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Jürg Altwegg: Geisterzug in den Tod. Ein unbekanntes Kapitel deutsch - französischer Geschichte 1944.

Nicht nur Deuschland tut sich schwer mit der Bewältigung seiner Vergangenheit, sondern z.B. auch unsere französischen Nachbarn. Vichy-Größen und Nazi-Kollaborateure machten dort nach dem Krieg entweder, wie René Bousquet, Karriere in der Wirtschaft, oder stiegen, wie Maurice Papon, in hohe politische Ämter auf. Oder aber sie fanden, wie Paul Touvier, jahrzehntelang Deckung in Frankreichs Kirchen und Klöstern.

Ursula Welter |
    Alle drei wurden erst im Greisenalter mit dem Vorwurf des "Verbrechens gegen die Menschlichkeit" konfrontiert. Und doch hat das öffentliche Interesse an diesen drei Gestalten in den neunziger Jahren dazu beigetragen, die "nationale Amnesie", wie der Historiker Henry Rousso das Phänomen genannt hat, teilweise zu heilen. Seither findet Vergangenheitsbewältigung in Frankreich nicht mehr nur im Kino statt, seither sind die komplexen und vielschichtigen Vorgänge der Jahre 40-44 zugänglicher, fassbarer, ihre politischen Folgen nachvollziehbarer geworden. Das breitere Interesse an den Ereignissen während der deutschen Besatzungszeit hat dem Fundament des Nachkriegs-Mythos Résistance Risse versetzt. Zugleich spült dieses erwachte Interesse Geschichten an die Oberfläche, die bis dato nicht recht interessieren wollten.

    Eine solche Geschichte hat der Schweizer Publizist und renommierte Frankreich-Kenner, Jürg Altwegg, aufgegriffen. Sein neuestes Buch heißt "Geisterzug in den Tod". Es trägt den Untertitel: "Ein unbekanntes Kapitel der deutsch-französischen Geschichte 1944". Eine Rezension von Ursula Welter:

    Unbekannt ist zwar nicht, dass Emigranten – auch deutsche - in Frankreich zwischen die Fronten gerieten. Dass sie interniert wurden von denen, von denen sie sich Schutz erhofft hatten, bewacht von Franzosen und in großer Zahl deportiert. Altweggs Buch weist insofern Parallelen mit Lion Feuchtwangers "Der Teufel in Frankreich” auf. Die Geschichte des Geisterzuges ist dennoch eine uns unbekannte Geschichte. Eine Geschichte, die Altwegg mit hoher Präzision und Detailtreue schildert , eine Geschichte, die alles in sich birgt: Die Greueltaten der Nazis, den Schrecken der deutschen Besatzung, die Vielschichtigkeit des französischen Widerstandes, die Rivalitäten innerhalb der Résistance, das kollektive Verdrängen nach 1944/45.

    "Um zwölf Uhr am 3. Juli des Jahres 1944 setzt sich der Geisterzug in Bewegung – in seinen Wagons siebenhundert Deportierte; dazu vierhundert Deutsche, die nach Hause wollen. Zwischen allen Fronten führt seine Odyssee durch das sich befreiende Frankreich. Es ist einer der letzten Deportationszüge und der langsamste von allen. Sein Ziel ist die Hölle, sein Weg wird zum Ziel. Zwei Monate dauert die schier endlose Irrfahrt des Geisterzuges von Toulouse nach Dachau und Ravensbrück. Einen ganzen Sommer lang. Es ist, verkünden die Meteorologen, der heißeste des Jahrhunderts."

    Seit der Landung der Alliierten sind die deutschen Besatzer auf dem Rückzug. Die SS-Angehörigen hinterlassen eine Blutspur: Figeac, Oradour sur Glâne, Tulle – drei Orte, fast eintausend Tote.

    In dieser Zeit wird der Geisterzug auf die Schienen gesetzt. Die Deportierten sind Geiseln, dienen den Deutschen als Schutzschild vor Angriffen der Résistance. Lange Zeit ist die staatliche französische Eisenbahn, die SNCF, williger Vollstrecker der Besatzer – das Waffenstillstandsabkommen von 1940 schreibt vor, dass sie ihr Material den Deutschen zur Verfügung zu stellen habe.

    Bis zur Befreiung Frankreichs 1944 werden 76tausend Juden deportiert, alle per Bahn. Für Deportationszüge stellt die SNCF Rechnungen aus – an die Juden selbst oder an den jeweiligen Präfekten: 1942 kostet ein Kilometer umgerechnet vier Pfennig, die Fahrkarte wird für die dritte Klasse berechnet, Gruppenreisen erhalten Sondertarife, Kinder bis vier Jahre fahren gratis. Andererseits werden 819 Arbeiter der französischen Staatsbahn hingerichtet, 1200 deportiert, weil sie Widerstand gegen die Besatzer geleistet haben.

    Auch das Thema Eisenbahn wird nach dem Krieg nur einseitig gewürdigt, der Mythos vom Widerstand einer ganzen Nation deckt die Schattenseite auch dieser Medaille zu. Die französische Bahn spielt in der Geschichte des Geisterzuges eine wichtige, nicht aber die wichtigste Rolle. Der Geisterzug, so erklärt der Autor, Jürg Altwegg, fällt in eine andere Kategorie der Erinnerung:

    "Ich glaube, die ganzen Anklagen gegen die SNCF müssen sich auf die eigentlichen Deportationszüge berufen. Der Geisterzug ist eine unglaublich schreckliche Geschichte, aber es ist nicht ein Zug, der unter das Kriterium der Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen würde – deshalb auch wurde er beim Prozess gegen Maurice Papon in Bordeaux nicht zur Sprache gebracht. Obwohl man wahrscheinlich vermuten muß, dass Maurice Papon bei der neuen Zusammenstellung nach den drei Wochen in der Synagoge eine entscheidende Rolle gespielt hat."

    Einer der Kernsätze des Buches lautet:

    "Das Grauen der Deportation beginnt im Zug.”

    Der Geisterzug startet am 3. Juli 1944 in Toulouse. Der Ort ist ein Schmelztiegel von Kommunisten, Kämpfern des spanischen Bürgerkriegs, heimatlosen Juden. Altwegg schildert die Irrfahrt des Zuges durch Frankreich: wie er gestoppt wird, umkehren muss; wie die Deutschen die Synagoge von Bordeaux als Konzentrationslager missbrauchen, die Deportierten dort drei Wochen lang einsperren, bis der Zug seine Fahrt wieder aufnehmen kann; wie der Geisterzug in die Schusslinien der Alliierten gerät; wie er schließlich doch die Grenzen zum deutschen Reich passiert und seine menschliche Fracht am 28. August 44 in Dachau abliefert.

    ”643 ‘Zugänge’ aus dem Geisterzug verzeichnet die Lagerbuchhaltung an diesem 28. August. Man teilt den Männern die Nummern 93897 bis 94376 zu. Sie müssen sich ausziehen. .Sie machen sich mit der Struktur des Lagers vertraut und entdecken nach einer zwei Monate dauernden Odyssee die Regelmäßigkeit einer eisernen Disziplin, die ihnen ein gewisses Gefühl von Sicherheit, ja eine neue Zuversicht vermittelt. Das Essen ist grauenhaft, aber es wird zu festen Zeiten pünktlich verabreicht.”

    So grauenvoll war die Fahrt im Zug, so menschenunwürdig der Transport, so viehisch die Erfahrung, dass mancher sogar im KZ meint, Hoffnung schöpfen zu können. Die Wenigsten überleben! Altwegg schildert diese Odyssee am Beispiel einiger Zuginsassen. Er hebt das Individuum aus der anonymen Gruppe heraus und vermag so, das Leiden im Geisterzug greifbar zu machen. Sein Bericht fußt nicht zuletzt auf Gesprächen mit Überlebenden:

    "Wenn ich z.B. zwei Personen nehmen kann: Die Brüder Raymond und Claude Levy. Die waren jung, die waren Schüler, die hatten noch kein Abitur gemacht, die Eltern wurden deportiert, sie gingen in den Widerstand in Toulouse. Sie wurden verhaftet, weil ihre Organisation infiltriert worden war, man hat sie auch gar nicht gewarnt, man hätte sie warnen können, und sie wurden ins Gefängnis gesteckt. So absurd das klingt, aber der Geisterzug hat sie vor dem Erschießen damals gerettet.

    Sie waren sieben Wochen in diesem Zug, sie konnten kurz vor der Grenze zu Deutschland fliehen und als sie zurückkamen mussten sie feststellen, dass andere schon ihre Taten, die sie im Widerstand vollbracht hatten, für sich in Anspruch genommen hatten. Sie mussten schweigen , auch im Namen der Partei. Raymond und Claude Levy haben nach dem Krieg zum Beispiel eine Sammlung von Texten von Widerstandskämpfern, die erschossen wurden, herausgegeben. Nur auf Befehl von Aragon durften diese Texte nur erscheinen, indem man die Namen dieser Juden in französische Namen abänderte. Und die Widerstandskämpfer von damals haben dieses Schweigen auch völlig verinnerlicht dann. Also für diese Leute war es ganz schwierig zu ihrem eigenen Thema zu kommen und in dem Moment, als ich sie getroffen habe, haben sie ganz offen und frei darüber gesprochen."


    Den Anstoß für das Buch verdankt der Autor dem deutschen Historiker Michael Wolfssohn. Dieser gab dem Schweizer eine Materialsammlung zu lesen, die im südfranzösischen Sorgues zusammengestellt wurde. Einem Ort, durch den die Deutschen die Deportierten in jenem Sommer 1944 zu Fuß getrieben hatten, weil der Zug aufgehalten und an anderer Stelle ein neuer bereit gestellt worden war. Zwei Einwohner des Ortes, junge Männer damals, beobachten den gespenstischen Aufzug der Deportierten, die ausgehungert, kraftlos vorangetrieben und sogar gezwungen werden , die Beute der Besatzer, Kisten guten Weines, zu schleppen. Diese Zeitzeugen machen sich mehr als 45 Jahre später daran, Material über den Geisterzug zu sammeln und errichten den Opfern des Martyriums ein Denkmal. Dennoch dauert es zehn weitere Jahre, bis die Geschichte in ihrem ganzen Ausmaß geschrieben wird:

    ”Was mich sehr erstaunt ist effektiv die Tatsache, dass man es seit zehn Jahren wissen könnte, dass das Thema auf der Straße liegt, dass es aber niemand aufgehoben hat, um es zu schreiben."

    Bis jetzt. Jürg Altwegg hat das Thema aufgegriffen und – nach seinem brillanten Buch "Die Republik des Geistes" – einmal mehr einen sachkundigen Einblick in die komplexen und komplizierten Zustände der Jahre1940-44 gewährt. Vor allem für an Frankreich und an den deutsch-französischen Beziehungen Interessierte ist dieses Buch ein Gewinn!

    Ursula Welter über Jürg Altwegg: Geisterzug in den Tod. Ein unbekanntes Kapitel deutsch-französischer Geschichte 1944. Rowohl Verlag Reinbek, 200 Seiten zum Preis von 42 DM.