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Judentum
Und plötzlich ist alles anders

Jährlich verlassen Hunderte Charedim, also ultraorthodoxe Juden, in Israel ihre religiöse Welt. Bisher bestimmten strikte Regeln den Alltag von Eltern und Kindern: Internet und Fernsehen waren verboten, knappe Röcke und T-Shirts ebenso. Der Neuanfang stellt das Familienleben auf eine harte Probe - und die Ehe auch.

Von Lissy Kaufmann | 22.06.2016
    Ein orthodoxer jüdischer Mann (li.) geht in Jerusalem an zwei modern gekleideten israelischen Jugendlichen vorbei, die an einer Demonstration gegen sexuelle Belästigung teilnehmen. Die Demonstration steht unter dem Motto "Sagt nicht uns, was wir tragen sollen - sondern sagt ihnen, dass sie uns nicht vergewaltigen sollen".
    Kleidung als Statement. (picture alliance / dpa / Abir Sultan)
    Hanni Karp kommt am Nachmittag von der Schule nach Hause. "Wie geht’s?", fragt Mutter Mina. "Alles gut", antwortet die Neunjährige. Sie trägt Leggins, T-Shirt und bunte Turnschuhe, ihr braun gelocktes Haar hängt offen über ihren Schultern. Der normale Look einer Neunjährigen, auch in Israel.
    Noch vor zwei Jahren sah sie anders aus. Im dunklen, fast bodenlangen Rock und in langärmliger Bluse, die Haare zusammengebunden – so ging Hanni zur Schule, jeden Tag. Sie wuchs in der religiösen Stadt Modiin Illit ultraorthodox auf, besuchte eine Schule nur für Mädchen. Und die haben sich in der Welt der Ultraorthodoxen züchtig zu kleiden. Hanni hatte keinen Fernseher und keinen Zugang zum Internet. Bis ihre Eltern sich entschlossen, all das hinter sich zu lassen, rund 60 Kilometer südlich nach Aschkelon zu ziehen und säkular zu leben.
    Hanni Karp erzählt: "Es ist, als ob man in eine neue Welt eintritt, ohne irgendetwas darüber zu wissen. Stell dir vor, du gehst nach China. Kennst du dort Leute? Sprichst du die Sprache? Findest du dich zurecht? Nein! Es ist schwer."
    Ihre Mutter Mina fragt: "Was war am schwierigsten?" "Die Kleidung. Du hast dich vorher jeden Tag gleich angezogen, nach strengen Regeln. Und plötzlich ist alles anders."
    Ein Ausstieg auf Raten
    Familie Karp ging gemeinsam: Mutter, Vater und vier Kinder. Hanni, ihr jüngerer Bruder und zwei kleine Schwestern. Es war ein Ausstieg auf Raten. Erst kamen die Zweifel, dann die Regelbrüche: Sie schalteten am Schabbat das Licht ein und den Herd an, kauften einen Computer. Dann verloren sie den Kontakt zu Freunden und Verwandten, die mit den Aussteigern nichts mehr zu tun haben wollten. Vor allem die beiden ältesten Kinder verstanden die Welt nicht mehr.
    Mina Karp: "Die Kinder wurden von der Schule und ihrer Umgebung beeinflusst. Alle waren Charedim, alle hielten am Schabbat Ruhe. Nur wir waren plötzlich nicht mehr so, hatten einen Computer zu Hause und schauten am Schabbat sogar fern. Sie konnten nicht verstehen, was los war. Sie dachten, wir wären verrückt geworden. Unsere älteste Tochter wollte weiterhin ihren langen Rock tragen, mein Sohn seine Kippa nicht absetzen. Wir haben ihnen Zeit gegeben."
    Mutter Mina hatte schon lange vorher mit dem Gedanken gespielt: Wie wäre es da draußen, in der säkularen Welt? Doch Zweifeln ist bei den Ultraorthodoxen tabu. Lebensentwürfe werden von Ehepaaren nicht diskutiert, sie werden von religiösen Regeln vorgegeben. "Unsere Ehe wurde arrangiert, als ich 17 einhalb war. Ich hatte damals schon versucht, in die andere Welt zu blicken. Meiner Familie machte das Angst. Also haben sie mich schnell verheiratet, damit ich hier bleibe. Und anfangs brachte mich das tatsächlich von meinem Plan ab. Ich war wieder stärker religiös. Aber ich hatte nach wie vor viele Fragen und keine Antworten, denn wenn du fragst, schauen dich die Leute an, als ob mit dir etwas nicht stimmt, als ob du Probleme hättest. Aber ich habe gesehen, dass auch mein Mann nicht so streng war und nicht alle Gebote streng eingehalten hat. Ich habe mich gefragt: Warum machen wir das alles? Wenn es uns doch nicht zufriedenstellt! Nur weil wir so aufgewachsen sind? Dann habe ich begonnen, diese neue Welt zu erkunden und habe mich mit Aussteigern getroffen und im Internet gelesen."
    Dass Mina und ihr Mann bis heute zusammenleben, ist nicht selbstverständlich. Er sei nicht ihr Traummann gewesen, erzählt sie. Doch sie haben sich zusammengerauft.
    Bewährungsprobe für die Ehe
    Avi Neumann von der Organisation Hillel unterstützt die ehemaligen Charedim in ihrem neuen Leben. Er sieht die Aussteigerfamilien als neues, ungewöhnliches Phänomen: "Sie haben mehr Zugang zu sozialen Netzwerken. Und wenn ein Partner das entdeckt, kann der andere Teil dieser Entwicklung werden. So etwas gab es früher nicht. Wir haben zwar keine genauen Zahlen, aber ich sehe das doch als neues Phänomen."
    Mina weiß, dass sie viel Glück hatte. Denn wenn einer der Partner bleibt, wird es für den Aussteiger schwer, die Kinder mitzunehmen. Vor allem die religiösen Gerichte entscheiden zugunsten derer, die weiterhin charedisch leben.
    "Wenn mein Mann nicht mitgekommen wäre, dann wäre ich vielleicht auch geblieben", sagt sie. "Denn wenn man aussteigt, verlässt man nicht nur den Mann, sondern auch die Kinder. Ja, du kannst dafür kämpfen, sie auch rauszuholen, aber es kann Jahre dauern und der seelische Schmerz ist riesig. Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen gewesen wäre."
    Derzeit bleibt sie für die Kinder zu Hause, ihr Mann arbeitet in seinem alten Job als Studienberater an einer religiösen Hochschule. Sie leben in einem säkularen Viertel, gekocht wird längst nicht mehr koscher. Mina trägt einen Kapuzenpulli und Jeans. Man sieht ihr die Vergangenheit nicht an.
    Am Schabbat an den Strand
    Doch die Familie musste erst lernen, was für Säkulare selbstverständlich ist: Welche Klamotten trägt man? Welche Filme laufen im Kino? Und was macht man nun am Schabbat, jetzt, da man Strom benutzen und Auto fahren darf? Mina Karp erzählt: "Wenn das Wetter schön ist, gibt es kaum einen Schabbat, an dem wir keinen Ausflug an den Strand machen. Wir fahren nur wenige Minuten. Ich erinnere mich an unseren ersten gemeinsamen Strandbesuch. Es war so merkwürdig. Ich hätte es mir nicht träumen lassen, mal an einem Strand ohne Trennung zu sein." Denn Charedim dürfen nur an Strände mit Geschlechtertrennung, der Züchtigkeit wegen.
    Und so lernt Familie Karp ständig Neues kennen. Für die Eltern bedeutet das aber auch den Verlust der elterlichen Autorität. Plötzlich können sie ihren Kindern die Welt nicht mehr erklären. Im Biounterricht lernt Hanni über Tiere und Pflanzen und wie der menschliche Körper funktioniert. In charedischen Schulen ist das ausgeschlossen. So muss Hanni alleine klarkommen. "Sie wissen fast nichts und können uns kaum helfen. Ihr Wissensstand ist niedriger als unserer. Bis sie eine Aufgabe verstanden haben, habe ich sie auch kapiert", sagt sie über ihre Eltern.
    Auch wenn das neue Leben Schwierigkeiten mit sich bringt: Familie Karp lebt heute freier.
    Viele andere Charedim haben keine Zweifel daran, dass es der richtige Weg ist, nach den streng-religiösen Regeln zu leben. Sie sind damit glücklich und wollen nicht in die Welt da draußen blicken. Familie Karp aber hat sich für einen anderen Weg entschieden. Und der hat gerade erst begonnen.