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Jürgen Martschukat: Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika.

Die Todesstrafe - das ist eines der wohl brisantesten Themen der amerikanischen Gesellschaft. Schließlich sind die USA die einzige westliche Demokratie, die bis heute in 38 ihrer 50 Bundesstaaten an der Todesstrafe festhält. Über ihre Geschichte in Nordamerika hat der Hamburger Historiker Jürgen Martschukat jetzt ein kenntnisreiches Buch vorgelegt, das sehr gut auch in die aktuelle Diskussion passt. Denn Ende Juni erst hat der Oberste Gerichtshof der USA die Regeln für die Verhängung der Todesstrafe verschärft: Sie darf nicht von Richtern, sondern nur von einer Jury ausgesprochen werden. Das bedeutet, dass über 100 Todesurteile in fünf Bundesstaaten neu verhandelt werden muss. Betroffen sind jene Staaten, in denen allein der Richter das Strafmaß festlegt und die Geschworenen lediglich über die Schuldfrage entscheiden.

Stefan Schieren | 08.07.2002
    Als sich nach dem verheerenden Anschlag auf das Bundesgebäude in Oklahoma City 1994 herausstellte, dass nicht arabische Terroristen die Tat verübt hatten, sondern mit Timothy McVeigh ein sogenannter WASP, ein White Anglo Saxon Protestant, zudem ein hochdekorierter Irak-Veteran, war die amerikanischen Nation in ihrem Selbstverständnis erschüttert. Und die Verwirrung setzte sich fort, als McVeigh seinen Anwälten untersagte, die Vollstreckung der gegen ihn verhängten Todesstrafe durch einzulegende Rechtsmittel zu verzögern. Für ihn sei die Todesstrafe ein Ausweg und nicht eine ultimative Strafe, eine Erlösung und keine Sühne. Amerika, für das die Todesstrafe wie selbstverständlich als die härteste aller Strafen für schwerste Verbrechen galt, war irritiert. War die Rache an McVeigh unter diesen Umständen nicht gescheitert?

    Diese Momente der Reflexion über die Todesstrafe gab es in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika zwar immer wieder, spielten aber eine nachrangige Rolle. Der Grund:

    Die Todesstrafe spielt bis "zur Gegenwart eine bedeutende Rolle im politischen und kulturellen Leben der USA und ist ein prägendes Element einer 'weißen' US-amerikanischen Identität".

    Dies jedenfalls ist die Kernthese, die Jürgen Martschukat seinem gerafften Buch über "Die Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika" zu Grunde legt. Belege dafür sucht und findet er in den 400 Jahren Geschichte dieses Raums, also seit die Pilgrim Fathers in Pennsylvania gelandet sind.

    Der Hinweis auf die strenggläubigen Religionsflüchtlinge aus England weist auf ein Schlüsselmotiv der Todesstrafe bis zum Zeitalter der Aufklärung hin. Die harten Bedingungen in einer fremden und lebensfeindlichen Umwelt verwiesen die Siedler auf die existenziellen Fragen des Daseins. Straftaten galten daher als Verstoß gegen Gottes Gebot und Ordnung und wurden mit äußerster Härte geahndet, um Gottes Gunst nicht zu verlieren. Martschukat schreibt dazu:

    Die gesetzlich verordnete Tötung eines Menschen war die rituelle Antwort auf das Übel der Welt.

    Schon in dieser Zeit begann sich ein Muster abzuzeichnen, das die Situation bis heute kennzeichnet. Von der Hinrichtung betroffen waren in erster Linie Außenseiter, Arme, und Schwarze.

    Im Zuge der Aufklärung und des Unabhängigkeitskriegs setzte erstmals eine Diskussion über die Todesstrafe ein. Die englische Kolonialmacht bediente sich ihrer im Unabhängigkeitskrieg derart exzessiv, dass es den Unabhängigkeitskämpfern als Gebot der Vernunft und Moral erschien, einen Gegenentwurf zu präsentieren. Die Strafordnung sollte fortan zur Tugendhaftigkeit erziehen, nicht der Rache dienen. Dieser Anspruch lässt sich im Strafgesetzbuch Virginias von 1796 trefflich erkennen:

    Es dokumentiert "ein verändertes Selbstverständnis in weiten Teilen der jungen Republik, wo weniger ein unterworfenes und gottgefälliges, sondern vielmehr ein tugendhaftes Dasein das hehre Lebensziel eines veränderten Menschentyps sein sollte."

    In diesem aufgeklärten Klima entstanden maßgebliche Schriften gegen die Todesstrafe. Argumente wurden entwickelt, die die Gegner der Todesstrafe bis heute ins Feld führen: 1. Die Todesstrafe schreckt nicht ab. Im Gegenteil ist die Kriminalitätsrate in Ländern mit Todesstrafe häufig höher als in Ländern ohne. 2. Solange die Möglichkeit besteht, dass ein Unschuldiger hingerichtet wird, darf die Todesstrafe nicht vollstreckt werden. Zu groß wäre die Schuld, die Staat und Gesellschaft auf sich lüden. 3. Die Todesstrafe gewöhnt die Gesellschaft an die Gewalt und führt zu deren Verrohung.

    So gewichtig diese Argumente auch sein mochten, so wenig durchsetzungsfähig erwiesen sie sich bis zum heutigen Tag in der Debatte über die Todesstrafe. Diese kreiste vielmehr um die Frage, ob die Öffentlichkeit nicht von Hinrichtungen ausgeschlossen werden sollte, und darum, ob die Exekutionsmethoden gegen den 14. Verfassungszusatz verstießen, der "grausame und ungewöhnliche Strafen" untersagte.

    Was die Verbannung der Hinrichtung hinter die Gefängnismauern betrifft, veranlassten nicht humanitäre oder gar moralische Erwägungen die Verantwortlichen zu diesem Schritt, sondern ganz pragmatische Überlegungen, denn öffentliche Hinrichtungen hatten sich wiederholt als Ausgangspunkt von Ausschreitungen erwiesen.

    Die offenkundige Bestialität der Exekution am Galgen geriet Ende des 19. Jahrhundert "mit dem Selbstempfinden als zivilisierte Gesellschaft" in Konflikt. Die Todesstrafe sollte auf vermeintlich humane Weise vollstreckt werden. Bei der Realisierung dieser Idee versprach die Elektrizität einen "sicheren, sanften und schmerzlosen Tod".

    Einige Staaten verzichteten allerdings auf den elektrischen Stuhl. Sie wollten eine andere technisierte Form der Hinrichtung einführen, um dem scheinheiligen Verlangen nach Humanisierung der Hinrichtungen zu entsprechen. So kam zwischen 1930 und 1960 die Gaskammer zum Einsatz. Zum Tode Verurteilte wurden mit Zyklon B getötet.

    Alle Bemühungen, die Todesstrafe aus der Öffentlichkeit zu verbannen und ihr die Grausamkeit zu nehmen, konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass der Vollzug der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten nur einen erschreckenden Befund zuließ, der Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Strafjustizsystems rechtfertigte: 1. Trotz der Versuche, eine "humane" Hinrichtungsmethode anzuwenden, waren die gängigen Methoden Galgen, Elektrischer Stuhl und Gaskammer alle gleichermaßen "grausam und ungewöhnlich". 2. Die Todesstrafe traf in stark überproportionaler Weise Farbige und soziale Außenseiter. 3. Sie wurde willkürlich verhängt, da am Ende eines Mordprozesses Strafen der verschiedensten Art möglich waren. 4. Die Jurys waren selbst in den Staaten mit überwiegend schwarzer Bevölkerung ausschließlich durch weiße Bürger besetzt. 5. Bei der Auswahl der Juroren wurden diejenigen ausgeschlossen, die nicht bedingungslos bereit waren zur Verhängung der Todesstrafe.

    Diese Fülle, Schwere und Offensichtlichkeit der Mängel führte dazu, dass es der seit Mitte der fünfziger Jahre wachsenden Bürgerrechtsbewegung in den USA gelang, eine Kampagne gegen die Todesstrafe auf die Beine zu stellen. Sie führte zwischen 1967 und 76 zur vorübergehenden Aussetzung der Hinrichtungen.

    In diesen Jahren befasste sich das Oberste Gericht mit der Todesstrafe. Abermals ging es aber nicht darum, ob die Todesstrafe als solche einen Verfassungsverstoß darstellte. Wohl aber wurden die Verfahren und die Hinrichtungsmethoden überprüft. Das Gericht formulierte 1972 derart weitreichende formale Ansprüche an einen Mordprozess, dass der vorsitzende Richter Burger die Vermutung äußerte, Hinrichtungen würden zukünftig nicht mehr stattfinden. Ein schwerer Irrtum.

    Das durch die Krisen der siebziger Jahre auf das Höchste verunsicherte amerikanische Volk sehnte sich nach einem Instrument zurück, das für den Ausschluss von Minderheiten und Randgruppen vermeintlich gute Dienste geleistet hatte und für die weiße Mehrheit identitätsbildend war. Im Jahr 1979 war die Rückkehr zur "Normalität" wieder vollzogen. Der Oberste Gerichtshof hatte seine vorhergehende Haltung relativiert.

    Das Strafrecht konnte wieder ein Vergeltungsinstrument sein. Seine mit unnachsichtiger Härte geübte Durchsetzung ließ die "Death Row" immer länger werden und die Hinrichtungszahl stetig steigen, bis sie im Jahr 1999 mit 98 Menschen, die auf staatlichen Befehl getötet wurden, einen Höhepunkt erreichte.

    Diese Entwicklung verdient Beachtung, weil sich an den Missständen im Strafsystem der USA bis heute nichts Wesentliches geändert hat: Wer arm ist und farbig, der geht ein vielfach höheres Risiko ein, zum Tode verurteilt zu werden, als ein Weißer oder ein wohlhabender Bürger.

    Angesichts einer Zustimmung zur Todesstrafe von 80 Prozent ist zu vermuten, dass sich Grundlegendes nicht wandeln wird. Zu eng ist die Todesstrafe mit dem kulturellen und politischen Leben in den USA verknüpft, gehört auf schauerliche Weise zum Alltag.

    Es ist das Verdienst Jürgen Martschukats, uns dies auf sachliche und historisch fundierte Weise ins Gedächtnis zu rufen. Das gelingt ihm um so überzeugender, als er die langatmige Darlegung statistischen Materials oder die Schilderung verfassungsjuristischer und strafprozessualer Details vermeidet und sich auf gekonnte Weise auf das in einer Überblicksdarstellung Notwendige beschränkt.

    Auf dem dadurch gewonnenen Raum zeichnet er ein facettereiches Bild der Todesstrafe als integralen Bestandteil nicht allein des amerikanischen Rechtssystems, sondern der amerikanischen Kultur, Lebensart und Identität.

    Ein Buch, das sachkundig und konzentriert die Todesstrafe in der Geschichte Nordamerikas darstellt und starke Zweifel hinterlässt, ob die Vereinigten Staaten von Amerika vorbehaltlos als ein zivilisiertes Land mit rechtsstaatlicher Demokratie bezeichnet werden können.

    Jürgen Martschukat: Die Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika. Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart. C. H. Beck-Verlag München. 216 Seiten. 12 Euro 90.