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Jubiläum
100 Jahre Soziologie an der Goethe-Universität

Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Jürgen Habermas - mit der Soziologie an der Frankfurter Goethe-Universität sind nicht nur weltbekannte Namen verbunden, aus ihr ging auch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hervor. Am 1. April 1919 wurde hier der deutschlandweit erste Soziologie-Lehrstuhl eingerichtet.

Von Ludger Fittkau | 01.04.2019
Jürgen Habermas, deutscher Philosoph, spricht am 4.7.2018 im ZDF-Hauptstadtstudio in Berlin. Habermas erhielt den deutsch-französischen Medienpreis.
Jürgen Habermas gehört zu den bekanntesten Soziologen der Frankfurter Goethe-Universität (picture alliance / dpa / Arne Immanuel Bänsch)
Wenn man auf dem Campus der Goethe-Universität Frankfurt am Main Studierende fragt, was ihnen zu 100 Jahre Soziologie einfällt, gibt es nur eine Antwort:
"Kritische Theorie – Max Horkheimer, Adorno. Frankfurter Schule. Das ist ja das, was Frankfurt so prägt."
"Auf jeden Fall fällt auf, dass die kritischen Seminare hoffnungslos überfüllt sind und es nicht genug davon gibt. Und eigentlich auch ganz viele Aktivitäten von studentischer Seite, das zu ändern. Aber es kommt gefühlt nicht so viel bei der Uni an, von diesen Bedürfnissen."
Thomas Lemke kennt das Problem genau. Er ist Direktor des Soziologischen Instituts in Frankfurt am Main mit 20 Lehrstühlen. Lemke nutzt das Jubiläum "100 Jahre Soziologie an der Uni", um die Verstetigung einer Gastprofessur für Kritische Theorie zu fordern, die bisher immer nur für ein Jahr finanziert wird:
"Die schon angesprochene Gastprofessur ist eine Gastprofessur, die jährlich neu finanziert werden muss. Und es wäre sicherlich gut, die auf eine solide Grundlage zu stellen und zu sagen: Die Goethe-Universität insgesamt steht in dieser Traditionslinie und dafür tun wir auch etwas."
"Zu linke, sozialdemokratische Kräfte in der Stadtgesellschaft Frankfurts"
Thomas Lemke beschreibt, dass es bereits vor dem 1. Weltkrieg Bemühungen gab, den ersten deutschen Lehrstuhl für Soziologie in Frankfurt am Main einzurichten. Aber:
"Es gab vom zuständigen preußischen Ministerium die Antwort: Das sind zu linke, sozialdemokratische Kräfte in der Stadtgesellschaft Frankfurts und man sollte das besser nicht machen."
Doch nach dem Ende des Krieges 1919 war es schließlich soweit – der erste Soziologielehrstuhl wurde in der Mainmetropole geschaffen. Vier Jahre später eröffnete in Frankfurt auch das "Zentrum für Sozialforschung" seine Pforten, dessen wohl prominentester Vertreter vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg Theodor W. Adorno wurde.
"Es gibt kein richtiges Leben im Falschen"
In der Hochphase der Studentenbewegung 1969 betonte Adorno im Radiogespräch, dass die Universität jungen Wissenschaftlern oft zu wenig Freiheit lasse. Er habe einfach das Glück gehabt, dass ihm nicht schon als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni kritisches Denken abtrainiert worden sei, so Adorno:
"Dass ich es also nach wie vor riskiere, ungedeckte Gedanken zu denken, die sonst von diesem übermächtigen Kontrollmechanismus, der da Universität heißt, den meisten Menschen schon sehr früh, vor allem schon in der Zeit, in der sie – wie man das so nennt – Assistenten sind, abgewöhnt werden. Und es zeigt sich nun dabei, dass die Wissenschaft selber durch diese Kontrollmechanismen in den verschiedensten Bereichen so kastriert und so steril wirkt."
"Es gibt kein richtiges Leben im Falschen". Dieser berühmte gesellschaftskritische Adorno-Satz ist für den renommierten Frankfurter Soziologen Tilman Allert heute auch ein Problem der Kritischen Theorie und der Soziologie in der Mainmetropole:
"Das ist eine Dauerschwierigkeit der Frankfurter Soziologie. Die teilweise mit guten Gründen aber doch immer mit einer These aufgetreten ist: Die Menschen leben entfremdet in den Verhältnissen, in denen sie leben."
Wenn Menschen dann aber nicht entfremdet, sondern glücklich leben, hat die "Frankfurter Schule" ein Beschreibungsproblem. Tilman Allert fordert von der Soziologie, vor der Wertung zunächst einmal genau hinzuschauen, wie die Gesellschaft wirklich beschaffen ist:
"Die Soziologie, zumindest in der Wahrnehmung, in der sie bei mir eine Verpflichtung geworden ist, ist eine Beobachtungsdisziplin. Oder wie Max Weber es formuliert hat: Die Frage ist das Menschentum. Wie leben die Menschen in einer bestimmten Sozialordnung? Und nicht zwingend schon mitlaufen lassen, die These, die Verhältnisse sind schlecht".
"Methodologisch und theoretisch nach den Regeln der Kunst vorgehen"
Verhältnisse sind nicht immer schlecht – aber oft doch paradox, etwa bei der Frage des Kindeswohls und im Familienrecht. Oder wenn junge Männer aus der Freiheit des Westens in den Dschihadismus fliehen. Zwei der laufenden Forschungen von Ferdinand Sutterlüty. Das ist der aktuelle Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und damit einer der Nachfolger von Max Horkheimer an der Spitze der berühmten Einrichtung. Bei der Frage der Forschungsmethodik stimmt er seinem Kollegen Tilman Allert weitgehend zu:
"Zumindest würde ich keine Art von Kritischer Theorie vertreten wollen, in der das Urteilen vor dem Rekonstruieren kommt. In diesem Sinne bin ich ganz bei Tilman Allert. Jede kritische Theorie setzt das umso mehr voraus, dass wir methodologisch und theoretisch nach den Regeln der Kunst vorgehen."
Erst danach könne man fragen, was sich daran kritisieren lasse. 100 Jahre nach der stark politisierten Einrichtung des ersten Soziologie-Lehrstuhls in Deutschland ist damit auch die "Frankfurter Schule" längst in der guten wissenschaftlichen Alltagspraxis angekommen.