwillig" auf ihn ausübte, nicht mehr ertragen wollte: er ging nach Wiesbaden, wo er heiratete und seine kompositorisch fruchtbarsten Jahre verbrachte. 1877 dann übernahm Raff die Leitung des kurz zuvor in Frankfurt gegründeten Hochschen Konservatoriums, unterrichtete selbst dort Komposition und verpflichtete angesehene Musiker als Lehrer. * Musikbeispiel: Joseph Joachim Raff - Fuge aus: Suite Nr. 1 für Orchester op. 101 In den Bewertungen des kompositorischen Schaffens von Joseph Joachim Raff begegnet man häufig dem Begriff "Eklektiker", also dem Vorwurf, hier habe sich jemand aus dem reichhaltigen Vorrat an Stilen und Strömungen das für ihn Passende herausgesucht und daraus dann eigene, aber nur scheinbar neue, nur scheinbar originelle Kunstwerke zusammengebaut. Dies trifft auf die Suite von 1863 stärker zu als auf die hier ebenfalls eingespielte spätere 5. Sinfonie. Bei der Suite erinnert der Beginn der Introduktion mit seinen pathetischen Akkordschlägen an Beethoven, während die gleich folgende Fuge noch ältere barocke Vorbilder hat; das Menuett mit seinem Hornmotiv könnte von Haydn sein, das Trillermotiv im abschließenden Marsch kommt ganz ähnlich in einem Opernmarsch bei Glinka vor, den Raff durch Liszts Konzerttranskription kennengelernt haben dürfte. Solch kreativer Umgang mit früheren Stilen oder den Ideen anderer hätte zu Bachs Zeiten wohl kaum größeren Anstoß erregt, doch in der nachklassischen Ära, wo jede Komposition als eigenständiges, unveränderbares Werk, als einmalige, in langem Ringen nach genialer Eingebung entstandene Schöpfung galt, stand Raff mit seinem Wunsch, die vielen Elemente früherer Musiken zu vereinen, ziemlich alleine da. Obwohl er sich alles selbst beigebracht hatte, war sein Handwerk gut genug ausgebildet, dass ihm die schwierigsten kompositorischen Techniken mühelos gelangen. Gegen seine kontrapunktischen Künste ist genauso wenig einzuwenden wie gegen seine souveräne Beherrschung der zeitgenössischen Harmonik, und auch in der Instrumentation war er schon früh sehr geschickt. Doch seine Melodien sind oft etwas einfach, Unterhaltungsmusik sozusagen, manchmal mit trivialem Einschlag und bisweilen auch aus kompositionstechnischen Gründen bewusst schlicht und diatonisch angelegt, um später damit Kunststücke anstellen zu können. Wenn es dann an die Durchführung geht, bleibt vieles konventionell, vorausschaubar und wenig überraschend, es gibt Längen und Automatismen. * Musikbeispiel: Joseph Joachim Raff - 2. Satz aus: Sinfonie Nr. 5 "Lenore" Ausgrabungen von vergessenen Werken der Musikgeschichte und ihre Dokumentation auf CD sind immer hoch interessant: Man erfährt die jeweilige Epoche neu, sieht sie aus einem anderen Blickwinkel, abseits der bekannten Biographien der wenigen "Großmeister". Es wird klar, dass diese in der Regel auf einem soliden Fundament musikalischen Lebens aufbauen konnten. Ihre Rolle, ihre eigentliche Leistung für den Fortschritt in der Kunst wird im Zusammenhang deutlicher, als wenn wir sie nur isoliert mit dem Glorienschein des Genies sehen. Es mag ja sein, dass es Joseph Joachim Raffs "gesunder, gediegener, nicht eben tiefer Natur" bisweilen an "selbständiger Schöpferkraft" mangelte, wie das Musiklexikon MGG feststellt oder dass Vieles von ihm eine Rückkehr "zu glatt-gefälligem Klassizismus" darstellt. Dennoch gibt es auch bei ihm in der Fülle des manchmal mit allzu leichter Hand Komponierten "Schätze" zu heben, lassen sich auch bei ihm neue Ideen finden, die begnadetere Musiker wie Tschaikowsky oder Dvorak dann auf wirkungsvollere Art umsetzten. Und das Wissen um Raffs Werke macht es ein Stück einfacher, die allgemeine Entwicklung beispielsweise der Gattung Sinfonie im 19. Jahrhundert zu verstehen und persönliche Verdienste einzelner daran besser zu erkennen. Joseph Joachim Raffs Sinfonien sind programmatisch gebunden, sie folgen der "neudeutschen Schule" und ihrem verstärkten Interesse an Programm-Musik. So liegt der hier eingespielten 5. Sinfonie die Ballade "Lenore" von Gottfried August Bürger zugrunde, mit ihrer gespenstischen Atmosphäre eine typische Dichtung der "Sturm- und Drang"-Epoche. Dabei stehen die beiden ersten Sinfonie-Sätze unter dem Motto "Liebesglück", der dritte Satz, ein Marsch mit eingeschobenem Agitato-Teil, zeigt die Trennung: militärische Triangel- und Trommelklänge in Dur umrahmen den in Moll komponierten, aufwühlenden Trennungsschmerz. Im Finale, das gleich erklingen soll, gibt es dann ein Wiedersehen der Liebenden, allerdings als "Wiedervereinigung im Tode". Hier zitiert Raff zunächst aus den vorangegangenen Sätzen, dann zieht er alle Register der Tonmalerei, um das schnelle Reiten der Toten darzustellen, schließlich folgt ein Choral mit hymnischem Pathos für die Dichterworte: "Geduld, Geduld! Wenn's Herz auch bricht, mit Gott im Himmel hadre nicht! Des Leibes bist du ledig; Gott sei der Seele gnädig!" Den Abschluss von Satz und Sinfonie bildet dann ein Epilog: ein Hohes Lied auf die Liebe. * Musikbeispiel: Joseph Joachim Raff - 4. Satz aus: Sinfonie Nr. 5 "Lenore" Die neue Platte - heute mit der Geschichte von Joseph Joachim Raff, der im 19. Jahrhundert eine Vielzahl von Werken komponierte, heute aber kaum noch bekannt ist. Das Label Tudor holte seine Werke aus der Versenkung; nach Produktionen mit dem Radio Sinfonieorchester Basel waren es jetzt die Bamberger Symphoniker unter der Leitung von Hans Stadlmair, die in interpretatorisch hoch stehenden Aufnahmen die erste Orchestersuite und die 5. Sinfonie "Lenore" vorlegten. Aus dieser Sinfonie hörten Sie zum Abschluss den letzten Satz. Einen weiterhin schönen Sonntag wünscht Ihnen Ludwig Rink