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Jüdische Kinder im Schoß der katholischen Kirche
Leben gerettet, Identität verloren

Während des Holocaust wurden Tausende jüdische Kinder in katholischen Einrichtungen vor der Verfolgung durch die Nazis versteckt. Einige von ihnen wurden in diesem Zug wohl auch getauft und umerzogen - Geschichten, mit denen sich die katholische Kirche bis heute schwertut.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt | 15.07.2020
Broschüren aus dem Kharkiv Holocaust Museum, Ukraine
Zum Schutz vor der Deportation wurden Tausende jüdische Kinder in katholischen Familien und Einrichtungen versteckt (imago stock&people / Vyacheslav Madiyevskyy)
Es sind Geschichten, die unglaublich klingen: Geschichten von Ordensfrauen, die in der NS-Zeit jüdische Kinder in Klöstern und Konventen versteckten. Geschichten von Priestern, die unter Lebensgefahr ihre mit dem Tod bedrohten Schutzbefohlenen in kirchliche Internate, ja sogar in Pfarrhäuser schmuggelten. Die meisten von ihnen überlebten im Schoß der Kirche.
Doch in die Dankbarkeit mischt sich nach dem Krieg oft Bitterkeit. Denn vielen dieser Kinder wurde später ihre jüdische Herkunft verschwiegen und eine fremde übergestülpt, eine katholische. Immer wieder wurden Vorwürfe laut, die Kirche breite den Mantel des Schweigens über "diese Sache" - also die Taufe jüdischer Kinder. Was tun? Die katholische Kirche war schon länger hin- und hergerissen.
"Da gab es im 19. Jahrhundert den 'Fall Mortara', sagt Professor Thomas Brechenmacher, Historiker in Potsdam, "damit hat die Kirche so schlechte Erfahrungen gemacht, dass man sich in dieser Zeit der Dreißiger- und Vierzigerjahre davor gehütet hat, so etwas noch mal anzuwenden. Das hat die allergrößten Verwicklungen hervorgerufen."
Nottaufe mit Folgen
Anna Morisi ist ratlos. Schon seit Tagen hustet und fiebert der Kleine. Ja, sicher, in diesen Herbsttagen des Jahres 1852 grassiert in Bologna die Grippe. Aber wenn es nun doch etwas Schlimmeres ist? Etwas, das das Leben des elf Monate alten Edgardo bedrohen könnte? Das Dienstmädchen Anna Morisi beschließt zu handeln: "Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes." Sie besprengt den kleinen Sohn ihrer Herrschaft mit Weihwasser und spricht die Taufformel, mit der ja jeder Christ im Notfall taufen kann. Dass dieser kleine Täufling, Edgardo Mortara, Sohn einer jüdischen Familie ist - das hat für das unbedarfte Hausmädchen in diesem Moment keine Bedeutung.
Anna Morisis Nottaufe hat aber weitreichende Folgen. Nachdem sie fünf Jahre später einem Priester davon berichtet, verbreitet sich die Geschichte wie ein Lauffeuer: Und so donnern an einem Sommerabend 1858 Polizisten an die Haustür der Kaufmannsfamilie Mortara. Ungerührt teilen sie den fassungslosen Eltern mit, dass der kleine Edgardo nicht in seiner jüdischen Familie bleiben könne, da er ja getaufter Christ sei. Papst Pius IX. habe von daher persönlich Anweisung gegeben, den Jungen aus der Familie zu holen und ihn katholisch erziehen zu lassen.
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Wie Ordensleute Juden vor den Nazis retteten
Als die Nazis in Italien einmarschierten, fanden einige Jüdinnen und Juden Zuflucht in einem katholischen Orden. Zur Tarnung trugen sie sogar Franziskaner-Kutten.

Unter dem verzweifelten Schluchzen der Mutter nehmen die Polizisten den Sechsjährigen mit und bringen ihn in eine kirchliche Einrichtung nach Rom. Was formaljuristisch durchaus rechtens ist, sagt der Historiker Rudolf Lill:
"Der Staat des Papstes umfasste bis ins 19. Jahrhundert nicht nur Rom und Latium, sondern die Marken und die Romagna. Bologna und Ancona waren nach Rom die beiden größten Städte des Kirchenstaates." Folglich, so Vatikan-Experte Lill, gilt dort auch das Recht des Kirchenstaates, "welches weitgehend dem kanonischen Recht angeglichen war."
Und weiter Lill: "Der Papst hatte ja eine Doppelfunktion: er war der Souverän des Kirchenstaates, und er war der Papst. Und als Papst befolgte er in allen Dingen, die mit Sakramenten zusammenhingen das kanonische Recht. Und damals sagte man: Wenn ein Kind getauft worden ist, dann ist es für sein Heil absolut notwendig, dass es auch weiter katholisch aufwächst. Und wenn die Eltern das nicht tun, in diesem Fall, weil sie ja gar keine Katholiken sind, dann muss man das Kind in einen katholischen Kontext holen und es katholisch erziehen. In diesem Kontext muss man die Geschichte einordnen."
All das spielt sich in einer Zeit ab, in der Papst Pius IX. ein autoritär-absolutistisches Regime führt - bis hin zu einer völligen dogmatischen Erstarrung seiner Kirche, so Lill: "Und ein Opfer dieser Erstarrung wurde Edgardo Mortara."
Als Juden beginnen, als Christen enden
Szenenwechsel. Es ist eine bewegende Trauerfeier. In einer der prachtvollsten Kirchen der Christenheit. An diesem Augusttag 2007 versammeln sich Vertreter der französischen Regierung, Politiker und Würdenträger aus vielen Religionen in der Kathedrale Notre-Dame, um Abschied zu nehmen vom Pariser Erzbischof Kardinal Jean-Marie Lustiger.
Und dann hallt durch den gotischen Hochchor von Notre-Dame das Kaddisch, das jüdische Totengebet. Der Historiker Arno Lustiger spricht es für den Kardinal, seinen Cousin. Der zeit seines Lebens eines immer deutlich gemacht hatte: "Christ geworden durch den Glauben und die Taufe, bin ich doch Jude geblieben, wie es auch die Apostel geblieben sind."
Es gibt eine Verbindungslinie, von der Kindstaufe in Bologna 1852 zur Trauerfeier in Paris 2007: Beide, der kleine italienische Junge und der französische Kardinal haben ihr Leben als Juden begonnen und - es als Christen beendet. Beide sind sie zu einem Spielball ihrer Zeit und der herrschenden politischen Verhältnisse geworden.
Gregory Peck Characters: Monsignor Hugh O Flaherty Film: The Scarlet And The Black 1982 Director: Jerry London 02 February 1983 PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: MaryxEvansxAFxArchivexCbs 12463345 editorial use only
Der „Oskar Schindler des Vatikans“
Die Geschichte des irischen Priesters Hugh O'Flaherty, der vom Vatikan aus viele jüdische und andere Flüchtlinge rettete, wurde 1983 mit Gregory Peck in der Hauptrolle verfilmt.


Edgardo Mortara ist nach dem vom Vatikan angeordneten "Kidnapping" nie mehr in sein Elternhaus zurückgekehrt. Er blieb katholischer Christ und trat 1865 in den Orden der Augustiner-Chorherren ein, so Lill: "Man hatte ihn völlig davon überzeugt, dass diese päpstliche Doktrin richtig sei. Weil der Papst ihn mochte und ihn bevorzugte, konnte er schon mit 21 Jahren zum Priester geweiht werden."
Ähnlich und doch ganz anders: Kardinal Lustiger, geboren 1926 in Paris als Aaron Lustiger. Der Sohn polnischer Juden gehörte zu den Tausenden jüdischen Kindern, deren Familien während der deutschen Besetzung Frankreichs deportiert wurden; seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Aaron überlebte mit falscher Identität, versteckt in der Obhut einer katholischen Familie. Im Alter von 14 Jahren konvertierte er zum Katholizismus und nahm den Namen Jean-Marie an. Er studierte Theologie, wurde Priester, Erzbischof von Paris und 1983 Kardinal:
"Interessant oder bewegend in seinem Lebenslauf ist, dass er sich immer den christlich-jüdischen Dialog auf die Fahnen geschrieben hat. Er hat immer gesagt. Wir stammen aus einer Wurzel," sagt der Historiker Thomas Brechenmacher, Professor an der Universität Potsdam. Es geb viele solcher Geschichten. Und alle Geschichten ähneln sich: Es sind Geschichten wie die des polnischen Priesters Romuald Jakub Weksler-Waszkinel, dem seine katholische Pflegemutter erst auf ihrem Sterbebett offenbarte, er sei im Ghetto von Lublin geboren - als jüdisches Kind.
Filmszene im Schlafsaal aus: Auf Wiedersehen, Kinder, Frankreich 1987, Regie: Louis Malle
Nur der Pater kennt Jeans wahre Identität. Szene aus Louis Malles "Auf Wiedersehen, Kinder" (imago stock&people)
Eine dieser Geschichten erzählt der französische Regisseur Louis Malle in seinem berühmten, autobiografisch geprägten Film "Auf Wiedersehen, Kinder". Sie spielt 1944 in einem katholischen Internat im von Deutschen besetzten Frankreich. Dort haben die Ordensmänner einen jüdischen Jungen aufgenommen, dessen wahren Namen nur einer von ihnen kennt und dessen Geschichte ein bedrückendes Ende nimmt: "Mehr als 40 Jahre sind seither vergangen, aber so lange ich lebe, werde ich mich an jenen Januarmorgen erinnern. Auf Wiedersehen, Kinder. Bis dann!"
Die "Holocaust-Waisen"
"Hintergrund, so Brechenmacher über den Film, "ist natürlich der Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden und in diesem Zusammenhang hat die katholische Kirche Hilfe geleistet für verfolgte Juden." Thomas Brechenmacher war einige Jahre Mitglied einer internationalen Kommission von christlichen und jüdischen Wissenschaftlern, die sich mit dem Thema der sogenannten "Holocaust-Waisen" in katholischen Institutionen befasst hat: "Als nach Beginn des Zweiten Weltkriegs sich die Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten verschärfte, die Weichen gestellt wurden in Richtung Judenmord, sind viele verzweifelte Eltern in den besetzten Ländern wie Frankreich und Polen auf den Gedanken gekommen, um wenigstens ihre Kinder zu retten, diese Kinder in kirchlichen Einrichtungen oder auch bei katholischen Familien abzugeben."
Klöster, Konvente, Pfarrhäuser, Internate öffnen ihre Pforten, um jüdischen Kindern Schutz zu bieten, ihr Überleben zu sichern, so Brechenmacher: "Die Größenordnungen sind schwierig zu bestimmen: jüdische Organisationen gehen davon aus, dass es sich etwa um 8000 bis 10 000 Kinder handelt, die auf diese Weise von ihren Eltern in die Obhut katholischer Einrichtungen gegeben wurden."
Viele dieser Kinder überleben so die Judenvernichtung. Sie behalten ihr Leben, doch sie verlieren oft ihre jüdische Identität. Denn ihre wahre Herkunft erfahren sie nicht. Noch Jahrzehnte nach Kriegsende machen sich Betroffene auf die Suche nach ihrer verlorenen Identität. Fast immer stoßen sie auf Schweigen. Doch Nachforschungen nach ihrem Schicksal hatte es gleich nach Kriegsende gegeben, sagt der Potsdamer Historiker:
"Nachdem die Alliierten in Europa voranmarschiert sind, waren in den Verbänden der Briten und der Amerikaner auch einzelne Truppen des noch nicht bestehenden israelischen Staates, also der vorstaatlichen israelischen oder zionistischen Organisation in Palästina. Und Soldaten dieser Truppen haben relativ bald nach der Eroberung der von Deutschland besetzten Gebiete damit begonnen, bei den örtlichen Behörden anzufragen, ob in einzelnen Institutionen Kinder versteckt oder gerettet worden waren. Das war eine Schiene; die andere Schiene lief offiziell über zionistische Politiker; also wir sprechen hier vom sogenannten 'Jischuw'. Der 'Jischuw' ist die Organisation, die dem Staat Israel voranging. Und Vertreter dieser vorstaatlichen Organisation haben relativ bald auch die Kontakte zum Vatikan aufgenommen."
Ein "Mantel des Schweigens"?
Doch diese Verhandlungen geraten oftmals ins Stocken. Immer öfter wird die Kirche beschuldigt, den Mantel des Schweigens über "diese Sache" zu breiten. Weil sie, so wird vermutet, vertuschen wolle, wie viele dieser Kinder damals getauft und von der Kirche "vereinnahmt" worden seien.
Für Aufregung sorgt 2004 ein Dokument des Vatikans, das in einem französischen Kirchenarchiv entdeckt worden war. Darin, so hieß es, seien Anweisungen an kirchliche Stellen enthalten, in der "Angelegenheit" der sogenannten "Holocaust-Waisen" möglichst nichts schriftlich zu fixieren und bei Fragen zu dem Thema stets zu erklären, dass die Kirche jeden Fall individuell untersuchen werde.
Der Historiker Thomas Brechenmacher hält die Bedeutung dieses Dokuments für überschätzt. Er verweist darauf, dass es sich bei diesem Schriftstück lediglich um die französischsprachige Zusammenfassung eines Papiers des "Heiligen Offiziums" handelt. Außerdem stelle es den Sachverhalt extrem verkürzt dar, denn:
"Inzwischen ist das Originaldokument aufgetaucht, nämlich diese Anweisung des Heiligen Offiziums. Die stammt von Ende September 1946 und stellt diese Dinge sehr ausführlich dar… Grundsätzlich hat damals schon der Papst dem Oberrabbiner von Palästina Herzog zugesichert, dass man sich in dieser Frage durchaus kooperativ verhalten werde - nur hat man eine gewisse Problematik gesehen, weil man festgestellt hat, es handelt sich ja nicht um eine homogene Masse von Kindern, sondern es gibt sehr viele individuell gelagerte Fälle. Deshalb war die erste Handlungsanweisung, zu sagen: dann können wir nur von einer Einzelfallprüfung ausgehen."
Auch die vielkritisierte "Anweisung zum Stillschweigen" deutet Brechenmacher anders: Das sei keine versuchte Vertuschungsaktion, sondern diplomatische Gepflogenheit:
"Indem man nämlich gesagt hat: Wenn Stellen des Heiligen Stuhls mit den zionistischen Politikern verhandeln, dann soll nach Möglichkeit hierüber keine schriftliche Aussage erfolgen. Was nicht bedeutet, dass gar keine Aussage erfolgt. Man hat gesagt, man gibt eine mündliche, aber keine schriftliche Auskunft. Und dann war tatsächlich die Frage: Was passiert mit Kindern, von denen kein Angehöriger sich mehr am Leben befindet, also jüdische Waisen? Und da konnte man wieder unterscheiden: solche Waisen, die bei ihrem jüdischen Glauben verblieben sind und solche die, aus welchen Gründen auch immer getauft worden sind."
Thomas Brechenmacher erinnert sich an den Fall eines Kollegen, des italienischen Historikers Sergio Minerbi:
"Was mich da immer bewegt ist, dass Minerbi auch einer derjenigen gewesen ist - er ist römischer Jude von Geburt - die in einem Konvent überlebt haben. Minerbi ist Jude geblieben; er ist bis heute ein scharfer Kritiker Pius‘ XII. Trotzdem erzählt er aber, dass er in seinem Orden niemals aufgefordert wurde oder mit Druck dazu bewegt werden sollte, Christ zu werden."
Verbot von Zwangstaufen
Was im Übrigen auch gegen die offizielle Linie Roms und die offizielle Linie des Kirchenrechts verstoßen hätte: "Wenn Sie den Kanon 750 des kanonischen Rechts von 1917 ansehen, dann ist dashier klar beschrieben worden: nichtchristliche Kinder, die noch nicht mündig sind, dürfen nur dann getauft werden, wenn direkte Lebensgefahr besteht oder wenn die Eltern zustimmen."
Wasserkrug und Taufbecken
Der Kindstaufe müssen die Eltern eigentlich zustimmen. Viele jüdische Waisenkinder wurden dennoch getauft (www.imago-images.de)
Von Papst Johannes Paul II. ist überliefert, dass sein Respekt vor dem Judentum so weit ging, dass er sich während seiner Zeit als Priester in den 1940er Jahren in Polen strikt weigerte, jüdische Kinder taufen zu lassen - auch wenn sie von katholischen Priestern gerettet worden waren. Und eine Note des vatikanischen Außenministers Domenico Tardini an Nuntius Roncalli vom 23. Oktober 1946 stellt klar, dass gerettete jüdische Waisenkinder sofort zurückzugeben seien, wenn sich leibliche Verwandte meldeten.
Dennoch bleibt unbestritten, dass es übereifrige Priester und Ordensleute gegeben hat, die missioniert und ohne viel Federlesens auch getauft haben. Etliche Kinder bekamen so neue, nichtjüdische Namen und erfuhren auch nach Kriegsende nichts von ihrer Herkunft, ihrer wahren Identität. Jede Erinnerung daran sollte ausgelöscht bleiben. "Sag niemals deinen - richtigen - Namen," war auch den Kleinsten unter ihnen immer wieder eingeschärft worden.
Nach Thomas Brechenmachers Forschungsergebnissen halten sich die Fälle forcierter Taufen und erzwungener Konversionen zahlenmäßig aber in Grenzen. Den Grund dafür sieht Brechenmacher im Trauma der Kirche nach der "Affäre Mortara": "Damit hat die Kirche so schlechte Erfahrungen gemacht, dass man sich in dieser Zeit der Dreißiger und Vierziger Jahre davor gehütet hat, so etwas noch mal anzuwenden. Das hat die allergrößten Verwicklungen hervorgerufen." Denn mit seiner Hartnäckigkeit im Fall Mortara bringt Papst Pius IX. damals die beiden katholischen Großmächte Frankreich und Österreich gegen sich auf. Sie appellieren an ihn, den kleinen Edgardo umgehend seinen jüdischen Eltern zurückzugeben. Der Pontifex lehnt ab: "Roma locuta - Causa finita!"
Dieses Machtwort des Papstes, seine empathielose Haltung und seine scheinbare Unfähigkeit, politisch zu denken, befeuern den Antiklerikalismus in vielen europäischen Ländern. Die liberale Presse prangert die katholische Kirche an: als reaktionär, absolutistisch und menschenfeindlich, erklärt der Historiker Rudolf Lill:
"Alle Liberalen sagten: Da seht doch nun, zu einem Kindesraub ist der Papst bereit, wenn es um seine Lehren geht. Da sieht man doch, dass diese Papstkirche antimenschlich, antiliberal handelt, wenn es um ihre Macht geht. Ein ungeheures Faktum. Und es fiel in eine Zeit, in der die autoritäre Defensive des Papsttums sich radikal gegen den Liberalismus und gegen die Moderne insgesamt wandte, in einer Zeit, in der der Kirchenstaat in seine letzte Krise geraten war. Der Fall Mortara wurde als Symptom für die Rückständigkeit und die Borniertheit des römischen Papsttums bezeichnet."
Seinen Weg in den Schoß der Kirche hat Edgardo Mortara laut eigener Aussage nie bereut. In seinem Orden macht er als beliebter Prediger und Seelsorger Karriere. Er wird Theologieprofessor. Lange wirkt er im Kloster Neustift bei Brixen in Südtirol. Während der NS-Zeit schicken ihn seine Ordensoberen nach Belgien, um ihn vor den Nationalsozialisten zu schützen: "Denn nach den Gesetzen des Dritten Reichs war er ja ‚Volljude‘," sagt Lill.
Im Alter von fast 90 Jahren ist Edgardo Mortara gestorben, im Jahr 1940.
Im Sommer 2009 nahm der Vatikan die Ermittlungen zum Schicksal der jüdischen "Holocaust-Waisen" wieder auf. Anlass war die geplante Reise Papst Benedikts XVI. nach Israel. In einem persönlichen Brief forderte der Rabbiner Shalom Dov Lifshitz, Chef der israelischen Anti-Missionierungsorganisation "Yad Leachim", das Kirchenoberhaupt auf, Namen und Auskünfte zum Schicksal der jüdischen Waisenkinder freizugeben. Der damalige Apostolische Nuntius in Israel, Erzbischof Antonio Franco antwortete, der Heilige Stuhl sei "in dieser Angelegenheit aktiv" geworden und werde sich um weitere Informationen bemühen. Darauf folgte, offenbar bis heute - Schweigen. Von weiteren Nachforschungen wurde nichts bekannt.
Doch Thomas Brechenmacher ist zuversichtlich, dass es neue Impulse und Erkenntnisse zu diesem Thema geben wird, weil im März 2020 die vatikanischen Archive zum Pontifikat Papst Pius XII. geöffnet wurden.
Zu spät für Dorota Szalajka, die 1942 als Zweijährige in einem katholischen Waisenhaus im polnischen Lublin abgegeben wurde und später in ihren Papieren nur den Eintrag fand: "Name unbekannt." Die Folge für sie: "Ich werde immer nur ‚Name unbekannt‘ sein". Ich weiß nichts über mich und das wird sich auch nie ändern," notierte sie.
2016 ist Dorota Szalajka gestorben.