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Judentum
"Wir Juden waren Jahrhunderte lang eure Hottentotten"

Der Journalist Gerald Beyrodt feiert am Sonntag Chanukka und ein bisschen Weihnachten. Aber zu viel Harmonie zwischen Christen und Juden kommt ihm unehrlich vor. Europa sollte mit der Selbsttäuschung aufhören, dass es "quasi aus sich heraus so wahnsinnig tolerant wäre", sagte Beyrodt im DLF.

Gerald Beyrodt im Gespräch mit Christiane Florin | 22.12.2016
    Die Nachbildung eines neunarmigen Chanukkaleuchters schmückt die Wand in der Talmud-Tora-Realschule in Hamburg
    Die Nachbildung eines neunarmigen Chanukkaleuchters schmückt die Wand in einer Talmud-Tora-Schule (dpa / picture alliance / Jens Ressing)
    Christiane Florin: Machen wir den Praxistest für christlich-jüdische Leitkultur: Wie viele Ihrer nicht-jüdischen Bekannten wissen, wann Chanukka ist?
    Gerald Beyrodt: Das wissen eigentlich die Wenigsten, was Chanukka bedeutet, was die Hintergründe sind. Das ist den meisten völlig unbekannt. Was schon passiert ist, dass Leute einem den entsprechenden Gruß wünschen. "Chanukka sameach" ist nicht so bekannt, aber dass jemand "Happy Chanukka" sagt, das passiert schon mal.
    Florin: Was wird Chanukka gefeiert?
    Beyrodt: Die Geschichte von Chanukka spielt im zweiten Jahrhundert vor der Zeitrechnung. Da war das Land von den Griechen besetzt, die Beschneidung war zum Beispiel verboten – so lange geht also die Beschneidungsdebatte schon. Die allergrößte Kränkung war: Im jüdischen Tempel wurden fremde Götter verehrt. Da gab es dann einen jüdischen Kämpfer – Judah Makkabi –, er und seine Leute haben das Land von den Griechen befreit. Das war eine Art Bürgerkrieg – auch ein Kampf übrigens, gegen die angepassten Juden. Ganz wichtig an Chanukka ist das Ölwunder im Tempel. Für die Menorah, die ewige Lampe im Tempel, war nur noch Öl für einen Tag da und man braucht aus irgendwelchen Gründen acht Tage, um neues, koscheres Öl ranzuschaffen. Das Ölwunder von Chanukka bestand eben darin, dass dieses Öl für einen Tag dann doch acht Tage lang gehalten haben soll. Deshalb isst man an Chanukka auch Speisen, die in Öl gebacken werden, also Kartoffelpuffer und Krapfen. Man hat auch diesen Chanukka-Leuchter, den habe ich Ihnen mal mitgebracht. Da sehen wir einen Leuchter für acht Kerzen und nebendran eine Kerze, die so ein bisschen weiter weg ist. Das ist der sogenannte "Diener" oder "Schamasch", der ist dazu da, um die anderen zu entzünden. Also, man erinnert mit diesen acht Kerzen an die acht Tage von Chanukka. Und am ersten Tag von Chanukka brennt auch nur eine Kerze, am zweiten Tag zwei Kerzen und so fort. Jüdische Sportvereine heißen in Erinnerung an Chanukka gern "Makkabi". Etwas schockiert hat mich im jüdischen Tischgebet, was man an Chanukka betet – also, unsere Gebete sind so ein bisschen veränderlich –, da bedankt man sich auch für die Kriege, die Gott für uns geführt habe.
    Florin: Es ist ein Fest des Lichts, haben wir gerade gehört, aber nicht unbedingt ein Fest des Friedens?
    Beyrodt: Nein, es ist eher ein Fest der Abgrenzung. Es ist jetzt auch kein Fest des Krieges, muss man sagen. Also, dass dieser eine Segensspruch so lautet, das ist zwar so, es ist jetzt aber nicht so, dass Juden da irgendwie den Krieg an Chanukka zelebrieren. Man muss ja auch sagen, in der jüdischen Geschichte hat es das sehr selten gegeben, dass Juden irgendwann mal militärisch erfolgreich waren. Also, der Fall von Chanukka ist schon ziemlich einzeln. Trotzdem ist das eine Sache, wo man sieht, dass Religion ihre problematischen Seiten hat. Gerade auch die eigene, so eine tolle Religion wie Judentum, hat ihre sehr problematischen Seiten.
    Florin: Es taugt offenbar – wie das Weihnachtsfest ja auch, wenn wir an die deutsche Weihnacht denken – zur Nationalisierung?
    Beyrodt: Das kann man sagen. In der Geschichte des Zionismus wurde es dann plötzlich wichtig, Menschen zu haben, die einen Acker bebauen können, die ein Land verteidigen können. Max Nordau bracht das Wort vom "Muskeljuden" auf, und das hatte dann schon eine ganze Menge mit Chanukka und den Makkabäern zu tun, weil es auch dafür nicht so viele andere Beispiele gibt in der jüdischen Geschichte.
    Florin: Gibt es etwas, das Sie von Weihnachten übernehmen?
    Beyrodt: Christen und Juden haben über Jahrhunderte hinweg in den selben Ländern gelebt, da wäre es schon verwunderlich, wenn es da keine Ähnlichkeiten zwischen den Festen gäbe. Also, was erstmal auffällt ist, dass beide Feste eben mit Licht arbeiten. Dann gibt es natürlich diesen Druck auf jüdische Eltern, dass man Kindern irgendwas schenken muss. Man muss sich das mal vorstellen: Alle anderen Kinder kriegen was und die jüdischen Kinder kriegen nichts. Das läuft so natürlich nicht. Deshalb machen jüdische Eltern das häufig so, dass sie ihren Kindern kleine Geschenke machen, aber die an jedem Tag von Chanukka, also achtmal kleine Geschenke. Auch ganz schön anstrengend. Und schließlich sind sogar viele Melodien recht ähnlich. Das wichtigste Chanukka-Lied "Maos Zur", das geht auf eine Melodie von Martin Luther zurück. Dann gibt es ein Chanukka-lied, was auf die Melodie von Tochter Zion zurück geht. Wenn man so nah miteinander gelebt hat oder auch gegeneinander gelebt hat, kein Wunder.
    Florin: Was finden Sie befremdlich an der deutschen Weihnacht?
    Beyrodt: Also, man kann Feste aller Religionen befremdlich finden. Weihnachten ist ein Fest, an dem alle mal die Nerven verlieren. Das kann man sympathisch finden – 'endlich mal ein Ventil' –, das kann man auch befremdlich finden. Ansonsten finde ich ein bisschen befremdlich diesen Harmonieanspruch in den Familien, dass jeder sich gut verstehen soll – was eigentlich sonst nie der Fall ist. Aus jüdischer Perspektive muss ich sagen: Ein bisschen mehr Lust an der Kontroverse, wäre an Weihnachten vielleicht nicht schlecht. Für mich ist diese Erwartung schwierig, dass alle mitmachen, dass alle irgendein Gefühl haben sollen, was irgendwie in Richtung Kitsch, in Richtung Ergriffenheit geht. Ich habe überhaupt nichts gegen das Fest, aber dass man es jetzt an jeder Straßenecke riechen und hören muss, muss für mich nicht unbedingt sein.
    Florin: Christlich-jüdisch, wenn das in einem Atemzug genannt wird, finden Sie das vereinnahmend?
    Beyrodt: Das kommt sehr darauf an, wer es wann sagt. Juden haben ja doch sehr lange auf die Ähnlichkeiten bestanden und gesagt: Wir machen auch eine Theologie und Judentum kann man auch wissenschaftlich erforschen. Es ist ja immer eine Frage, wie man es anguckt. Fakt ist, die Ähnlichkeiten gibt es natürlich. Wir sind diejenigen – wenn man es mal platt sagt –, die der Welt den Monotheismus gebracht haben. Christlich-jüdisch finde ich vor allem schwierig, wenn das in Abgrenzung zum Islam gebraucht wird. Also, mit so einem Unterton: "Wir sind die Zivilisierten und die anderen, das sind halt die Hottentotten". Da muss man ab und an mal sagen: Wir waren jahrhundertelang eure Hottentotten. Die Geschichte von Christen und Juden in Europa ist jetzt keine besonders erfolgreiche. Es ist die Geschichte eines Misserfolges, es ist eine Geschichte mit Vertreibungen, mit Pogromen, mit Talmud-Verbrennungen. Unser Gebetbuch wimmelt von Stellen, wo irgendwie steht: Da war die christliche Zensur dran. Also, man sollte mal mit dieser Selbsttäuschung aufhören, dass Europa quasi aus sich heraus so wahnsinnig tolerant wäre. Nein, Toleranz musste erkämpft werden, Europa hat sich schwer mit Fremden getan. Ich glaube, dass es sehr gut wäre, wenn man aufhört sich selbst zu täuschen und einsieht, dass das richtig Arbeit macht und dass das schwierig ist und dass das von unserer gemeinsamen Geschichte her nicht unbedingt vorgegeben ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.