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Jüdischer Alltag und die langen Schatten der Vergangenheit

Judith Herzberg ist auch Lyrikerin. Vielleicht beherrscht sie deshalb die Kunst des Weglassens so perfekt. Die Dramen der 1934 in Amsterdam geborenen Autorin sind ein solitäres Vergnügen in einer Stücke-Landschaft, in der sich der forcierte Ausdruckswille einer jüngeren Generation mit feuilletonistischer Geschwätzigkeit in eher undramatischen "Textflächen" manifestiert. Herzberg hält es mit ihren Figuren, und sie hält sie aus: Als holländische Jüdin, deren Eltern die Deportation ins KZ Bergen-Belsen überlebten, hat sie mit "Leas Hochzeit", "Heftgarn" und "Simon", letzteres war auch schon eine Auftragsarbeit des Düsseldorfer Schauspielhauses, eine Art jüdischer Familiensaga entworfen, in deren wie hingetupften leichten Szenen die Vergangenheit irrlichternd aufblitzt: In fast hysterischer Angst der zweiten Generation, wenn ein Kind mal zu spät nach Hause kommt, in ihrer Bindungsunfähigkeit, in Schuldfragen, die spät angesprochen und nie geklärt werden.

Von Karin Fischer |
    Auch in ihrem neuen Stück "Vielleicht Reisen" entwickelt Judith Herzberg in enger Zusammenarbeit mit Schauspielern und Regisseur die Figuren aus kleinsten Dialog-Szenen. Wieder bleibt fast immer fast alles ungesagt, für den Zuschauer entsteht gerade dadurch eine vieldimensionale Welt im Kopf. In zwei wie filmisch gegeneinander geblendeten Erzählsträngen gibt es auch wieder Anspielungen auf eine unbewältigte historische Vergangenheit; diesmal wirft ein "großer Abwesender" riesige Schatten. Es ist Arthurs Zwillingsbruder, der sich vor kurzem umgebracht hat, woran Arthur sich mitschuldig wähnt, weshalb sein Freund Ricky ihn mit auf eine Reise nach Rumänien schleppt, um ihm abzulenken, was vielleicht doch keine so gute Idee war:

    Arthur und Rickie: Die Reise muss dich gar nichts kosten! - Du weißt gar nicht, was mich diese Reise kostet!

    Der etwas strapazierte Topos - eine Reise als Seelentrip in die Vergangenheit - ist bei Herzberg eine Begegnung zweier völlig unterschiedlicher Charaktere mit viel Trenn- und Tiefenschärfe. Regisseur Peter Hailer und seine Schauspieler aber machen aus den Figuren nur grobe Klötze, die trotz aller übertriebenen Gestik nicht mehr als hölzerne Dialoge auf die Bühne bringen. Die tragikomische Dimension der Geschichte wird so komplett verspielt, dass die Zuschauer Holper- und Stolperpantomimen in rumänischen Ferienorten komisch finden müssen. Schade.

    Im Zentrum der Inszenierung, auf einem mit Linoleumparkett bezogenen erhöhten spitzwinkligen Dreieck, stehen aber drei Frauen: Die Sängerin Madeleine, die sich mit eisenharter Schale abgeschottet hat von allem was war; Hilde, ihre Assistentin und Lebensgefährtin, die das in gelassener Bewunderung erträgt und Madeleines Tochter Gwen, die zu Besuch gekommen ist und von ihrem neuen Freund erzählt, der für die Mutter - nicht zum ersten Mal und nicht zufällig - der falsche ist. Ein viel zu alter Mann, der vor langer Zeit für sechs Jahre im Gefängnis saß. Was damals passiert ist, bleibt auf der Bühne unausgesprochen, nur dass Madeleine "Erpressung" nennt, was Gwens Leben plötzlich einen Sinn zu geben scheint, deutet an, dass die Lebensgeschichte der beiden Frauen wieder um einen nicht ausgesprochenen, geheimen, verdrängten Kern kreist. Der jede Kommunikation überschattet, ja scheitern lässt.

    "Vielleicht Reisen" ist ein Stück über misslingendes Verstehen und falsche Fragen, über Freundschaft und wie viel gemeinsame Geschichte dafür nötig ist, über zufällige Schnittmengen von Lebensgeschichten und darüber, dass es keinen Zufall gibt. Für die Angehörigen von Überlebenden - egal, ob es sich um die Überlebenden einer chilenischen Diktatur oder des Holocaust handelt - gibt es keine Normalität, nur die Unausweichlichkeit von Katastrophen, mit denen man zu leben lernt, im Zweifel, indem man das Radio ausschaltet. Die riesige schlingpflanzenähnliche Zimmeraralie im hinteren Bühneneck ist ein starkes, überdeutliches Symbol für Judith Herzbergs Lebensthema und charakterisiert auch diese Aufführung. Das Attribut "stark" gehört dabei eindeutig den Frauen.