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Jürgen Kluge: Schluss mit der Bildungsmisere. Ein Sanierungskonzept

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nannte ihn einen "Provokateur auf die sanfte Tour": Jürgen Kluge, Jahrgang 1953, Chef von McKinsey Deutschland. Ein Unternehmensberater als Lehrer der Nation.

Jaqueline Boysen |
    Kluge ist überzeugt davon, dass sich Deutschland im internationalen Wettbewerb nur behaupten kann, wenn das Bildungssystem schleunigst reformiert wird. Sein Sanierungskonzept hat er in dem Buch "Schluss mit der Bildungsmisere" vorgelegt. Jacqueline Boysen hat es gelesen:

    Wenn es nach dem Autor gegangen wäre, trüge der Band den Abzählreim vom Schulhof im Titel. Denn nach Ansicht von Jürgen Kluge, Chef von McKinsey Deutschland, beschreibt das "raus bist du!" ein Grundübel im deutschen Bildungssystem. Die Chancengleichheit ist – entgegen aller Slogans, die seit den 70ern durch die Republik wabern – so gar nicht gesichert. PISA und alle übrigen Studien über Wissen und Vermögen beim Nachwuchs führen uns vor Augen: "Bildung für alle!" ist ein Euphemismus. Zwar wollten wir Gleichheit, doch wir haben die soziale Segregation gefestigt: In Deutschland wird der Bildungsstand wie ein materielles Gut vererbt, im Wesentlichen entscheidet die Herkunft über die schulische Laufbahn.

    Die soziale Unausgewogenheit spielt in der Analyse des desolat daniederliegenden deutschen Bildungswesens, die Jürgen Kluge im Campus Verlag veröffentlicht hat, eine zentrale Rolle. Ineffizienz lähme den miserablen, weil allzu bequem eingerichteten Apparat, so die weitere Ausgangsthese des – übrigens kinderlosen – Unternehmensberaters, der eilig eingeläutete Reformversuche als läppisch abqualifiziert: Vier Milliarden Euro – damit mag die Bundesbildungsministerin publikumswirksam ein paar Ganztagsschulen unterstützen, der Misere aber werde sie so nicht Herr:

    Definitiv liegt es nicht am Geld. Wir haben sehr viel schlechtere PISA-Ergebnisse als Länder, die viel weniger oder gleichviel pro Kopf ausgeben. Es liegt an der Verwendung des Geldes. Die Unterrichtsskripte sind veraltet, die Freiheitsräume für Schulen und Rektoren zu beschnitten, die können sich gar nicht als Schulunternehmer fühlen. Wir leisten uns Qualitätsstandards, die sind zu niedrig und zu inhomogen.

    Kluge entsetzt sich: In der Autoindustrie gelten strengere Qualitätsmaßstäbe als in den Bildungseinrichtungen, in einem Land mit Kontrollen und Gütesiegeln für nichtige Produkte und Handelswaren aller Art – hier ist ausgerechnet das Bildungswesen verkommen und zurückgeblieben?! Der Eros des Lernens ist verschwunden, das Mittelmaß für alle gut genug, Freude an guten Noten wird als krankhafter Ehrgeiz stigmatisiert, Unterrichtsmethoden sind veraltet und Lehrer nur im Idealfall motiviert, denn schließlich wird ihre Arbeit von der Gesellschaft weder gewürdigt, noch unterstützt – all dies ist Kluge sichtlich zuwider:

    Wenn wir um Bildung gestritten haben, dann immer an den falschen Fronten: um die Gesamtschule, um die Zweckfreiheit von Bildung, um den Kanon. Wenn wir um eine Verbesserung unserer Bildungseinrichtungen kämpften, haben wir uns viel zu ausschließlich auf die Forderung nach mehr Geld kapriziert, statt ein anderes Kapital, nämlich unsere Phantasie, aufzustocken

    Jürgen Kluge folgt in seinem Band einem zwar diffusen, aber doch an Humboldtschen Idealen orientierten Bildungsbegriff, mischt ihn mit volks- und betriebswirtschaftlichen Kategorien wie Effizienz oder Rentabilität und erinnert nicht zuletzt an die Verantwortung derer, die im Erziehungs- und Schulwesen arbeiten: Sind sie in der Lage, Schüler in die Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts einzuführen? Kluge zweifelt daran und beklagt gravierende Mängel: die gemischtkulturelle Wirklichkeit im Einwanderungsland Deutschland überfordere die Schulen, Ausländerkinder oder Kinder aus Gegenden mit vielen Fremden bleiben ewig benachteiligt – und das wird vom Gros der Bürger als gegeben hingenommen.

    In unserer Bildungsdiskussion gilt multikulturelle Vielfalt als Minuspunkt. Lehrer, Eltern und Schüler empfinden sie als Belastung, mit der auch noch das schlechte Abschneiden bei PISA erklärt wird. Die vielen Ausländerkinder sollen es plötzlich gewesen sein. Die Schweiz beherbergt einen prozentual höheren Anteil davon und schneidet im Bildungsvergleich trotzdem besser ab als wir. Vielleicht ist es gerade der Reichtum an Unterschieden, der die Selbsterneuerungskräfte einer Gesellschaft freizusetzen vermag? Es stimmt, die Pädagogik an den Universitäten bereitet Lehrer viel zu wenig auf die Multikulti-Szene im Klassenzimmer vor. Aber die Unfähigkeit, mit Menschen aus verschiedenen kulturellen Welten angemessen umzugehen, ist nicht nur in den Schulen zu finden. In ihr drückt sich ein Mangel an Zivilität aus.

    Erfreulicherweise erliegt der Autor nicht der Versuchung, nur innerschulische Sündenböcke auszumachen. Er bleibt in seiner Analyse auch nicht beim schlichten Ruf nach Eliteförderung stecken, wie er auf konservativer Seite immer wieder ertönt. Nein, Kluge biedert sich auch nicht den Anhängern des dreigliedrigen Schulsystems an: zu früh und zu endgültig würden die Kinder in Deutschland nach ihren vermeintlichen Begabungen auseinander sortiert. Der Unternehmensberater plädiert für den Ausgleich zwischen "unten" und "oben":

    Natürlich startet man, wenn man von McKinsey kommt, mit der Eliteförderung, weil das die Schlepper der Gesellschaft sind, die die Wertschöpfung eigentlich erbringen... Das stimmt auch. Wir müssen aber auch mehr für das untere Ende tun, sonst haben wir irgendwann Bildungsheloten, in der Wissensgesellschaft, die wir brauchen mit hohen Produktivitätssteigerungen, die wir auch brauchen, die wir durchschleppen, die bleiben als Bodensatz zurück. Das ist jetzt im Schulalltag so. Die Entweder-oder-Diskussion ist eine Diskussion, die uns keinen Millimeter weitergebracht hat.

    Wahrlich ist Jürgen Kluge nicht der erste, der Reformen für das verstaubte deutsche Schulsystem fordert, der sich für eine intensive vorschulische Betreuung stark macht, für Erfolgskontrollen im Unterricht oder für regelmäßige Lehrerfortbildungen plädiert. Aber der Initiator einer McKinsey-Bildungskampagne ist in der komfortablen Lage, seine Überlegungen zu humanistischen Idealen frei von parteipolitischen Erwägungen anstellen zu können.

    Dem Consulting ist stets eine Brutalität eigen, man kann auch sagen: Souveränität. Und das macht den Wert dieses Bands aus. Wohl ist der Autor als überzeugter Marktwirtschaftler von Abscheu gegen aufgeblasene staatliche Apparate getrieben und hantiert schon mal mit billigen Schlagworten wie "Bildung statt Bürokratie!". Aber das tut seinem Konzept keinen Abbruch. Denn der Unternehmensberater nähert sich dem Sanierungsfall mit einem Plan im Hinterkopf und erlaubt sich, radikale Lösungen zu skizzieren: die Krise muss doch in eine Erfolgsgeschichte umzulenken sein?! Kluge liefert eine Kosten-Nutzen-Rechnung, zum Beispiel für Investitionen in die lange Zeit verpönte frühkindliche Bildung.

    Wir fordern da 400 Millionen für early excellence center für die sozialen Brennpunkte. Es sind ja nur ganz kleine Bereiche der Gesellschaft, wenn man das hochrechnet, wo man da investieren muss. Das geht nach britischem Vorbild. Und uns hat sehr gefallen, dass diese Kinder aus den Brennpunkten, wenn sie dann gefördert werden, im Mittel auf ein sehr viel höheres Niveau kommen, als Kinder aus der normalen Umgebung, das hat mir sehr gut gefallen, deswegen sollte man da dringend etwas tun, wir können es uns nicht leisten, ein einziges Talent zu verschwenden.

    Die Krux an Kluges wohlkalkulierten Phantasien? Sein Sanierungskonzept restrukturiert kein Unternehmen, sondern einen Sektor im beratungsresistenten öffentlichen Raum: Schulverwaltungen verschlanken sich nicht selbst.

    Utopisch bleiben Kluges Vorstellungen nicht zuletzt deshalb, weil Bildungspolitiker der sozialen Verpflichtung der staatlichen Schule nicht gewahr sind, sondern oft macht- und ideologieorientiert handeln und die eigenen Vorteile verteidigen. Kaum ein Hauptschüler in unserem Land, der sich in den Partei- oder Staatsapparat verirrt. Entscheidungsträger haben zumeist eine von der Allgemeinheit finanzierte Hochschulbildung genossen, und die soll ihren Kinder selbstredend auch vergönnt sein. Reformen des verkorksten Schulwesens in Deutschland aber – also die gerechte Verteilung von Bildung – bedrohen eben dieses Bildungsprivileg.