Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Judith Kerr zum 90. Geburtstag

"Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" dürfte ihr bekanntester Roman sein. Judith Kerr, heute stolze 90 Jahre alt, schreibt darin über die Flucht eines jüdischen Mädchens samt Familie vor den Nazis. Ihr eigenes Leben schlug auch so manche Volte, ihre Geschichten garnierte sie mit eigenen Zeichnungen.

Von Ute Wegmann | 15.06.2013
    An einem Nachmittag im Jahr 2011 in Barnes, in der Nähe von London. Die Straße, in der Judith Kerr schon über 50 Jahre lebt, liegt direkt an einem Park. Hausnummer 11. Das Haus, schmal und so belassen, wie es einst gebaut wurde, fügt sich in die Reihe.

    Klingeln. Kleine Schritte nähern sich der Tür. Judith Kerr öffnet. Sie sieht hinreißend aus: schlank mit weißem gewellten Haar, etwa 1,65 groß. Sie trägt diese großglasige Brille, die man von alten Fotos kennt, und um den Hals dreimal geschlungen eine Perlenkette. Das blauweiß-gemusterte Kleid mit kurzen Ärmeln ist von eleganter Jugendlichkeit.

    Marks & Spencer, bemerkt sie später und, dass sie dort fast alles kauft. Auch die Kekse, die sie zum Kaffee reicht.

    Dann spricht die Schriftstellerin und Illustratorin Judith Kerr über das Zeichnen:

    "Es ist gar nicht das Zeichnen, es ist das Sehen. Im Kopf zeichnet man die ganze Zeit eigentlich. Man geht herum und sieht die Welt und dann, in your head you rearrange things. Und das ist natürlich an obsession. Wenn man eine Arbeit hat, die man liebt, dann ist das ein Riesenglück und eine Riesenhilfe dagegen, wenn man Unglück hat. Es ist wahrscheinlich so wie für andere Menschen die Religion. Es ist etwas außerhalb von einem selber, was wichtiger ist als alles andere."

    Judith Kerr wirkt unglaublich jung. Sie ist charmant, liebenswert und doch höflich distanziert. Sie erzählt gern von ihrem Vater, ihrer Mutter, von Michael, ihrem älteren Bruder, der ein angesehener Richter war. Als sie spürt, dass das Deutsche sie mehr und mehr verlässt und sie lieber das Gespräch beenden möchte, vermittelt sie das mit britischer Höflichkeit: Sie müsse noch arbeiten, sagt sie. Ein Buch über alte Damen, der Titel: "The Great Granny Gang." Es erzählt sehr heiter von der Selbständigkeit, Eigenwilligkeit und Tatkraft einer Gruppe alter Damen, die erfolgreich eine junge Diebesbande in die Flucht schlagen. Dieses Bilderbuch der in Großbritannien hoch gefeierten Künstlerin Judith Kerr ist Ende 2012 erschienen. Man kann mit Gewissheit davon ausgehen, dass sie gerade an einem neuen Bilderbuch arbeitet.

    "Die Bilderbücher habe ich sehr gerne gemacht und gezeichnet und so gut wie möglich. Ich habe mich sehr dafür interessiert, wie man Worte und Bilder zusammenbringt. Es ist viel amüsanter, wenn man etwas schreibt und wenn man das Bild anschaut, ist es anders."

    Angefangen hat ihre Karriere als Illustratorin 1968 mit dem Bilderbuch "The Tiger Who Came To Tea", Ein Tiger kommt zum Tee. Die Geschichte eines Mädchens, vor deren Wohnungstür plötzlich ein Tiger auftaucht, sehr viel Unordnung in das bestehende Gefüge bringt, aber für kurze Zeit ein wichtiger Freund wird. Dem Tiger folgt 1970 "Mog, The Forgetful Cat", Mog, der vergessliche Kater. Die Alltagsgeschichten der Familie Thomas und ihrer schusseligen, verträumten Katze, die vergisst, wie man sich putzt, die vergisst, wie man isst, die im Baum sitzend vergisst, dass sie dem Vogel nicht fliegend folgen kann. Während der Tiger nur zu Besuch kommt, lebt Mog in der Familie, mit zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, eine Struktur, die der Familie Kneale-Kerr sehr ähnlich ist. Mog und Tiger verkörpern Wärme und Geborgenheit, werden Freunde der Kinder. Aber der Kater mit seinen großen Kulleraugen ist mehr als das: Mog ist nicht lenkbar. Mog macht Dinge, die verboten sind. Mog zeigt Gefühle wie Eifersucht und Einsamkeit, Gefühle, die Kinder kennen. Durch seine Schwächen und das Chaos, das er verursacht, ist er den Kindern nah, aber gleichzeitig ist er auch ein Held, der Einbrecher stellt. Kein Wunder also, dass Mog und der Tiger zu den beliebtesten Figuren der englischen Kinderliteratur gehören. Die Illustrationen stehen traditionell naturalistisch anfangs im Ambiente der 70er-Jahre; Figuren, Möbelstücke und Räume heben sich klar konturiert von einem weißen Hintergrund ab. Sicherlich sind es die lebensnahen Situationen und die heiteren Reime, die die Kinder durch die Jahrzehnte für Judith Kerrs Bilderbücher begeistern.

    Erfolgsgeschichten, weltweit millionenfach verkauft.

    Judith Kerr erfreut sich an jeder gelungenen Verbindung von Wort und Bild.

    "Die letzten beiden Bücher und das, an dem ich jetzt arbeite, sind etwas surreal. Wenn man nämlich einen Reim sucht, das bringt einen auf Wege, die man nie gegangen wäre. "

    "A crocodile and a kangaroo sat off on a bicycle made for two."

    "Das war wegen des Reims. Ich habe mich richtig darüber gefreut, das hätte man doch sonst nie geschrieben. Aber als es dazu kam, das zu zeichnen, dachte ich: What fool wrote this? - das war wirklich nicht leicht …"

    In den Jahren 1970 bis 2001 schreibt und illustriert Judith Kerr über 20 Bilderbücher, davon 17 MOG-Geschichten, bis sie den beliebten Kater im Jahr 2001 in "Goodbye, Mog!" sterben lässt.

    Die frühen Bilderbücher dokumentieren gleichzeitig auch ihr eigenes Familienleben, das Zuhause, das nach der Flucht aus Berlin im März 1933 ihre zweite Heimat wird.

    Von dem ersten Leben, ihrer ersten Welt, erzählt Judith Kerr in ihrer autobiografisch gefärbten Romantrilogie. Der erste Teil "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", ins Deutsche übertragen von Annemarie Böll, der Ehefrau Heinrich Bölls, wird 1973 in Deutschland veröffentlicht, ein Jahr später gewinnt er den Deutschen Jugendliteraturpreis. Der Roman gehört seitdem in Deutschland zum Kanon der Schullektüre.

    Zum ersten Mal schrieb eine Schriftstellerin über die Flucht einer jüdischen Familie aus Deutschland, über ihr Leben in der Emigration während des Krieges und das alles aus der Perspektive eines Kindes in einer Erzählung für junge Leser. Judith Kerr wollte keine Autobiografie schreiben, sie hat ihre Geschichte bewusst fiktionalisiert, weil doch – wie sie sagt - viele Details in der Erinnerung schon verblasst sind.

    Und dennoch sind die Stationen der Flucht von Berlin nach Zürich, Lugano, Küsnacht über Paris nach London und die Erlebnisse der Familie Kerr im Detail nachgezeichnet und von einem hohen Grad an Wahrhaftigkeit.

    Die erste Welt Judith Kerrs war das Berlin der Zwanziger Jahre, wo sie am 14. Juni 1923 als Tochter des bekannten Theaterkritikers Alfred Kerr und der Pianistin und Komponistin Julia Weismann geboren wurde. Ihr Bruder Michael war gerade zwei Jahre alt.

    "Für mich bedeutete Berlin nicht den Kurfürstendamm oder das Brandenburger Tor, sondern mein Schulweg und den Papierladen, wo ich meine Buntstifte gekauft habe, und unser Haus und Freundinnen und Würstchen mit Sauerkraut und eben dieses rosa Kaninchen. Die normale Welt. Die Welt, mit der man unbewusst alles Spätere vergleicht."

    "Als ich neun Jahre alt war, ist diese Welt für mich mit einem Schlag verschwunden."
    In dieser Berliner Welt besitzt Judith Kerr das wichtige Stofftier, das ihrem Roman den Titel verleiht, das rosa Kaninchen, das sie bei ihrem Aufbruch in die Schweiz zurücklässt:
    "Es hatte schwarze, aufgestickte Augen – die Glasaugen waren schon vor Jahren ausgefallen -, und es sackte so reizend zusammen, wenn man es auf die Pfoten stellte. Das Fell war, obgleich nur noch verwaschen rosa, so weich und vertraut gewesen. Warum hatte sie nur statt ihres lieben rosa Kaninchens diesen blöden Wollhund mitgenommen? Das war ein arger Fehler gewesen, und sie würde ihn nie wieder gutmachen können."

    Im Jahr 1933 leben die Kerrs in einer Villa in Berlin-Grunewald und genießen hohes soziales Ansehen, bis der erklärte Hitler-Gegner und Jude Alfred Kerr gewarnt wird, dass man seinen Pass einziehen wolle. In der Nacht des 15. Februar flieht Alfred Kerr nach Prag.

    Wie bei vielen Juden spielt die Religion zu dieser Zeit im Leben der Familie Kerr keine Rolle. Judith Kerr thematisiert das in ihrem Roman:

    "Elsbeth fragt ihre Freundin Anna auf dem Heimweg von der Schule:
    "[...] wenn du wie alle anderen aussiehst und nicht in eine besondere Kirche gehst, wie kannst du dann wissen, dass du wirklich jüdisch bist? Wie kannst du sicher sein?' Es entstand eine Pause. 'Ich vermute ...', sagte Anna, [...] weil mein Vater und meine Mutter Juden sind und wahrscheinlich waren Ihre Väter und Mütter es auch. Ich habe nie darüber nachgedacht, bis mein Vater vorige Woche anfing, davon zu sprechen.'
    'Also, ich finde es blöd!', sagte Elsbeth. 'Das mit Adolf Hitler ist blöd und dass Leute Juden sind und alles!'"

    Für die Kinder sind die neuen Verhaltensregeln und die Unterscheidungen in Juden und Nicht-Juden ebenso befremdend wie für viele Erwachsene.

    Einer "normalen, glücklichen Kindheit" in Berlin folgen die Jahre der Emigration. Einen Tag vor der Reichstagswahl am 5. März 1933 gelingt es Julia Kerr, mit den beiden Kindern in die Schweiz auszureisen, wo sie Kerr wiedertreffen. Die Stationen Lugano, Zürich und Küsnacht sind noch getragen von der Hoffnung, dass Alfred Kerr für die Neue Züricher Zeitung schreiben kann, aber alle Hoffnungen zerschlagen sich sehr schnell.
    Für die Kinder ist die Abreise aus Berlin kein Verlust, sondern ein großes Abenteuer.

    "Ich habe dann andere, neue Welten kennengelernt, neue Menschen, neue Sprachen, und ich habe diese neuen Welten genauso genossen."
    Im August 1933 stehen die Kerrs auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reiches. Jetzt besitzt die Familie nur noch die Dinge, die sie mitgenommen hat. Im rosa Kaninchen heißt es:

    "Anna versuchte, es sich vorzustellen. Das Klavier war weg, die Vorhänge im Esszimmer mit dem Blumenmuster ... ihr Bett ... alle Spielsachen...auch das rosa Kaninchen."

    Alles haben die Nazis mitgenommen, gestohlen, sogar die Spielzeuge.

    Ende 1933 beziehen die Kerrs eine möblierte Wohnung in Paris. Judith liebte die Stadt von Anfang an.

    "Als mein Vater und ich in Paris aus dem Fenster schauten, da sah man die Dächer von Paris, da sagte ich: 'Ist es nicht herrlich, Flüchtling zu sein?' Später wurde es schlimm."
    Im Sommer 1935 spitzt sich die finanzielle Lage zu und sie müssen die Wohnung in Paris aufgeben. Zwischenstationen bei den Großeltern Weismann in Nizza, immer wieder die Zuversicht Alfred Kerrs eine Arbeit zu finden, schreiben zu können. Dank der Option eines Drehbuchs durch den Filmproduzenten Alexander Korda siedeln sie im März 1936 über in ein Emigrantenhotel in London. Ein Jahr später ist das Geld aufgebraucht und keine Arbeit in Sicht. Verzweiflung und Ausweglosigkeit prägen den Alltag. Dann bricht im Jahr 1939 der Krieg aus.
    Die Engländer unterstützen die jüdischen Flüchtlinge, bezeichnen die deutschen Juden als "friendly enemy aliens". Judith Kerr erinnert sich:

    "Wir waren die ganze Zeit in London, wurden ausgebombt, es war sehr erschreckend, aber die Menschen waren so gut zu uns, so mutig."
    Ein Jahr nach Kriegsende, 1946 beginnt Judith dank eines Stipendiums ihr Studium an der Central School of Arts and Crafts.

    Ein Job als Zeichenlehrerin an einer Technical School und Lektorate für die BBC erfüllen/kennzeichnen die Jahre von 1949 bis in die 50er. 1954 heiratet sie Nigel Tom Kneale, einen renommierten BBC-Autor. Über Tom, ihre große Liebe, sagt sie:

    "Mein Vater hat mir immer gesagt: Du hast sehr viel Talent, aber das ist nicht immer so leicht, das selber zu glauben. Tom hat mir das Selbstbewusstsein gegeben. Und ich denke jetzt: Mir hat der Hitler ja einen Gefallen getan, mir persönlich: Dass ich hier bin, und Tom gefunden habe. ... Ich hab solches Glück gehabt."

    In den Jahren 1958 und 1960 werden ihre Kinder Tacy und Matthew geboren. Erst als die Kinder zur Schule gehen, beginnt sie wieder zu zeichnen und verfasst die Trilogie.

    "Warten bis der Frieden kommt" und "Eine Art Familientreffen" - der zweite und dritte Band der Familiengeschichte erscheinen 1975 und 1978. Im zweiten Teil beschreibt Judith Kerr die Jahre von 1940 bis zum Kriegsende, ein Zeitdokument des Zweiten Weltkrieges, angesiedelt in London.
    Eine Art Familientreffen beginnt im Jahr 1956. Annas Hochzeit, der Suizidversuch der Mutter, Kindheitserinnerungen an Berlin und Bilder einer vom Krieg zerstörten Stadt bestimmen den dritten Teil.

    Die Romantrilogie über das Leben der jüdischen Berliner Familie, die vor den Nationalsozialisten fliehen musste, und für die England zur neuen Heimat wird, ist zweifelsfrei Judith Kerrs autobiografischstes Werk. Die Parallelen zu ihrem Leben sind unübersehbar. Aber das soll auch so sein. Sie wollte die Geschichte ihrer Familie vor allem für ihre Kinder festhalten.
    Die Jahre mit ihrem Mann Tom werden glückliche, produktive Jahre, bis er 2006 stirbt.
    In "My Henry" erzählt Judith Kerr die fantastische Geschichte einer Witwe, die jeden Tag zur gleichen Zeit den geliebten verstorbenen Mann trifft, um mit ihm all das zu erleben, was zu Lebzeiten undenkbar gewesen wäre: Wasserski mit einem Delfin, Besteigung des Mount Everest, Teatime im Dschungel auf einem Baum.
    Das Bilderbuch ist eine Liebeserklärung, eine Auseinandersetzung mit dem Tod und mehr noch eine Unsterblichkeitserklärung an ihren geliebten Ehemann.

    "Das war für meinen Mann und für die vielen Witwen. Es war surreal, was sie sich da vorstellt, was sie alles machen kann. Es wurde immer more surreal. Ich bin jetzt 88. Wenn man sich mit 88 nicht mit dem Tod beschäftigt, wann soll man das dann tun."

    Das tägliche Zeichnen ist auch heute noch selbstverständlich für Judith Kerr.

    Von ihrem Arbeitsplatz im ersten Stock kann sie aus dem Fenster schauen, nach draußen, wo etwas passiert, das ist wichtig für sie. Ihr Mann Tom schrieb immer mit Blick in den Park, aber die Eiche vor dem Haus ist enorm gewachsen, nimmt das Licht und überhaupt, lächelt sie, nehmen sich die Bäume ganz schön viel Raum. Die Bäume sind über das Kneal'sche Haus gewachsen, viel Zeit ist vergangen.

    "Ich bin glücklich, das hätte ich noch sagen sollen", stellt sie zum Schluss fest. Und man spürt, dass ihr das sehr wichtig ist, weil sich so der Wunsch ihres Vaters Alfred Kerr erfüllt. Denn: In seinem letzten Brief an die Tochter schrieb er: "Du musst glücklich werden. Tu es!"
    Was zurückbleibt von einem Treffen an einem Sommertag – das freundliche Wohnzimmer, an der Wand ein Gemälde mit dem unverkennbaren Alfred Kerr, die Klarheit der Räume, das braune Kaffeegeschirr. Man möchte fast sagen - die Ruhe.

    Aber wirklich ruhig ist es gar nicht. Das Haus liegt in der Start- oder Landeschneise von London-Heathrow. Alle fünf Minuten hört man ein Flugzeug oder einen Hubschrauber über den Dächern von Barnes.

    Die Ruhe, das ist Judith Kerr. Das ist Judith Kerrs Lächeln.