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Jüdisches Pessach
"Wir feiern die Freiheit"

An diesem Montagabend beginnt das jüdische Pessach-Fest. Es nimmt Bezug auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten. "Wir erinnern an diesen Exodus, als ob man ihn selber erlebt hätte", sagte der Journalist Gerald Beyrodt im Deutschlandfunk. Heutige Fluchterfahrungen und die vor vielen tausend Jahren stünden ganz nah beieinander.

Gerald Beyrodt im Gespräch mit Christiane Florin | 10.04.2017
    Eine jüdische Gemeinde beim Essen der symbolischen Pessach-Speisen während des Sederabends, dem Abend vor dem Pessach-Fest
    Eine jüdische Gemeinde beim Essen der symbolischen Pessach-Speisen während des Sederabends, dem Abend vor dem Pessach-Fest (picture-alliance/ dpa / Robert Fishman)
    Christiane Florin: Das Pessach-Fest erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten, genauer gesagt an die Zeit unmittelbar davor. Gott kündigt eine Plage an, er will alle Erstgeborenen töten, ein beliebtes biblisches Motiv. Die Israeliten bleiben vor dieser Plage verschont, weil sie ihre Türen mit dem Blut eines jungen Schafes oder einer jungen Ziege bestrichen haben, die Ägypter bleiben nicht verschont. Eine blutrünstige Geschichte also. Was ist die eigentliche Geschichte?
    Gerald Beyroth: Das Blutrünstige, daran erinnern wir noch manchmal und wir trauern durchaus auch um die Ägypter am Seder-Abend, aber das steht für uns gar nicht so sehr im Vordergrund. Im Vordergrund steht tatsächlich: Es ist die zehnte Plage und es ist der Aufbruch in die Freiheit. Das ist eine Abfolge von Plagen, es geht harmlos los und das ist die absolute Steigerung mit der Tötung der Erstgeborenen. Dann sollen die Israeliten sich eben ungesäuerte Brote backen und abhauen – da gibt es eine spannende Verfolgungsjagd durchs Rote Meer – aber die zentrale Sache ist wirklich: Sie kommen aus dieser Sklaverei heraus in die Freiheit, die dann auch nicht so einfach ist, wie sich später zeigt, aber das ist eine andere Geschichte.
    Florin: Eine Freiheitserzählung also. Was bedeutet das heute?
    Beyroth: Das bedeutet heute wahnsinnig viel. Das ist das zentrale Motiv im Judentum, sozusagen Gabe der Thora: Exodus, in die Freiheit gehen, und viele Juden haben heutzutage eben auch Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, Migration. 80 Prozent der Juden in Deutschland oder ihre Eltern stammen nicht aus Deutschland, sondern aus Ländern der Ex-Sowjetunion. Über den Holocaust muss man nicht reden, auch eine Vertreibungserfahrungen. Ich kann hier sitzen, weil meine Mutter ein Flüchtling war, als Kind nach England gekommen ist – mit ihr werde ich übrigens zusammen Pessach feiern – aber klar, diese Freiheitserfahrung ist für uns zentral, sehr persönlich und man soll auch an Pessach immer wieder erinnern an diesen Exodus, als ob man ihn selber erlebt hätte. Insofern steht das dann wirklich ganz nah beeinander: Heutige Fluchterfahrungen und die vor vielen tausend Jahren.
    Florin: An die Freiheit wird erinnert mit einem streng genormten Ablauf des Festes. Können Sie kurz schildern, wie die Dramaturgie des Festes ist?
    Beyroth: Wir haben den Seder-Abend, der heißt in der Tat "Ordnungsabend" weil es ein Abend ist, der nach einer bestimmten Dramaturgie, einer Ordnung geht. Da wird also die Geschichte vom Auszug aus Ägypten nacherzählt, man liest gemeinsam die "Pessach Haggada", das ist die Erzählung vom Auszug aus Ägypten. Ich würde mich von der Ordnung jetzt nicht zu sehr abschrecken lassen, das ist eigentlich ein sehr heiterer Abend, wie man das gemeinsam liest und dass man auch mal was falsch macht. Und dann hat man Essen dabei, mit dem man an die Ereignisse, die da passiert sind, erinnert und jeder hat diese "Haggada", diese Erzählung, als Buch vor sich liegen. Wenn ich eine Empfehlung aussprechen darf: Wenn irgendjemand in eine jüdische Gemeinde oder in eine Familie eingeladen wird am Seder-Abend – ich würde unbedingt hingehen!
    Florin: Was gibt es zu essen und warum?
    Beyroth: Da muss man unterscheiden zwischen dem Liturgischen und dem Nicht-Liturgischen. Also zu Essen gibt es zum Beispiel Bitterkraut, um uns an die bittere Sklaverei zu erinnern oder Charosset, das ist dann so ein Lehm, also soll an den Lehm in Ägypten erinnern. Das ist häufig ein Apfel-Zimt-Gemisch, es erinnert eben daran dass wir, wie es heißt, als Sklaven die Pyramiden bauen mussten. Lauter solches Essen, was erinnert. Ansonsten ist an Pessach ganz wichtig, dass man nur ungesäuertes Brot ist – eben um an diese Geschichte der ungesäuerten Brote zu erinnern – also man muss auch die Wohnung vom gesäuerten Brot reinigen.
    Florin: Machen Sie das?
    Beyroth: Ich mache das nicht immer, ich zieh mich dieses Jahr aus der Affäre indem ich in Urlaub fahre und ich hab dann das Problem nicht. Ich mache das nicht immer, ich nehme es mir aber jedes Jahr vor. Was ich aber durchhalte ist: Ich esse in dieser Zeit wirklich keine Nudeln und kein Brot, sondern wirklich nur Matza oder Kartoffeln oder solche Dinge.
    Florin: Wir haben uns schon mehrfach in dieser Sendung über jüdische Feste unterhalten, über Yom Kippur, über Rosh Haschana. Wo steht Pessach in der Rangordnung der Feste?
    Beyroth: Also wenn man es jetzt erstmal volkstümlich nimmt, ist es das wichtigste Fest. So, wie für Christen Weihnachten wichtig ist, ist für Juden Pessach wichtig.
    Florin: Weil es ein Familienfest ist?
    Beyroth: Weil es ein Familienfest ist, weil es die zentrale Erfahrung ausdrückt, weil man sich sieht, weil man sich auch mal zerstreitet – deshalb ist es für Familien sehr zentral. Es ist kein hoher Feiertag, im Gegensatz zu jetzt Yom Kippur oder Rosh Haschana, es drückt aber eine zentrale jüdische Erfahrung aus und deshalb ist es doch ein sehr, sehr wichtiges Fest.
    Florin: Im Lukas-Evangelium sagt Jesus beim letzten Abendmahl: "Mit großer Sehnsucht habe ich danach verlangt, vor meinem Leiden dieses Pessach-Mahl mit euch zu essen." Welche Verbindung sehen Sie zwischen Pessach und dem christlichen Osterfest?
    Beyroth: Ja, das ist sehr interessant: Wenn man in romanische Sprachen geht, dann heißen die Feste da ja quasi "Pessach", also "pâques" im Französischen oder "pasqua" im Italienischen, also das erinnert alles noch an diesen "Pessach" Namen.
    Das Lukas-Evangelium ist für uns insofern interessant, als es auch ein bisschen eine Quelle ist, wie man damals Pessach gefeiert hat und Lukas nennt auch das Pessach-Fest, völlig korrekt, "Fest der ungesäuerten Brote", also so heißt es jüdisch-liturgisch. Und es ist für uns insofern eine Quelle, als wir das heute gar nicht mehr machen, Lamm schlachten oder sowas, aber das kommt da alles noch vor. Nur die ganze Seder-Liturgie kommt überhaupt nicht vor und der Auszug aus Ägypten kommt nicht vor, stattdessen eben die christliche Theologie mit dem Passionserlebnis. Jesu Leiden tritt quasi an die Stelle des Auszugs aus Ägypten.
    Florin: Ist nicht auch dieses Thema "Opfer" etwas Verbindendes?
    Beyroth: Das Thema "Opfer" ist total verbindend. Das war ja früher, am Anfang des Pessach-Festes doch sehr wichtig, in antiker Zeit das Schlachten der Lämmer, für Christen das Opfer Jesu. Man muss allerdings sagen, dass für Christen das Opfer Jesu, Jesus als Lamm Gottes und so weiter, dass das viel zentraler ist und viel mehr im Mittelpunkt der Religion als für Juden das Opfer. Wir haben also keine konkreten Opfer mehr seit 2000 Jahren, seit es den Tempel nicht mehr gibt, und die symbolischen Opfer in dieser zentralen Funktion eigentlich auch nicht.
    Florin: Sie sind noch nicht so alt, aber überblicken aber immerhin einige Jahrzehnte – wie hat sich das Fest verändert im Vergleich zum Pessach-Fest Ihrer Kindheit? Oder verändert sich da nichts? Ist man sehr traditionell, auch im liberalen Judentum?
    Beyroth: Was sich tatsächlich auch im liberalen Judentum verändert hat ist: Es kann das jüngste Kind sein, das am Anfang fragt, der Abend beginnt mit Fragen, eben zum Beispiel: 'Warum sitzen wir heute angelehnt?' – 'weil wir keine Sklaven sind, weil wir Herren sind.' Das kann heute auch ein Mädchen fragen. Ansonsten ist man beim Pessach-Fest, glaube ich, wirklich sehr traditionell. Das Lied "Was unterscheidet diese Nacht von allen andern?", das wird heute eher gesungen und wurde früher eher gefragt, aber das sind wirklich Details. Man ist da sehr traditionell, ja.
    Florin: Die Exodus-Erzählung erzählt von der Befreiung, aber auch von der Flucht, Sie haben es schon angesprochen. Ich weiß, dass zum jüdischen Gottesdienst nicht unbedingt eine Predigt gehört, aber wenn es eine Predigt gibt, spielt da der Bezug zur Gegenwart, zu den Menschen, die heute auf der Flucht sind, eine Rolle?
    Beyroth: Das ist sehr unterschiedlich. In den Gemeinden, in denen ich mich so bewege, gibt es Predigten. Es gibt auch viele Gemeinden, die diese Aktualitätsbezüge machen und da spielt das natürlich eine Rolle. Über die Worte hinaus – Juden quatschen ja im Allgemeinen viel – gibt’s auch Taten, also es gibt durchaus aus jüdischen Gemeinden heraus Initiativen, die Flüchtlingen helfen oder der Zentralrat setzt sich zusammen mit Muslimen in puncto Flüchtlingsarbeit. Da wir eine Religion sind, oder eine Gruppe sind, in der es viele Migranten gibt, liegt das natürlich nahe, dass man sich für das Thema interessiert, völlig klar.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.