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Joseph McIntyre, Beate Balliel, Katrin Pfeiffer (Hrsg.): "Wurzeln in zwei Welten. Westafrikanische Migranten und Migrantinnen in Hamburg".

Oft sind politische, ethnische und religiöse Verfolgung wie auch Kriege für Afrikaner Migrationsgründe. Aber auch die Hoffnung auf bessere Bildungschancen und Familienzusammenführung. Im wesentlichen aber sind es Armut und Perspektivlosigkeit. In Deutschland wird besonders gern Hamburg von so genannten Arbeitsmigranten als Ziel angesteuert - die Hansestadt hat ja seit den Zeiten der Sklaverei sehr von ihren wirtschaftlichen Beziehungen zu Afrika profitiert. Reiner Scholz über eine informative Lektüre:

Von Reiner Scholz |
    Warum flüchten Afrikaner nach Deutschland, und was erwartet sie dort? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der vorliegende Sammelband "Wurzeln in zwei Welten". Er schlägt einen weiten Bogen von der Flucht aus Afrika, der Ankunft und Unterbringung in Hamburg, über den afrikanischen Alltag in der Hansestadt, das Verhältnis zu den Deutschen, nicht zuletzt ihren Behörden bis hin zur Eingliederung in die deutsche Gesellschaft, die nur wenigen gelingt oder zur Remigration, der Rückkehr nach Afrika. Im Mittelpunkt steht die Welt von Westafrikanern. Dabei nehmen sich die Autoren – was in diesem Metier keineswegs selbstverständlich ist – auch der heiklen Themen an. So berichtet Josef McIntyre, Dozent und Lektor für die westafrikanische Sprache Haussa an der Universität Hamburg, der auch bei Gericht dolmetscht, dass er erst einmal lernen musste, dass afrikanische Migranten und Asylsuchende in der Regel weder zu den ärmsten der Armen gehören, noch politisch verfolgt werden:

    ...wo ich merkte als Dolmetscher, dass die ganzen Geschichten, man darf es nicht verallgemeinern, aber viele Geschichten stimmen nicht. Und langsam merkte ich, die kommen, weil sie keine Perspektive haben, und das ist dann auch für mich eine neue Information, und langsam merkte ich, manche, die haben Geld in dem Sinne, sie hätten überleben können, das sagte einer ganz deutlich: Ja, ich hätte überleben können, aber ich hätte nichts tun können. Ich hätte für meinen älteren Bruder arbeiten müssen, und das wollte ich nicht, ich wollte was für mich tun.

    Der Bezugspunkt der meisten Forschungsarbeiten ist Hamburg. Das könnte eine Verengung des Blickwinkels zur Folge haben. Doch hier ist es anders. Zum einen lassen sich die Erfahrungen verallgemeinern, zum anderen wohnen in der Hansestadt zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Afrikaner. Hamburgs Bedeutung für den schwarzen Kontinent hat Tradition. In "Twi", der Mehrheitssprache in Westafrika, heißt das Wort für Migrant "booga", was nichts anderes ist als eine Ableitung von "Hamburger" und viel aussagt über das historische Verhältnis Afrikas zur Hansestadt, dem einstigen Tor zum deutschen Kolonialreich.

    Das bedeutet nun im Umkehrschluss nicht, so die Autoren, dass es den Afrikanern in Hamburg besonders gut gehen würde. Zwar bekommt sogar die Polizei in der Hansestadt - als Folge eines fremdenfeindlichen Skandals, der die Hansestadt vor Jahren erschütterte - Unterricht in afrikanischer Lebensweise, auch über dieses bundesweit sicher einmalige Projekt erfahren wir etwas in dem Buch, doch empfinden auch die Afrikaner in Hamburg die Deutschen überwiegend als kalt und gleichgültig:

    In einem Punkt sind sie immer klar. Die Deutschen begrüßen nicht. Das ist allgemein in Europa. Und natürlich, das ist ein kleiner Schock, man begrüßt nicht. Die empfinden viel als kalt, es ist kälter. Sie empfinden auch, dass wir keine Zeit haben.

    Für die meisten Afrikaner spielt – davon handelt ein eigenes Kapitel - die Religion eine herausragende Rolle. Ihre Gottesdienste sind ein Stück Afrika in Deutschland, von denen nur die wenigsten Deutschen Kenntnis haben dürften. Mitherausgeber und Autor Joseph McIntyre:

    Ein afrikanischer Atheist ist eine Seltenheit. Afrikaner sind religiös. Und wenn sie hier unter sich ihren Gottesdienst machen oder ihr Freitagsgebet, es ist nicht nur der Gottesdienst, es ist das Zusammenkommen, das unter sich sein.

    Der Buchtitel "Wurzeln in zwei Welten" verweist darauf, dass die meisten Afrikaner sich schon immer in mehreren Welten zurechtfinden mussten. Sie wissen, betonen die Autoren, mehr über Westeuropa als wir über Afrika. Sie kennen das europäische Denken aus der kolonialen Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reicht. So schreibt die Senegalesin und Sprachforscherin Odile Tendeng-Weidler, die 1994 nach Deutschland kam und hier mittlerweile promovierte, in einem eigenen Beitrag über sich:

    Ich bin keine afrikanische Ausnahme. Ich bin, was gewissermaßen alle Afrikaner aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit sind, sozusagen ein kulturelles "Patchwork". Immer wieder habe ich das Gefühl, dass genau diese Patchwork-Prägung es mir und vielen anderen Afrikanern ermöglicht, mich in das Leben von Europäern einzufühlen, was ich im umgekehrten Sinne mit Europäern nur ganz selten erlebe. Unsere Kultur bleibt ihnen fremd und unverständlich, weil sie sich nicht wirklich damit auseinandersetzen.

    Am Ende des hochinformativen Sammelbandes formt sich das Bild der westafrikanischen Migration: Afrikaner, die nach Deutschland kommen, sind recht gut gebildet und weder ganz reich noch ganz arm. Die Reise allein kostet viel Geld. In Deutschland versuchen die Migranten umgehend Arbeit zu finden, denn schließlich erwarten die Verwandten in Afrika, die die Reise nicht selten durch eine Sammlung finanziert haben, gewissermaßen eine Dividende. Odile Tendeng-Weidler schreibt:

    Die afrikanische Solidarität fordert, dass man sich selbst aus der Ferne um die kümmern muss, die im Heimatland zurückgeblieben sind. Es gibt keinen afrikanischen Emigranten, der das Risiko auf sich nehmen könnte, sich nicht um seine alten Eltern und seine Geschwister zu kümmern. Der schlechte Ruf, den er sich damit zuzöge, würde ihm noch Generationen lang anhaften.

    Diese Erwartung setzt viele Afrikaner in der Fremde unter einen immensen Erfolgsdruck, macht krank, weil es mit dem Geldverdienen nicht leicht ist und dürfte etliche dazu verleiten, sogar Drogen zu verkaufen.
    Das vorliegende Buch ist umsichtig zusammengestellt und übersichtlich gegliedert. Im Anhang finden sich hilfreiche Adressen, Literatur- und Musiktipps, ein Glossar, das uns erklärt, was beispielsweise einen Kontingentflüchtling von einem Konventionsflüchtling unterscheidet und jede Menge Informationen über die westafrikanischen Länder bereit hält. Nicht alle Autoren lassen den pädagogischen Zeigefinger des Gutmenschen unten. Deutsche Institutionen werden angemessen kritisch gesehen, das Versagen der afrikanischen Eliten hingegen zu wenig thematisiert. Alles in allem überwiegt eine wohltuende Distanz. Je konkreter das Leben beschrieben wird, desto besser werden die Zumutungen deutlich, die vielen Afrikanern das Leben in Deutschland schwer machen.

    Das Buch "Wurzeln in zwei Welten" regt am Schluss zu einem Perspektivenwechsel an. Immer beobachten und bewerten wir Europäer die Afrikaner. Es sei an der Zeit, zitiert Mitherausgeber Josef McIntrye einen Berliner Professor, die Blickrichtung zu wechseln:

    Es ist höchste Zeit für uns Afrikaner, anzufangen, europäische Gesellschaften zu untersuchen. Genauso wie europäische Gesellschaften afrikanische Gesellschaften seit vielen Jahren untersuchen. Ich bin mir sicher, wenn wir das täten, würden wir anfangen zu sehen, dass wir uns näher sind, als wir denken.

    Reiner Scholz besprach Joseph McIntyre, Beate Balliel, Katrin Pfeiffer, die "Wurzeln in zwei Welten. Westafrikanische Migranten und Migrantinnen in Hamburg" herausgegeben haben. Brandes und Apsel Verlag, Frankfurt am Main 2004, 234 Seiten, 19,90 Euro