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Judenfeind Carl Diem?

Ein großes Forschungsprojekt über Carl Diem ist am Wochenende mit einer Tagung in Köln offiziell beendet worden. Wie das Leben des bedeutenden Sportfunktionärs einzuordnen ist, darüber gehen die Meinungen aber immer noch weit auseinander.

Von Erik Eggers | 12.12.2010
    Sechs Jahre war intensiv geforscht worden über Carl Diem. Gefördert durch den Deutschen Olympischen Sportbund, die Krupp-Stiftung und Deutsche Sporthochschule Köln, sollte eine mehrbändige Biographie von Frank Becker die letzten Winkel jener Karriere ausleuchten, die wie keine andere das Kontinuitätsproblem des deutschen Sports personifiziert: Diem, der 1962 starb, hatte im Kaiserreich, der Weimarer Republik, der NS-Zeit und auch in der Bundesrepublik maßgeblich den Sport gestaltet. Beispielsweise hatte er die Olympischen Spiele 1936 organisiert, die als "Nazi-Spiele" in die Sportgeschichte eingingen.

    Die Kölner Tagung "Erinnerungskultur im deutschen Sport. Carl Diem und andere große Männer der Sportgeschichte" bildete nun am Wochenende den offiziellen Abschluss dieses Projekts. Doch ein Ende der Diem-Debatte, die seit vier Jahrzehnten tobt, ist nicht in Sicht. Zu sehr klaffen die Meinungen in entscheidenden Punkten auseinander. Zum Beispiel in der delikaten Frage, ob Diem Antisemit war.

    Diem-Biograph Frank Becker hatte sich in seiner Auftragsarbeit mit seiner Bewertung zurückhaltend geäußert. Heikle Zitate wie "Judenpresse" oder "Semitenbande", die sich in Diems Tagebüchern und privaten Briefen finden, hatte der Oberhausener Historiker als "judenfeindliche Ressentiments" gedeutet. Ralf Schäfer geht noch weiter. Diem sei typischer Vertreter eines "völkisch-antisemitische, integralen Nationalismus" gewesen, schreibt der Berliner Historiker in einem aktuellen Aufsatz für die "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft". Im vergangenen Jahr hatte Schäfer bereits im "Handbuch für Antisemitismus" Diem einen Eintrag gewidmet, das von Wolfgang Benz, dem Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, herausgegeben wird.

    Weder Becker noch Schäfer nahmen an der Kölner Tagung teil: Becker betrachtet sich als Opfer einer geschichtspolitischen Kampagne durch den von Michael Krüger und Diem-Schüler Ommo Grupe geleiteten Projektbeirat. Die Empfehlung des Beirats solle Diem mit einem Persil-Schein ausstatten, erklärt Becker. Schäfer erklärt, er sei nicht als Redner eingeladen worden. Beide Autoren wurden in Köln massiv kritisiert.

    So urteilte der Potsdamer Sporthistoriker Hans-Joachim Teichler, die Folgerungen Schäfers aus den Diem-Zitaten lägen "am Rande der wissenschaftlichen Redlichkeit". Andererseits stimmte Teichler der Analyse Schäfers zu, dass sich bei Diem "der diskrete Antisemitismus der wilhelminischen Oberschicht" feststellen lasse. Damit revidiert Teichler die Einschätzung des Projektbeirates, dem er selbst angehört, wonach Diem kein Antisemit gewesen sei.

    Als "wissenschaftliches Wagnis" bezeichnete der Kölner Sporthistoriker Manfred Lämmer die These Schäfers, die Geschichte des Diemschen Antisemitismus sei nicht erzählt. Lämmer betonte die vielen Freundschaften, die Diem zu Juden unterhalten habe, vor und nach dem Holocaust. Begriffe wie "Judenpresse" müsse man als "Redaktionsjargon" werten. Und wenn Diem in seinen privaten Briefen über das Äußere einiger Juden gespottet habe, so sei dies auch bei hochrangigen NS-Bonzen und olympischen Funktionäre der Fall gewesen, daraus könne man keinen Antisemitismus ableiten. Dass Diem im "Handbuch für Antisemitismus" ein Eintrag gewidmet werde, erscheine ihm höchst zweifelhaft. Zumal der Amerikaner Avery Brundage, der zwischen 1952 und 1972 Präsident des Internationalen Olympischen Komitees war, darin nicht auftauche.

    Schäfers Analyse halte den wissenschaftlichen Kriterien nicht stand, so lautete das vernichtende Verdikt von Wolfram Pyta. Der Stuttgarter Zeithistoriker warf glich dem ganzen Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung unwissenschaftliches Arbeiten vor. Das Zentrum verstehe sich heute mehr als "volkspädagogisches Institut" und "geschichtspolitischer Akteur", höhnte Pyta. Auch in der "wissenschaftlichen Erforschung der NS-Verbrechensgeschichte im engeren Sinne" spiele es keine Rolle. Ein Beleg dafür, dass die Diem-Kontroverse schon lange nicht mehr nur die Sportgeschichte berührt.