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Jüdische Spurensuche

3000 Jahre Geschichte, ein erzählerischer Streifzug, der sich über fünf Kontinente erstreckt. Passt das alles auf nur 374 Seiten? Zumal es sich um die Geschichte des Judentums handelt. Ein Münchner Historiker hat den Versuch unternommen. Im Zentrum des Buchs steht die Suche nach Spuren. Nach Spuren, die das Judentum in den Kulturen der Völker aller Kontinente hinterlassen hat.

Von Günther B. Ginzel |
    In kaum einer anderen Religion spielt die Geschichte, die Erinnerung an eine lange, wechselvolle Vergangenheit, deren Spuren bis in die Gegenwart reichen, eine solch zentrale Rolle wie im Judentum. Ob Judentum nun als Religion, als Kultur, als Volk oder als Schicksalsgemeinschaft verstanden wird, das, was verbindet, prägt, zusammenhält, ist die Erinnerung: Geschichtliche Erfahrungen und deren Deutungen, die einen wesentlichen Teil jüdischer Identität prägen - und das seit über 3000 Jahren.

    Die Bibel selbst wird ja als ein Buch der Geschichte verstanden, das in oft schmerzlicher Klarheit Höhen und Tiefen, Erwählung und Abfall, Heldenhaftes und Verbrecherisches schildert. Die Geschichte - im Judentum wird sie auch als Lehrmeister verstanden für ein richtiges Tun im Alltag von Heute.

    Das macht, sicher nicht nur für Juden, ein Buch über jüdische Geschichte so spannend - und folglich dürften in wohl keinem Bücherschrank eines jüdischen Hauses Werke zur Geschichte fehlen. Wenn sie umzogen oder vertrieben wurden, begleiteten sie diese Bücher. Mein erstes großes Geschichtswerk kaufte ich als Student in Jerusalem. Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Erschienen im Jüdischen Verlag, Berlin, 1925. Die zehn Bände dieses Werkes waren von Berlin nach Prag gewandert, von dort nach Budapest und gelangten mit ihrem Besitzer Anfang der dreißiger Jahre zurück nach Berlin, um alsbald zum Fluchtgepäck zu gehören - dass in einem Kibbuz bei Haifa wieder ausgepackt wurde. Drei Jahrzehnte später entdeckte ich es in einem Antiquariat in Jerusalem. Ein Geschichtsbuch das selbst ein Stück Geschichte spiegelt.

    Dabei ist zu bedenken, dass

    die Geschichte der Juden zu erzählen, nicht einfach ist, weil Menschen in allen Teilen der Erde nicht nur irgendetwas über Juden gehört, sondern auch irgendeine Meinung zu ihnen haben.
    Das schreibt einer, der es gerade unternommen hat, eine, so wörtlich: "Kleine jüdische Geschichte" zu schreiben.

    Für eine Gruppe, die niemals mehr als 1 Prozent der Weltbevölkerung ausgemacht hat, mag (solch ein Interesse) keine geringe Ehre sein. Für den Historiker erschwert es den notwendig distanzierten Blick, wenn von Juden als dem Volk Gottes oder von den Gottesmördern die Rede ist, wenn der (Staat) Israel als Bastion der Zivilisation inmitten einer Welt der Barbarei gepriesen wird, als brutales Regime inmitten einer friedliebenden Welt verdammt wird.
    Daher ist die Frage, wer ein solches Buch schreibt, mit welchem Blick und mit welchem Hintergrund durchaus wichtig. Denn die Auswahl, der notwendige Zwang zur Konzentration, v.a. bei einem Buch von knapp 400 Seiten, wo andere locker einige tausend schafften. Wer also ist unser Autor? Er heißt Michael Brenner, geboren 1964, Historiker, Inhaber des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der Münchner Uni. Und er ist selbst Jude, Sohn von Überlebenden der Schoa, aufgewachsen in Bayern. Das zu wissen, relativiert keineswegs den Wert seines Buches. Im Gegenteil. Man begreift den Autor besser, die Wärme seiner Schilderungen, die Deutlichkeit seiner Kritik, das immer wieder aufblitzende Augenzwinkern. Da schreibt einer auch über sich selbst, über seine eigenen Wurzeln. Denn es gibt keine wirkliche Neutralität, wenn man jüdische Geschichte reflektiert.

    Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wird die Geschichte der Juden immer wieder anders erzählt. Der erste Historiker,"

    der eine Geschichte der Juden verfasste,

    war ein französischer Hugenotte. Wie viele andere christliche Autoren nach ihm wollte er zeigen, dass das Exil der Juden eine göttliche Strafe dafür war, dass die Juden den wahren Glauben, nämlich das Christentum, nicht erkannten.
    Jüdische Geschichte von der Zeit des frühen Mittelalters an ist für andere, wie den katholischen Historiker, Friedrich Heer, vor allem eine christliche Schuldgeschichte, die Schoa, die Vernichtung der Juden im Dritten Reich, eine Folge eben dieser christlichen Feindschaft.

    Ein moderner Jude, wie Michael Brenner, verspürt wenig Lust, diese Kämpfe der Vergangenheit weiter auszufechten. Er schreibt keine Holocaustgeschichte, auch keine verklärte Heilsgeschichte. Wohl aber kann man sein Buch als eine faszinierende Familiengeschichte lesen. Denn bei aller Unterschiedlichkeit, Gegensätzlichkeit, die sich unter Juden im Laufe der Zeit herausgebildet hat, etwas von allem lebt auch in ihm als Erbe, als Herausforderung, weiter. Und wie alle anderen, ob Juden oder Nichtjuden, wählt er seinen eigenen Ansatz zur Darstellung und Deutung dieser Geschichte:

    Der rote Faden, der sich durch dieses Buch zieht, ist die Migration. Juden waren nicht immer auf der Wanderschaft, aber Wanderschaft hat die jüdische Geschichte über sämtliche Epochen und Kontinente hinweg charakterisiert.
    Seine Kapitelüberschriften sind Programm:

    - Von Ur nach Kanaan. Ein Volk auf Wanderschaft.
    - Vom Hebräischen ins Griechische: Verachtung und Bewunderung
    - Von Medina bis Bagdad: Unter islamischer Herrschaft.
    - Von Dessau nach Berlin: Landjuden, Hofjuden und Aufklärer.

    Damit das alles nicht zu abstrakt wird, leitet er jedes Kapitel mit einer kleinen Geschichte ein.

    Die Geigerinnen kamen aus Belgien, Ungarn und Griechenland, die Cellistin aus Deutschland, die Akkordeonspielerin aus Holland.
    So beginnt er das Kapitel: Von überall nach Auschwitz.

    Aus allen Teilen Europas waren diese jungen Frauen in das Vorzimmer des Todes verfrachtet worden. Sie gehörten zum Mädchenorchester von Auschwitz, das im Anblick des Massenmordes bei Ein- und Ausrücken der Arbeitskommandos musizierte, Sonntagskonzerte für die SS-Mannschaft gab, einmal sogar vor Heinrich Himmler spielen musste.
    So wird das historisch Abstrakte, werden Zahlen und Fakten heruntergebrochen auf das Menschliche. Dank dieser exemplarischen Miniaturen werden die nachfolgend nüchtern geschilderten Epochen nachvollziehbar als ein von Menschen gemachtes, gestaltetes, erlebtes, durchlittenes Kapitel, das in seiner Summe das ausmacht, was wir Geschichte nennen.

    Ein Buch, kurzweilig zu lesen, in dem es viel zu entdecken gibt: Empfehlenswert.

    Günther B. Ginzel war das über Michael Brenners "Kleine jüdische Geschichte". Das Buch ist bei Beck erschienen, hat 374 Seiten und kostet 25 Euro 60.