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Juden in den USA
Beschützer Trump, Spalter Trump

Die jüdische Romemu-Gemeinde in New York ist offen für Menschen unterschiedlicher Religionen, Hautfarben und sexueller Orientierung. Spiritualität verbindet, so das Credo. Doch mit der Harmonie ist es vorbei, sobald das Gespräch auf den Präsidenten kommt.

Von Andreas Boueke | 21.05.2019
Ein jüdischer Mann läuft durch Brooklyn, New York, um an den Feierlichkeiten zum Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest am 3. Oktober 2016, teilzunehmen.
Lange Zeit konnten Juden in den USA ohne Bedrohung leben (Kena Betancur / AFP)
"Früher war ich ein moderner, orthodoxer, aber sehr amerikanischer Jude. In Israel und Brooklyn führte ich das Leben eines Chassidim, eines ultra-orthodoxen Juden. Dann war ich zehn Jahre lang auf Wanderschaft. Ich habe mich mit Yoga, Buddhismus und alternativen spirituellen Dingen beschäftigt. Als ich nach New York zurückkehrte, wollte ich eine neue jüdische Gemeinde aufbauen."
Rabbi David Ingber hatte Erfolg. Vor zehn Jahren gründete er die Romemu-Gemeinde in der Upper West Side von Manhattan. Heute zählt sie über tausend Mitglieder.
Er erzählt: "Zu uns kommen Juden und Nichtjuden, Buddhisten, Atheisten und Agnostiker, schwarz, weiß und rot. Schwule und Hetero."
Am Sabbat wird die Kirche zur Synagoge
Jeden Sabbatmorgen begrüßt die Verwaltungsleiterin Miriam Rubin die eintreffenden Mitglieder der Romemu-Gemeinde.
Rubin ist überzeugt: "In diesen Zeiten müssen wir den universellen Wert der Gemeinschaft stärken, im Rahmen jeder einzelnen Religion und jeder Kultur. Wir müssen Wege finden, in Harmonie miteinander zu leben, in einer wirklich verbundenen Welt, nicht nur am Computer, sondern in unserem Leben, in unserem Handeln, in unseren Gemeinden."
Schon bald brauchte die wachsende Romemu-Gemeinde einen großen Raum. So ergab sich eine außergewöhnliche Zusammenarbeit mit einer christlichen Kirche. Jede Woche am Vorabend des Sabbat wird die West End Presbyterian Church zu einer Synagoge umgestaltet. Der presbyterianische Pastor Alistair Drummond ist stolz auf die interreligiöse Zusammenarbeit. Rabbi und Reverend arbeiten freundschaftlich miteinander, Gläubige verschiedener Religionen beten zusammen, Christen und Juden reflektieren über Gemeinsamkeiten und historische Gegensätze. Rabbi David Ingber sagt:
"Die Geschichte der Beziehung zwischen Juden und Christen ist lang und problematisch. Zwar hat es im 20. Jahrhundert Annäherungen und Heilung gegeben, aber auf uns Juden lastet noch immer ein großes Trauma, sehr viel Schmerz."
"Trumps Dreistigkeit wurde belohnt"
Anfangs war es Rabbi Davids Ziel, die spirituelle Gemeinschaft der Mitglieder seiner Gemeinde mit viel Musik und Meditation zu stärken. Doch dann änderte sich die Stimmung im Land. In Zeiten der Präsidentschaft Trump predigt er zunehmend politisch.
Der Rabbi sagt: "Acht Jahre nachdem wir Romemu gegründet hatten, tauchte plötzlich dieser Mann auf der Bühne der nationalen Politik auf. Er sprach laut aus, was viele Leute dachten. Wäre der moralische Kompass in diesem Land ordentlich justiert, dann hätte man ihn zum Schweigen gebracht. Aber seine Dreistigkeit wurde belohnt. Er konnte Dinge sagen, die andere nicht zu sagen wagten."
Titelseiten der Zeitungen "New York Post" und "Daily News" zu den Aussagen von US-Präsident Trump zu der Kundgebung in Charlottesville. Trump wird zitiert mit der Aussage vom 16.08.2017: "Es waren nicht alle Nazis", die "Daily News" titelt mit "Sympathie für die Teufel" 
Präsident Trump fällt beinahe täglich durch verbale Entgleisungen auf (imago/Levine-Roberts)
Heute spricht Rabbi David häufig über Wahrhaftigkeit in der Politik, über Solidarität mit Minderheiten, mit Menschen, die Angst haben und Schutz suchen. Aus der freundschaftlichen Kooperation mit der presbyterianischen Kirche wurde gemeinsamer Widerstand und Protest, erinnert sich Reverend Alistair.
"Nach dem Massenmord an afroamerikanischen Christen in der Kirche in Charleston fragte Rabbi David unsere Gemeindemitglieder, von denen viele Afro-Amerikaner sind, ob sie zur nächsten Sabbatfeier kommen würden. Seine Gemeinde wollte mit uns beten, für uns beten. Es war eine zutiefst berührende Erfahrung. Sie haben unsere Lieder gesungen. Wir geben ihnen einen Ort zum Beten, aber sie unterstützen uns spirituell ebenso wie wir sie unterstützen."
"Pittsburgh hat alles verändert"
Dann geschah das Unfassbare.
"Ein Sabbatmorgen in Pittsburgh. In eine Synagoge kam ein Mann und tötete elf Juden."
Nie zuvor in der Geschichte der USA sind an einem Tag so viele Juden ermordet worden wie am 27. Oktober 2018 in der Tree of Life-Synagoge. Die Tat hat das jüdische Lebens in den USA grundlegend verändert, meint der jüdische Journalist Andrew Silow Carrol, Chefredakteur der 102 Jahre alten jüdischen Nachrichtenagentur Jewish Telegraphic Agency in Manhattan.
Carrol sagt: "Vor dem Massaker in Pittsburgh brauchten Juden auf dem Weg zur Synagoge normalerweise nie über Sicherheitsfragen nachzudenken. Das war sehr angenehm, vor allem in den großen Städten, wo Juden meist unter sich leben. In ländlichen Regionen ist es ein bisschen anders. Dort hatten Juden immer gewisse Vorbehalte. Aber Pittsburgh hat alles verändert. Heute wird so viel über Sicherheitsthemen gesprochen wie nie zuvor. Die Menschen sind sehr besorgt."
"Es gibt keine Mitte mehr"
Auch Rabbi David Ingber spürt, wie Hass gegen Juden wieder gesellschaftsfähig wird. In seiner eigenen Familie erlebt er, wie die veränderte politische Atmosphäre neue Trennungslinien zieht.
Ingber: "Selbst als weiße Nationalisten bei einer Demonstration in der Stadt Charlottesville brüllten: 'Wir werden nicht zulassen, dass die Juden unseren Platz einnehmen', hat sich Präsident Trump geweigert, diese Leute zu verurteilen. Trotzdem wollen sich viele Juden nicht von ihm abwenden. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner Mutter. Sie und mein Vater haben beide Trump unterstützt. Auf meine Argumente hören sie nicht. Meine Eltern sagen, Obama sei viel schlimmer gewesen für die Juden. Sie halten Obama für einen Antisemiten, der die Araber unterstützt."
Anti-Trump-Proteste in New York.
Die amerikanische Gesellschaft ist tief gespalten (imago/Pacific Press Agency)
Wenn der Journalist Andrew Silow Caroll seinen Büroturm verlässt und in den jüdisch geprägten Stadtteilen recherchiert, merkt er deutlich, wie sehr sich die Atmosphäre durch die Präsidentschaft von Donald Trump verändert hat.
Caroll: "In manchen Familien ist es schwierig geworden, über Politik zu sprechen, weil schnell Wut hochkocht. Einer sagt: 'Wie kannst du diesen Typen unterstützen? Er ist vulgär. Er verachtet Frauen. Er lässt Kinder in Käfige sperren.' Der andere sagt: 'Wie kannst du gegen ihn sein? Er hat das erste Mal die Botschaft in Jerusalem installiert. Nie zuvor hatten wir einen Präsidenten, der so pro-Israel war.' Es gibt keine Mitte mehr. Du bist entweder für ihn oder gegen ihn."
"Sind wir sicher?"
Viele Juden sind vor Krieg und Verfolgung in Europa über den Atlantik in die USA geflohen. Dort sind sie auf eine Gesellschaft getroffen, in der sie frei leben konnten. Aufgrund der historischen Erfahrung ihres Volkes meinen viele Juden, es sei nur eine Frage der Zeit, bevor sie wieder über Flucht nachdenken müssen. In den USA galt Antisemitismus lange Zeit uneingeschränkt als tabu. Heute nicht mehr.
Rabbi David Ingber: "Für Juden war es immer schwer, sich irgendwo zu Hause zu fühlen. Dafür muss man vertrauen können. Wir mussten fast zwei Jahrtausende lang fern von unserer Heimat leben. Egal wohin wir gingen, wir hatten immer das Gefühl: Zurzeit geht es uns gut, aber wird das Bestand haben? Sind wir sicher? Wir können nie wissen, welcher Vorwand den Hass erneut entfachen wird."