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Jüdischer Professor
Zu Besuch bei Rechtsextremen

Sich als Jude mit jungen Neonazis zusammenzusetzen, dürfte einiges an Überwindung kosten. Reinhard Schramm tut es dennoch. Er ist Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen und besucht in seiner Freizeit Straftäter oder Jugendliche mit explizit rechter Gesinnung, um Vorurteile abzubauen.

Von Blanka Weber | 16.09.2015
    Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, in einer Synagoge, in die Kamera lächelnd, den Arm auf eine Bank gestützt
    Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen (dpa/picture alliance/Michael Reichel)
    Es ist kurz nach neun Uhr. Reinhard Schramm betritt die Jugendarrestanstalt nahe Arnstadt in Thüringen. Ein leichtes Nicken zum Wachdienst, man kennt ihn hier, den Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Seit etwa zehn Jahren besucht er meist jugendliche Häftlinge, um über seine Familie und seine Religion zu erzählen. Er kommt aber auch, um zuzuhören, wenn andere an ihn Fragen haben. Stühle werden gerückt, noch ist Unruhe im Raum. Wer rechter Gesinnung ist, zeigt das nicht unmittelbar, das weiß Reinhard Schramm. Er bietet allen den Dialog an.
    "Was könnte Ihnen das vielleicht sogar helfen, weil Sie heute mit Ihren Kumpels draußen diskutieren und sprechen über solche Probleme."
    Ein junger Mann meldet sich zu Wort. Auch er kenne Fremdenfeindlichkeit. Sein Rezept:
    "Wenn ich so was sehe, würde ich am liebsten nur draufhauen. Weil es sinnlos ist."
    Reinhard Schramm schüttelt den Kopf, er sei nicht hergekommen, erklärt er, um zum 'Draufhauen' zu ermuntern. Er versucht, mit Argumenten und Blickkontakt im Gespräch zu bleiben. Die kleine Gruppe junger Männer, die im Raum sitzt, besteht aus sehr unterschiedlichen Jugendlichen. Jeder bringt seine eigene, meist traurige Geschichte mit - sagt die Leiterin der Anstalt, Anja Klameth:
    "Das sind Jugendliche, die zum großen Teil aus sehr komplizierten Elternhäusern kommen, die nicht so eine klassische Laufbahn hinter sich haben, wie man sich das für ein Kind oder einen Jugendlichen wünscht."
    Alkohol, Drogen, verkrachte Familien oder eben die falschen Freunde seinen oft die Ursache für das Abdriften der Jugendlichen. Auch der Anteil von fremden- und judenfeindlichen Gesinnungen sei hier im Gefängnis höher als im gesellschaftlichen Durchschnitt.
    "Also, man sieht es häufig an der Kleidung, an den T-Shirts, die die Jugendlichen dann tragen, die nicht so ganz in Ordnung sind. Die dürfen so was hier natürlich nicht tragen. Wir sortieren das schon bei der Aufnahme aus. Und manchmal geht eben doch was durch. Wenn wir es dann sehen, dann müssen sie das abgeben. Man sieht es auch an Tätowierungen, die sie tragen. Das müssen sie alles abkleben – das dürfen sie hier nicht offen tragen oder sie müssen eben lange Kleidung tragen. Und ansonsten merken man das einfach im Gespräch."
    Schramm redet auf Augenhöhe
    Die persönlichen Erfahrungen jedes einzelnen jungen Mannes kennt Reinhard Schramm nicht. Nur so viel weiß er: Jeder könnte ein potenzieller Straftäter sein. Genau da will er ansetzen, will sensibilisieren und Vorurteile abbauen:
    "Und mein Anliegen ist es, ein Stück Wissen quasi zu vermitteln aus meiner natürlich auch begrenzten Sicht. Aber ich denke, das kann helfen, etwas immun zu werden gegen zumindest rechtsextremistische Propaganda, die ja oft sehr schmerzlich sein kann."
    Er holt tief Luft, zeigt auf ein Buch. Es ist die Biografie seiner Familie, die Geschichte seiner Mutter - die fast die gesamte Familie im Holocaust verloren hat und in Weißenfels mit ihrem kleinen Sohn überleben konnte. Reinhard Schramm schildert, was er weiß, erzählt von den Dokumenten, die er heimlich verwahrt in einer Kiste im Kleiderschrank seiner Mutter fand, berichtet von dem einstigen Tabu, in der Familie über Krieg und Judenvernichtung auch nur zu reden.
    Gespannt und konzentriert hören die Jugendlichen zu. Reinhard Schramm redet auf Augenhöhe, er schildert die Schicksale, ohne belehrend zu wirken, fordert nicht heraus, sondern sucht immer wieder den Dialog und den Augenkontakt.
    Warum er das mache, wird er gefragt. Und erzählt vom traurigen Anlass, dem Brand der Synagoge im Jahr 2000, in Erfurt.
    "Ich ging zu dem Brandstifter ins Gefängnis. Und ich fragte ihn: Warum haben Sie etwas gegen Juden? Da sagt er, der wirklich sehr traurig da saß in seinem Gefängnis, und sicher auch schon bereute, was er getan hatte - also, sagt er: Die Juden, so sagten es die Leute, sind unser Unglück! Für mich war das natürlich fast grotesk. Ich sagte: Wie kann ich dein Unglück sein? Kannst du mir das mal erklären? So wie meine Großmutter nicht das Unglück war."
    Kleine Erfolgserlebnisse
    Der junge Neonazi war der Ausgangspunkt für Reinhard Schramm, mehr mit genau diesen Jugendlichen zu arbeiten. Es gehe nicht darum, sagt er immer wieder, nur über die Geschichte zu reden, über die Toten des jüdischen Volkes zu reden, sondern in eine gemeinsame Zukunft zu schauen.
    "Bildung hilft auch gegen Rechtsextremismus; und das ist der Hauptgrund, dass ich hier bei Ihnen bin, dass ich denke, es ist nicht ganz umsonst, dass ich sage, wie es in der Zeit war, dass sich diese Zeiten nicht wiederholen. Sie würden sich nicht auf gleicher Weise wiederholen, aber ich möchte, dass auch nichts Ähnliches sich wiederholt."
    Mit manch einem Neonazi hat er lange Gespräche geführt. Was ihn motiviert: die kleinen Erfolgserlebnisse, die Hoffnung, dass jene Gesprächspartner hinter Gittern, nicht noch einmal aufgrund von Fremdenfeindlichkeit da landen, wo sie jetzt Reinhard Schramm gegenüber sitzen.
    Im Jugendarrest gibt es spezielle Trainings, um künftig draußen sensibler zu sein, gewappnet mit Wissen und Argumenten. Dennoch, sagt die Anstaltsleiterin, manch einen würde man schon bald wieder sehen hinter Gittern.
    "Die Jugendlichen kommen ja mit einer ganzen Reihe von Problemen, mit einem ganzen Leben voller schlechter Erfahrungen; und das ist jetzt nicht durch ein Training auszubügeln, aber es ist ein Anfang, den wir setzen können. Wir versuchen, uns dann auch nicht entmutigen zu lassen, wenn die Jugendlichen dann wiederkommen, sondern fangen eben neu an, setzen dort an, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben. Das ist unser Job, und alles andere wäre unrealistisch."
    Die Türe schließt sich hinter Reinhard Schramm. Bald wird er wiederkommen, um als Jude zu helfen, Vorurteile gegen Fremde und Fremdes abzubauen.