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Jüdisches Neujahrsfest
"Ich lebe gerne als Jude in Deutschland"

Am Sonntagabend beginnt eines der höchsten Feste des Judentums: Rosch Haschana. Dann wird vor Gott Rechenschaft abgelegt, man geht in die Synagoge und wünscht sich ein süßes Jahr. Was ist süß, was ist bitter für Juden in Deutschland? Und: Wie passt der Tag der Deutschen Einheit zu diesem Fest? Der Journalist Gerald Beyrodt erzählt, wie er Rosch Haschana feiert.

Gerald Beyrodt im Interview mit Christiane Florin | 30.09.2016
    Erik Lehmann, der Schofarbläser der neuen Münchner Ohel-Jakob-Synagoge, zeigt am Montag (10.09.2007), wie am jüdischen Neujahrsfest Rosch haSchana das Schofarhorn geblasen wird. Rosch Haschana (Anfang des Jahres) ist das jüdische Neujahrsfest.
    Innenraum der Ohel-Jakob Synagoge: Kultusbeamter Eric Lehmann bläst das Schofar (Widderhorn) zum jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana (dpa / picture alliance / Robert B. FishmanFrank Mächler)
    Christiane Florin: Von diesem Sonntag an feiern Juden eines der höchsten Feste: Rosch Haschana, das Neujahrsfest. Es ist, anders als Silvester, kein Anlass für Parties. Es geht darum, Rechenschaft abzulegen. Kann man überhaupt von feiern sprechen?
    Gerald Beyrodt: Ich würde schon sagen, dass man feiern dazu sagen kann. Das Fest hat einen ernsten Hintergrund. Sie haben es genannt: Gott hält über die Welt Gericht, man bittet um Vergebung. Aber es ist auch ein optimistisches Fest. Man kann moralisch gut sein, denken Juden. Und wir feiern das auch mit jeder Menge Essen, wie übrigens fast alle jüdischen Feiertage. Es gibt diesen jüdischen Spruch, jüdische Feste funktionieren nach dem Prinzip: Sie haben uns geschlagen, wir erinnern uns, lasst uns essen. Und so ist es auch bisschen an Rosch Haschana. Also geschlagen worden sind wir da nicht, aber es gibt ein Festmahl zu Hause nach der Synagoge oder auch in vielen Synagogen abends nach dem Gottesdienst. Ein Festmahl – man tunkt Apfelstücke in Honig, wünscht sich dazu ein gutes und süßes Jahr. Man isst Granatapfel. Die Kerne des Granatapfel sollen an die 613 Gebote, die Mitzwot der Thora, erinnern. Jüdische Feste sind fast immer heiter und ein bisschen traurig – beides. Zehn Tage später – Jom Kippur – da wird es richtig ernst, da fastet man 25 Stunden, kein Essen, kein Trinken. Sex ist auch nicht an Jom Kippur. Und da muss ich sagen, 25 Stunden nichts trinken, das finde ich richtig hart, das finde ich schrecklich. Aber Rosch Haschana ist ein heiteres Fest.
    Florin: Gott hält über die Welt Gericht, haben Sie vorhin fast nebenbei gesagt. Das klingt ja auch sehr hart. Wie spürt man, dass Gott über die Welt Gericht hält?
    Beyrodt: Nach jüdischer Vorstellung ist es tatsächlich so, dass Gott da entscheidet, wer im kommenden Jahr leben wird und wer nicht. Es gibt diese Vorstellung, dass an Rosch Haschana das Urteil geschrieben wird und dass es an Jom Kippur besiegelt wird. Man stellt deshalb auch diese Sündenbekenntnisse an Rosch Haschana und stärker noch an Jom Kippur. Man will sich eben rein machen von den Sünden. Man entschuldigt sich vor den Festen bei seinen Mitmenschen, man will rein vor Gott treten. An Jom Kippur wünscht man sich: Gmar chatima tova! Das Hebräische ist sehr wichtig für uns. Übersetzt heißt das ungefähr: Guten Abschluss der Einschreibung. Weil da wirklich die Frist abläuft und das Urteil besiegelt wird. Man will eingeschrieben werden in das Buch des Lebens. Im Judentum gibt es diese Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tod schon auch. Alles, worum wir da bitten an Rosch Haschana und Jom Kippur, ist ein Jahr länger zu leben. Also Judentum ist schon eine Religion, die mehr dem Leben zugewandt ist als dem Tod und dem Weiterleben nach dem Tod.
    Florin: Und mit welchem Urteil rechnen Sie?
    Beyrodt: Also ich muss sagen, dass ich mir das so konkret nicht vorstellen kann. Aber ich finde es schon wichtig, sich moralisch gut zu verhalten und das als Zeit der Überprüfung zu betrachten. Dass jetzt so konkret an diesem Tag ein Urteil gefällt wird und dann wird es besiegelt, so konkret kann ich mir das selber nicht vorstellen.
    Florin: Aber Sie feiern selbst schon mit - mit all dem, was Sie vorhin aufgezählt haben, was dazu gehört?
    Beyrodt: Ich feiere schon mit. Ich gehe in die Synagoge, ich mache mit bei dem Essen, beim Trinken, beim Quatschen, beim Palavern und beim Nachdenken über das vergangene Jahr. Ja.
    Florin: Am 3. Oktober ist auch der Tag der Deutschen Einheit. Feiern Sie den auch?
    Beyrodt: Ich feiere den Tag der Deutschen Einheit in dem Sinne nicht, weil ich nicht genau weiß, wie man den feiert. Da fehlen irgendwie die Rituale. Aber ich finde, es ist ein Grund zur Freude, der Tag der Deutschen Einheit, aus verschiedenen Gründen. Einmal wegen der deutschen Einheit, Demokratie in ganz Deutschland. Dann gibt es noch einen sehr jüdischen Grund, sich über den Tag der Deutschen Einheit zu freuen: In dem Einigungsvertrag sind die Kontingentflüchtlinge aus der Ex-Sowjetunion aufgenommen worden. Das haben wir den DDR-Bürgerechtlern zu verdanken. Dadurch sind ganz viele Menschen aus Ländern der Ex-Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Und heute bilden diese Menschen ungefähr 80, 90 Prozent der Juden in Deutschland. Man kann also sagen, dass es überhaupt ein lebendiges jüdisches Leben in Deutschland gibt, haben wir dem Einigungsvertrag und der Geschichte nach der Wende zu verdanken und eben diesen Menschen, die aus der Ex-Sowjetunion gekommen sind. Insofern ein Grund zur Freude, ja.
    Florin: Nun bricht mit diesem Neujahrsfest das Jahr 5777 an. Warum?
    Beyrodt: Das Jahr 5777, das ist die Zählung seit Erschaffung der Welt. Vor so vielen Jahren ist die Welt erschaffen worden, die Welt hat Geburtstag nach dieser traditionellen jüdischen Vorstellung. Das geht also auf Rabbi Jossi im zweiten nachchristlichen Jahrhundert zurück, der hat das ausgerechnet, also hat diese Lebensalter, die in der Bibel geschildert werden, alle zusammen gerechnet. Da gibt es ja immer diese Geschichten "sowieso zeugte sowieso", hat die alle zusammengerechnet und das auf seine eigene Gegenwart übertragen und ist dann darauf gekommen, wann die Welt erschaffen sein muss. Wenn man das in unsere Zeitrechnung überträgt, ist die Welt am 7. Oktober 3761 vor Christus erschaffen worden, das war ein Montag. Es gibt im Judentum Menschen, die das so auch glauben. Wir haben jeden Quatsch im Judentum. Aber eigentlich – die meisten betrachten das eher metaphorisch inzwischen.
    Florin: Christen, die nur an Weihnachten in die Kirche gehen, die nennt man Weihnachtschristen. Gibt es auch Rosch-Haschana-Juden, die nur an diesem Festtag in die Synagoge gehen?
    Beyrodt: Also die gibt es. Man redet von den sogenannten Drei-Tages-Juden. Wobei man ein bisschen darüber streiten kann, was die drei Tage eigentlich sind. Auf jeden Fall Rosch Haschana und Jom Kippur, vielleicht an zwei Tagen an Rosch Haschana in die Synagoge. Natürlich an Jom Kippur ohne Fasten. Manche gehen auch Pessach, das ist ein Frühlingsfest, wo wir den Auszug aus Ägypten feiern. Wichtig finde ich dabei: Es ist überhaupt nichts Schlimmes dabei, ein Drei-Tages-Jude zu sein. Es ist eine völlig legitime Art, sein Judentum zu leben.
    Florin: Geht Ihnen der Satz "Ich bin Jude" leicht über die Lippen?
    Beyrodt: Ja – also mir fällt der überhaupt nicht schwer. Neulich stand in meiner elektronischen Steuerkarte "IS" und ich hab erst mal wie blöd überlegt, ich bin doch nicht "Islamischer Staat". Und dann fiel mir ein, natürlich "IS", das heißt "israelitisch". Und dann gibt es ja noch diese anderen Sachen, mosaisches Bekenntnis und so. Ich bin total froh, da keinen verbrämten Ausdruck zu gebrauchen, sondern "jüdisch" zu sagen oder "Ich bin Jude". Und ich ernte auch, wenn ich das sage, eigentlich viel Interesse, viele Fragen, manchmal auch so ein Erstauen - "Du bist der erste Jude, den ich treffe". Manchmal gibt es auch diese Situation, wo man in unpassenden Momenten nach Familiengeschichten mit Konzentrationslagern und so gefragt wird. Viele wollen mit einem über den Nahost-Konflikt reden. Da wird es dann sehr schnell, sehr emotional. Da hat man auch ein bisschen das Gefühl, für was verantwortlich gemacht zu werden, was man nicht ist. Aber insgesamt muss ich sagen, verglichen mit krampfigen Situationen, die ich manchmal in meiner Kindheit hatte, ist das alles viel, viel lockerer geworden.
    Florin: Ein gutes und ein süßes Jahr wünsche man sich an den Feiertagen, das haben Sie vorhin gesagt. Was ist süß, was ist bitter für Sie als Jude in Deutschland?
    Beyrodt: Ja – also bitter: Es ist ein schwieriges Klima in Europa. Es gibt in Deutschland inzwischen Demonstrationen, wo man sagen kann "Jude, Jude, feiges Schwein" und so weiter, oder "Kindermörder Israel". Der Antisemitismus ist schon offener. Natürlich muss man auch besorgt sein über Fremdenfeindlichkeit, über Islamfeindlichkeit. Pegida und AfD betonen immer wieder, dass es gegen den Islam geht, was ja schlimm genug ist, und nehmen Juden da ein bisschen aus. Aber das kann man sich eigentlich schwer vorstellen, dass das alles nicht gegen Juden geht. Ansonsten gibt es tatsächlich auch viel Süßes und Gutes in Deutschland. Es ist ein Land, was bunter wird. Es ist ein demokratisches Land. Man muss auch sagen, es ist im Vergleich zu Frankreich, es gibt hier nicht einen Massenexodus von Juden, die sagen, ich halte es hier nicht mehr aus, ich gehe nach Israel. Also ich lebe gerne als Jude in Deutschland.