Die Geschichte der Medizin in Europa ist auch eine jüdische Geschichte. Denn jüdische Ärzte waren hier jahrhundertelang überrepräsentiert – im Vergleich zum jüdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung.
"Dadurch, dass die Juden in Europa sehr lange bestimmte Berufe nicht ergreifen durften, haben sie eher diese liberalen Berufe genommen - so wie Mediziner und so weiter. Da heißt, wir haben einen enormen Einfluss von jüdischem Denken in der Geschichte der Medizin in Europa", sagt Liliana Ruth Feierstein.
Sie ist an der Berliner Humboldt-Universität Professorin für die transkulturelle Geschichte des Judentums. Im laufenden Wintersemester organisiert sie am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien eine digitale Ringvorlesung mit dem Titel "Plage und Krankheit".
"Juden hatten unter Seuchen immer stark zu leiden"
Anlass ist die Plage unserer Tage, die Corona-Pandemie. Und Hintergrund sind die vielen Plagen und Seuchen, von denen Jüdinnen und Juden im Laufe der Geschichte gewissermaßen doppelt betroffen waren. Liliana Ruth Feierstein weist darauf hin, dass "jüdische Leute immer unter Seuchen und Pandemien und dergleichen ziemlich zu leiden hatten. Das heißt, dass normalerweise solche Krisen auch zu Gewalt führen."
Epidemien waren für die jüdische Minderheit also nicht nur eine gesundheitliche Gefahr, sondern auch eine gesellschaftliche. Das sagt auch der Medizinhistoriker Robert Jütte. Er leitete bis vor Kurzem das Institut für Geschichte der Medizin in Stuttgart und ist Experte für jüdische Medizingeschichte.
Jütte betont, "dass man natürlich jüdischen Medizinern immer den Vorwurf gemacht hat, sie würden Krankheiten in die Welt setzen. Also vom Brunnenvergiftungsvorwurf bis hin zum Vorwurf, dass man die Cholera auch verbreitet hat, die Syphilis."
Hohe Sterberaten in den Ghettos
Und nicht nur über jüdische Ärzte erzählte man sich solche Lügen. Auch die ärmere jüdische Bevölkerung wurde für Seuchen verantwortlich gemacht.
Robert Jütte: "Diese Armen sind natürlich auch zum Teil als Wanderhändler durch die Gegend gezogen und galten damit natürlich ganz schnell als Verbreiter von todbringenden Seuchen."
Dabei blieb der Großteil der europäischen Juden in den Schtetln und Ghettos meist unter sich – und hatte dort unter Seuchen teils besonders stark zu leiden. Jütte:
"Wir wissen aus den Untersuchungen, die wir zu Ghettos des 16. Jahrhunderts haben - ob das nun Venedig ist des 17. Jahrhunderts oder Rom insbesondere -, dass zum Teil unter diesen beengten Bedingungen in den Ghettos die Sterberate noch höher war in Pestzeiten als unter der christlichen Bevölkerung. Aber das wird natürlich von den Zeitgenossen ignoriert", sagt Jütte.
"Das klassische Muster der Brunnenvergiftung"
Und so ziehen sich die antijüdischen Mythen aus der Antike durch das Mittelalter und die Neuzeit bis ins Heute.
Jütte: "Bei Corona, da sind die Verschwörungstheorien, die praktisch nach dem klassischen Muster der Brunnenvergiftungsthese funktionieren, wieder absolut vorhanden."
Antisemitische Verschwörungsgespinste haben Konjunktur, seit das Coronavirus die Welt in Atem hält. Juden hätten es entwickelt, Juden würden sich daran bereichern, Juden würden dadurch ihre angebliche Macht vermehren. Varianten dieser Mythen finden sich derzeit in vielen Ländern der Erde.
Antisemitische Ressentiments gegenüber der Medizin
Und die ebenfalls recht weit verbreiteten Vorbehalte gegenüber der Medizin – etwa gegenüber der Virologie oder Impfungen – auch sie haben mit Antisemitismus zu tun, sagt Liliana Ruth Feierstein, eben weil die westliche Medizin von Juden wesentlich mitgeprägt worden ist: "In der Tat vermischt sich das mit Ressentiments gegenüber Medizin und Moderne, die dann genau in diesen Querdenker-Demos und woanders auch zu finden sind."
"Ein Medizinnobelpreis nach dem anderen"
Die Berliner Ringvorlesung zu jüdischen Perspektiven auf die Pandemie befasst sich aber nicht nur mit Judenfeindschaft und Antisemitismus, sondern sie hat auch die konstruktive Seite im Blick: die jüdischen Beiträge zu den medizinischen Errungenschaften der Menschheit. Robert Jütte weist mit Blick auf jüdische Ärzte und Wissenschaftler darauf hin, "dass sie im 20. Jahrhundert einen Nobelpreis - Medizinnobelpreis nach dem anderen abräumen, wichtige Diagnoseinstrumente entwickeln und auch Heilmittel."
Und der Medizinhistoriker schaut in der jüdischen Geschichte auch noch deutlich weiter zurück:
"Das fängt schon mit der Bibel an, wo man empfiehlt, bei Krankheiten nicht nur Gott anzurufen, sondern zum Arzt zu gehen. Während das Christentum lange Zeit noch Christus nicht nur als Erlöser, sondern auch als Medikus, als Arzt empfohlen hat."
Tora: Abstandhalten und Händewaschen
Frühes medizinisches Wissen, das bis heute etwas taugt, entdeckt Robert Jütte nicht nur in der Bibel, sondern auch im Talmud, einer weiteren zentralen Schrift des Judentums. Der Talmud versammelt wichtige rabbinische Lehrmeinungen und Auslegungen.
"In der Tat finden sich, wenn man sich den Talmud anschaut, ganz verblüffende Erkenntnisse, weil viele dieser Talmudgelehrten natürlich auch in der Praxis Ärzte waren oder zumindest medizinisch tätig waren aufgrund ihres Wissens", so Jütte.
Und dieses Wissen kann teils auch heute noch Leben retten, unter Corona-Bedingungen, sagt der Arzt Stefan Probst.
"Abstandhalten und Händewaschen - das sind zwei Regeln, die wir im Talmud und in der Tora finden, wenn Krankheiten grassieren, die offenbar ansteckend sind, wie wir uns davor schützen müssen."
Stefan Probst ist leitender Oberarzt am Klinikum Bielefeld. Außerdem schreibt er Bücher und Artikel, in denen es um Judentum und Medizin geht, besonders um jüdische Medizinethik. Natürlich hat Stephan Probst im Arztkittel nicht immer Tora und Talmud dabei, aber er beziehe daraus: "die Grundhaltung, mit der man Heilkunde betreibt, oder als Mensch auch agiert und denkt."
Der Krankenbesuch als jüdisches Gebot
Bei der Berliner Ringvorlesung sprach Stephan Probst unter anderem über einen zwischenmenschlichen Vorgang, der in der Corona-Pandemie zu einer großen Herausforderung geworden ist: über den Krankenbesuch: "Nach jüdischer Vorstellung", so Probst, "ist es eine Mizwa, also ein Gebot im jüdischen Religionsgesetz, also eine Verpflichtung, Kranke zu besuchen." Der Grund dafür: Man geht davon aus, dass Besuche den Kranken guttun, ihr Leid mindern und so dazu beitragen können, dass sie wieder gesund werden: "Diese Leidminderung als Akt der Nächstenliebe ist ein jüdisches Gebot."
Man darf keine Leben aufs Spiel setzen
Ein Gebot allerdings, das auch Grenzen kennt – wie alle Gebote im Judentum. Nämlich dann, wenn man durch den Krankenbesuch das eigene Leben gefährden würde oder die Leben anderer.
"Andere zu retten und sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, das ist jüdisch nicht geboten. Und je nachdem, wie groß die realistische Gefahr für den Besucher ist, muss man da zu pragmatischen und guten Entscheidungen kommen. Und da wird man - das ist auch typisch jüdisch - die gesamten Möglichkeiten ausschöpfen. Mit Skype, mit Zoom und Besuchen am Fenster. Die Kunst ist da wirklich, die richtige Mitte zu treffen", so Probst.
Seuchen als Strafen Gottes?
Manche alten jüdischen Gebote machen also auch nach dem heutigen Stand der Forschung noch Sinn: Abstand halten, Hände waschen, Kranke besuchen – aber nur, wenn man dadurch niemanden gefährdet. Die Bibel kennt ja aber auch noch eine andere Interpretation von Krankheit und Plage, eine die bis heute bei manchen Menschen verfängt – etwa in fundamentalistischen jüdischen, christlichen oder muslimischen Milieus: Seuchen als Strafen Gottes für die Verfehlungen der Menschen.
Der jüdische Arzt Stephan Probst weiß, dass Krankheiten und Plagen wie Corona keine Strafen Gottes sind, trotzdem entdeckt er in dieser biblischen Tradition auch etwas Wahres:
"Man denkt aus moderner Sicht: Das ist sehr primitiv und ein sehr vereinfachtes Denken. Aber wenn wir darüber nachdenken, was menschliches Tun in Hinblick auf den Klimawandel, auf die Entstehung von Pandemien durch unsere Art, wie wir in der Tierhaltung mit den Tieren umgehen, bewirkt, sind all diese Naturkatastrophen und Pandemien Folgen unseres Tuns. Und insofern können wir das verstehen und damit in Zusammenhang bringen und sind damit gar nicht so weit entfernt von den Erklärungen, die die Menschen in früheren Generationen für völlig unerklärliche Phänomene hatten."
"Strafe Gottes" bedeutet nach dieser Interpretation also in etwa: eine Folge menschlicher Handlungen.
Lockdown: Leben retten geht vor
Weniger strittig ist im Judentum das Prinzip "Pikuach Nefesch". Die Berliner Ringvorlesung zu jüdischen Perspektiven auf die Corona-Pandemie kommt darauf immer wieder zu sprechen. Denn "Pikuach Nefesch" ist ein zentraler Begriff aus der Halacha, den jüdischen Religionsgeboten, und heißt aus dem Hebräischen übersetzt in etwa: "Wachen über die Seele".
"Das bedeutet, dass das Leben das Wichtigste von allem ist. Das heißt zum Beispiel, dass es im Judentum erlaubt ist, alle Schabbat-Regeln - also am Samstag die ganzen Verbote und Gebote, die auch sehr kompliziert sind und so weiter - man kann alles aufheben, um ein Leben zu retten. Oder sogar, wenn der Verdacht besteht, dass man dadurch ein Leben retten könnte. Dann ist einfach alles erlaubt, um dieses Leben zu retten. Dann muss man alles auf der Seite lassen," erklärt Liliana Ruth Feierstein, Professorin für die transkulturelle Geschichte des Judentums. Für die Organisatorin der Ringvorlesung ist unstrittig, was das Prinzip "Pikuach Nefesch" bedeutet, wenn man es auf die aktuelle Situation anwendet:
"Wir haben natürlich jetzt in der Pandemie die ganze Diskussion: Was ist mit der Wirtschaft? Was ist mit Bildung? Was ist - und da wäre, glaube ich, schon die jüdische Sicht sehr klar: erst mal Leben retten, und danach kommen alle anderen Diskussionen."
Impfen als moralische Verpflichtung
Aus jüdischer Perspektive ließe sich also schlüssig für einen stärkeren Lockdown argumentieren. Und auch in einer anderen Frage ist die jüdische Sicht ganz klar, sagt der Bielefelder Oberarzt Stephan Probst: in der Diskussion über Impfungen gegen das Coronavirus. Das Impfen kann wohl bald beginnen, wird aber nicht verpflichtend sein.
Probst: "Aus jüdischer Perspektive gibt es dann eben doch eine moralische Verpflichtung, weil das Leben einen so hohen, immensen Wert hat - und nicht nur das Leben des Eignen, auch das Leben der Anderen. Dieses Leben zu verlängern, kostet auch Opfer. Aber das Risiko, das mit einer Impfung verbunden sein könnte, ist aus jüdischer Sicht noch nicht ausreichend, um zu sagen: ‚Ich will das nicht‘. Sondern ich bin moralisch verpflichtet, das zu tun, um Leben zu retten und Leben zu bewahren."
Wenn ein jüdischer Arzt sich so klar fürs Impfen ausspricht, dann werden die meisten das als legitimen Debattenbeitrag verstehen. Aber manche werden sicher auch mit antisemitischen Reflexen reagieren, von Impfzwang und Verschwörung sprechen. Denn das Judentum hat mit Epidemien eben oft im doppelten Sinne zu kämpfen: mit der Seuche selbst, aber auch mit der Seuche namens Antisemitismus.
Die Ringvorlesung findet immer donnerstags über Zoom statt. Der Zugang wird nach Anmeldung zugesandt. Weitere Infos hier.